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010 Was ist ein musikalisches Motiv?

Juni 2000

Hören wir eine Jazznummer und einen Sinfoniesatz Beethovens, ein Volkslied und eine Fuge Bachs, die aktuelle Siegesnummer des Song-Contest und eine Händel-Arie, ein Stück Technomusik und ein Musikstück Anton von Weberns, und schließlich noch – nicht nur Radio und CD-Zugriff machen es jederzeit möglich – die neueste Glanznummer des Volksmusik-Grandprix und eine experimentelle Klangimplosion Scelsis, dann können wir unser Erstaunen und unser Erschrecken über die Verschiedenartigkeit der gehörten Musiken ohne Mühe in eine kühle intellektuelle Freude verwandeln.

Denn wissenschaftlich gebildet, wie wir nun einmal sind, wissen wir natürlich, daß sich jede Musik, sie mag erklingen wie von einem anderen Stern oder von den Müllhalden unserer Kultur gesandt, letztlich doch nur aus Motiven zusammensetzt, aus jenen sogenannten musikalischen Motiven, die man so nennt, weil man sie so zu nennen pflegt. Offenbar ein bekannter Name für ein unbekanntes atomares Wesen, das über die urschöpferische und allmächtige Kraft zu verfügen scheint, geradezu verschiedene Universen von Musik in unsere kümmerliche Welt des Leidens und der Vergänglichkeit zu senden.

Demnach wäre nicht nur intellektuelle, sondern auch sinnlich erlebbare Freude an allen Orten der Musik gleichermaßen angesagt, eine gleichwertige und gleichrühmliche Freude an den verschiedensten Arten der Musik, deren unerschöpflichen Reichtum freigesetzt zu haben, das 20. Jahrhundert verdächtigerweise nicht müde wurde, sich als Verdienst anzupreisen.

Ein Verdienst freilich, das uns in einem Babylon von Musiken ratlos zurückgelassen hat, nachdem die Väter der Gründerzeit der Moderne aus dem Diesseits verzogen und die Apostel der „Zweiten“ bis n-ten Moderne und auch der Unterhaltungsmoderne als nur mehr stammelnde Propheten einer großen Zukunft neuer Musiken ins Abseits des ewigen Musik-Spieles gelaufen sind. – Bemerken wir heute, daß uns nach dem Hören von Bergs Wozzeck keines seiner Motive und Themen plastisch im Heimregal dessen verbleibt, was man einst Melodiegedächtnis nannte, so beruhigen wir unser spontanes Unwissen über die Gründe darüber mit dem begrifflosen Hinweis, auch nach dem Hören eines nicht kurzen Händel-Oratoriums fielen unsere Gedächtnisresultate nicht weniger diffus aus. Sind also die Themen und Gebilde Händels und Bergs von desselben Motiv-Atoms Gnaden an uns ausgestrahlt worden?

Sollte es aber der Sinn der Sinneinheit ‚musikalisches Motiv’ sein, unser musikalisches Erleben und Gedächtnis durch jede gehörte Musik jeweils unmittelbar und unvergeßlich zu tätowieren, so fiele uns der Sinn der allgegenwärtigen Hits und Ohrwürmer der Unterhaltungsmusik mit dem Sinn von beispielsweise Mozarts Motiven und Themen ununterscheidbar zusammen. Als wäre Mozart bereits der Walt Disney von Dreiklang, Diatonik, Dur-Moll-Tonalität und auch einigen chromatischen Zeichenfilmtricks gewesen, und als erlebten seine Motiv- und Themenhelden bereits musikalische Schicksale, die nur der Psyche eines Donald Duck zur Ehre gereichen.

Da nach der zeitlichen Abreise der Gründerväter der musikalischen Moderne und Unterhaltungsmoderne unsere Frage nach dem Sinn des Sinnes von Motiv als gründender musikalischer Sinneinheit weder von den formalen noch von den historischen Wissenschaften der Musik verbindlich und orientierend beantwortet wird, befindet sich unser musikalisches Babylon in einem Zustand permanenten inneren Sinnalarms am Rande des Abgrundes Unsinn, ohne daß irgendjemand die Grenze dieses Rubikon mit seinem unbekannten Namen anrufen dürfte und könnte.

Die systematische Wissenschaft der Musik wirft uns jenen Knochen einer formalen Definition vor die Füße, die das musikalische Motiv als kleinste Sinneinheit jeder und aller Musik ausweisen soll. Konsequenterweise verwirklicht sich somit das musikalische Motiv in jedem nur möglichen Klangmaterial und zu jeden nur denkbaren und machbaren Formzielen. Was die musikalische Phantasie motivieren wird zu machen, das wird sie daher auch zu musikalischen Motiven machen. Was nicht sollte ihr Motiv werden können und dürfen? Je länger und intensiver wir an diesem Knochen einer formalen Definition schnuppern und nagen, umso zweifelsfreier entpuppt er sich daher als Gummiknochen. Er entstammt jenem Gummiwesen von Musik, zu dem Realität und Begriff eines entgrenzten Wesens von Musik unter den babylonischen Bedingungen der Moderne mutieren mußte.

Die Botschaft vom total machbaren Sinn der Sinneinheit Musik lassen wir uns daher heute nicht zweimal sagen, und wenn es nicht schon geschehen ist, dann wird es vielleicht schon bald geschehen sein, aufgeführt und eingespielt: ein Rondo oder Nicht-Rondo in Gestalt einer variantenreichen Sequenz von Furzen. Und diesem Kunstevent eines unsinnigen Sinnes und sinnigen Unsinns könnte und dürfte niemand auf den Pelz tabuisierter Kunstfreiheit rücken, denn auf den Bühnen ihrer Szenen ist uns die freie Phantasie der Künste ein demokratisches Heiligtum. Ist aber die Antwort der systematischen Wissenschaft nach dem Sinn von musikalischem Motiv nur eine verkappt historistische Antwort – weil musikalischer Sinn nur sei, was in der Geschichte der Musik als musikalischer Sinn von Menschen ausgegeben werde -, so wird auch unsere Anfrage an die historischen Wissenschaften der Musik bescheidlos verbleiben müssen. In der Tat schläft auch das Haupt der Musikhistorie den Schlaf der nichtdenkenden Wissenschaft, denn ihre Auskunft, daß sich die Verschiedenheit musikalischen Sinnes in Geschichte und Musikgeschichte verschiedenen Anlässen von Zeit, Ort, Personal, Sozialität und Naturbeherrschung verdanke, zählt nur zu den Bedingungen, nicht zu den hell machenden unbedingten Gründen der varietas varietatum im erreichten Babylon von heute. Der Sinn des Historikers versteht nicht den Sinn unserer Frage, und um die historistische Weisheit infantil zu löffeln, bedarf es nicht einmal eines Löffels. Der Zugang zum Gral der labyrinthischen Geheimnisse im Reich der Musik muß anderswo zu suchen sein.

Und die ideologische Auskunft der Gründerväter der musikalischen Moderne, das musikalische Motiv sei eine sich selbst tragende Sinneinheit im jeweils geschichtlich erreichten Stand von Musik und Musikmaterial, weil die freie Bearbeitung und Bemachung des fortgeschrittensten Materials musikalischen Sinn als frisch authentischen Sinn ohnehin garantiere, ist nur ein umgekehrter, ein utopisch auf den Kopf gestellter Historismus, der nur solange in den Gemütern von Komponisten und Philosophen strahlen konnte, als der Stern des Marxismus-Leninismus noch leuchtete.

Solange Adorno als Propagandist der Schönberg-Schule dachte und schrieb, kam er daher auf die skurrile Idee, in den Werken der Schule sei der tiefste und rationalste Sinn großer Musik erfüllt, weil nun endlich alles Material der Musik unmittelbar Motiv und Thema geworden sei. Da sich der Komponist im Gelände tonal entgrenzter motivisch-thematischer Arbeit und sogenannter entwickelnder Variation nicht mehr mit den dümmlichen Grenzen der Tonalität und ihrer rituellen Pseudonatur herumschlagen müsse – wie noch der arme Beethoven – sei nun der Reichtum einer endlich vollkommen melodischen und vollkommen verständlichen, einer vollkommen durchkomponierten und vollkommen durchempfundenen Musik triumphale Wirklichkeit geworden. Wie sehr diese Vollkommenheitswünsche nochmals und zu spät das die abendländische Geschichte der Musik antreibende Ideal einer zu findenden wahren Natur der Musik beschworen und dadurch überdrehten, bezeugen die Selbstverständnisse und Selbstbekenntnisse der Komponisten: Webern huldigte dem unerschütterlichen Glauben, sein Briefträger werde ihm schon demnächst seine Stummelmelodien entgegenpfeifen, und selbst Hitler sei noch der Sieg des deutschen Geistes auch in der Entdeckung der Zwölftontechnik zu erschließen; und Schönberg war sich zuweilen ganz sicher, durch das, was er nicht für zwangvolle Findung, sondern für die universale Entdeckung einer neuen musikalischen Syntax hielt, der deutschen Musik die Vorherrschaft für die nächsten hundert Jahre gesichert zu haben oder doch wenigstens als Tschaikowsky der Zukunft erkannt zu werden.

Um den „vollkommen“ verwirrten Knoten, der sich heute um den Begriff des musikalischen Motivs als kleinster Sinneinheit der Musik geschlungen hat, aufzulösen, wollen wir daher im nächsten Philosophon den Versuch wagen, uns in die Höhle des Löwen zu begeben. Was unterscheidet ein stimmiges von einem unstimmigen Motiv, was ein originales von einem epigonalen, und was sind die Kriterien, nach denen wir musikalische Motive gemeinhin beurteilen und bewerten, musizieren und erleben? Diese und weitere Fragen stehen an den finsteren Wänden jener unerleuchteten Höhle unter der Gralsburg der Musik geschrieben, deren labyrinthische Gänge zu betreten, nur mit philosophischem Licht anzuraten ist.