090 Ein hängender Paradiesgarten
November 2002
Als die höhere Kunstmusik im 19. Jahrhundert ihre romantische und spätromantische Richtung als letzte universale Vorwärtsströmung entdeckte, wurde als deren kennzeichnendstes Merkmal eine neuartige Harmonik, und mit dieser einhergehend eine neuartige Melodiebildung an den neuen Werken wahrgenommen. Die neuen Harmonien der neuen Melodien der damaligen Neuen Musik waren wirklich neue und bislang niegehörte, ebenso berückend und betörend wie zugleich befremdend und bebangend. In allen Klein- und Großformen der musikalischen Gattungen wurde das musikalisch Neue durchprobiert und durchverbraucht, und so stand die damalige zeitgenössische Ästhetik und Musikästhetik und ebenso die zeitgenössische Musiktheorie und Musikgeschichtsschreibung wie eine altverbliebene Kuh vor einem neuen unbekannten Tor, staunend und ratlos, ob sie mit ihrem alten vierbeinigen Körper in das sonderbar gewordene Gebäude ihrer Lieblings-Geschäfte überhaupt noch hineingehen könnte oder auch nur sollte; ob sie auf- oder abspecken müsse, ob sie um- oder abmodellieren müsse, um das musikalisch Neue in seiner Vernunft oder Unvernunft, in seiner Notwendigkeit oder auch nur vorübergehenden Zufälligkeit, kurz: ob als wirkliche Kunst auserwählter Genies oder als nur wirkliche Mode auszugrenzender Sonderlinge zu begreifen und zu verstehen.
Zwar versuchten Banalitätsgeister wie Schopenhauer – gesättigt von Rossinis durchgebratenen Köstlichkeiten – an einer ewigen Metaphysik des Musikalisch-Schönen und gar an einer sphärenharmonisch verankerten Harmonie- und Melodielehre festzuhalten; und die praktischen Harmonielehren vor Schönberg huldigten samt und sonders einer quasinatürlichen Normativität im Harmonischen und Melodischen, so als ob der Geist der Musik in einem in die Ewigkeit hängenden Paradiesgarten gelandet wäre, um hierzulande eine ewig gleichbleibende Pflanzenzucht von ewig sich selbst umspielenden Musikformen und -inhalten zu betreiben. Unverwunderlich, daß in diesem sonderbaren Garten auch jene quasinatürlichen und quasiewigen Formenlehren aus dem Boden schossen, die bis heute das musikpädagogische Arkadien mit Normmodellen von Fugen- und Sonaten-, von Harmonie- und Kontrapunktsätzen beglücken.
So mußten in ihrer Not die neuen Komponisten der noch romantisch neuen Musik teils selbst zur Theorietinte greifen, um sich als vernünftige und berufene Neuerer auch durch Wort und Rede zu verkünden; teils rochen sensible Denker den faulen Geruch jener natürlichen Kunst-Gärten und folgten mutig Nietzsches schöner Lehre einer grenzenlosen Erweiterbarkeit des Musikalisch-Schönen, die demnächst im Zeitalter des zarathustrischen Übermenschen an- und abheben werde.
In der wahren und geschichtlich dennoch prekären Mitte des 19. Jahrhunderts stand übrigens eine Ästhetik eines heute beinahe gänzlich vergessenen Philosophen – die größte Ästhetik des größten Ästhetikers im 19. Jahrhundert, Friedrich Theodor Vischers „Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen“. Diese konstatierte in sämtlichen traditionellen Künsten ein Ausgeschrittensein aller universalen Stile und Formen, aller Handwerke und Gattungen, Schönheiten und Erhabenheiten, weshalb die Kunst der Zukunft die ausformulierten Grundgestaltungsweisen und Grundinhalte zwar nur noch umspielen und variieren könne und solle, zugleich aber mit der strengen Auflage, innerhalb dieser Grenzen einer ausgeschrittenen ästhetischen Vernunft das Charakteristische als individualisierende Leitkategorie zu suchen und zu pflegen, um nicht von tödlicher Langweile durch eine nur noch individuell verbrämte Wiederkehr des Immergleichen erschlagen zu werden. Ein wehmütiger Pantheismus durchzieht diese letzte und abschließende Groß-Ästhetik der abendländisch-europäischen Kultur; verständlich, mußte doch der unvergeßliche Äon, der Europen spätestens seit dem 15. Jahrhundert eine unüberbietbare Hochkultur in Religion, Kunst und Philosophie bescheren sollte, mit dem Ende des 19. Jahrhunderts gleichfalls zu Ende gehen.
In dieser Endsituation vor dem Beginn der Posthistorie in Religion, Kunst und Philosophie, in der wir seit dem 20. Jahrhundert mehr fröhlich und unwissend als seriös und wissend leben und sterben, verfiel nun Hugo Riemann, der bürgerlichen Musikwissenschaft bedeutendster Vertreter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auf den scheingenialen Gedanken, die in der höheren Kunstmusik romantisch auseinandergaloppierenden Harmoniepferdchen nochmals unter das Dirigat eines universalen Musik-Gespanns zu zwingen. Da „alle noch so komplizierten Akkorde“ letztlich und erstlich auf den Dur- oder Mollakkord in einer der drei Grundfunktionen von Tonika, Dominante und Subdominante zurückzuführen seien, sei jedem und noch dem kompliziertesten Akkord der Passierschein in das Paradiesreich der Musik auszuhändigen, sofern er die Verständlichkeits-Legitimation einer Abstammung vom Urstamm der Akkorde vorweisen könne. Jeder andere Akkord jedoch sei des Vergehens einer unverstehbaren Willkür und eines unlauteren Einschleichversuches überführt und müsse daher außerhalb der Grenzen wirklicher Musik verbleiben. Um diese Prämisse wissenschaftlich zu prämieren, oder weniger fröhlich ausgedrückt: um sie aus dem Zustand einer wissenschaftlichen Hypothese in den Rang einer auch empirisch verifizierbaren These zu erheben, suchte der einzelwissenschaftliche Meisterdenker der belle-epoque-Musikwissenschaft alle Theorieresultate „eines Rameau, Hauptmann, Helmholtz, von Oettingen“ und anderer „in einem Brennpuncte zu vereinigen“.
Alle bisherigen Theorien sollten in seiner Theorie zusammenwirken, um verständlich zu machen, daß zuallererst und zuallerletzt nur ein einziger Akkord und dessen drei Grundintervalle so verständlich sein könne, durch sich selbst verständlich sein zu können, um durch diese unveränderliche Selbst-Verständlichkeit das harmonische Verständnis aller anderen Akkorde zu ermöglichen und zu erwirken. Diese These über den Durdreiklang fand Hugo Riemann selbstverständlich bei Moritz Hauptmann, dem einzigen wirklich ernstzunehmenden Basistheoretiker über Harmoniebildung im 19. Jahrhundert. Der eine universale Durakkord sollte also sowohl die Natürlichkeit wie die Vernünftigkeit der spätromantischen Harmonik und ihrer Exzesse verbürgen und sollte zugleich die anbrechende Zerbrechung der Tonalität hintanhalten als Frevel einer Freiheitsoffenbarung, die nur Einzelnen, Komponisten genannten Einzelnen, nicht aber der Genossenschaft Nichteinzelner, nicht der Gemeinschaft musikverstehender und musikliebender Menschen zugänglich sei.
Weil aber dem einzelwissenschaftlichen Meisterdenker entgangen war, daß mittlerweile des späten 19. Jahrhunderts nicht nur die Akkordpferdchen der Musik, sondern auch die vielen Wissenschaftspferdchen der geistes- und naturwissenschaftlichen Fakultät in jede nur mögliche Richtung, in die je eigene nämlich, auseinanderzugaloppieren begonnen hatten, entging ihm die dämonische Feinheit, daß jener allverständliche Akkordengel in der Sicht und im Verständnis der vielen Wissenschaften aus ganz verschiedenen, ja entgegengesetzten Herkunftsorten und Grundgebieten gekommen zu sein schien, um unter uns mit seiner praktisch selbstverständlichen wie zugleich theoretisch bis heute unverstandenen Macht zu erscheinen.
Der Versuch des ersten musikwissenschaftlichen Interdisziplinär mußte folglich Schiffbruch erleiden, weil ein musikalischer Akkordengel, der nicht aus der Mitte des universalen Vernunftwesens von Musik, sondern aus jedem nur möglichen Segment von Welt kommen konnte, theoretisch, und das bedeutet hier: wirklich begriffen als universale Wahrheit, noch gar nicht angekommen war; und die beliebte Phrase, der Dreiklang sei doch gewiß im Menschen selbst begründet ist eine nur unbegründete und eingewöhnte, eine nur dauerphrasierte; denn in der Universität Mensch umfassen sowohl deren geistige wie deren natürliche Fakultät eine ganze Heerschar von Provinzen, vom nackten Gehirn bis zur großen Zehe, vom physiologisch traktierten Gehörorgan bis zum zentralen Nervensystem, vom mathematisch operierenden Bewußtseinsakt bis zum psychologisch testierbaren Lust-Unlust-Gefühl, um nur diese Provinzen an der Peripherie der verborgenen Zentrale zu nennen, die im übrigen allein fähig ist, alle Provinzen davor zu bewahren, sich als anarchische Zentren vermeinter Chaossysteme mißzuverstehen und auch ständig daran zu erinnern, daß sämtliche Provinzen ständig im und niemals außerhalb des Ganges der Geschichte unterwegs sind. Durch alle diese unsere Provinzen ist unser Engel aber immer schon hindurchgegangen, wenn wir die Erfahrung erfahren, einen Dreiklang samt seinen heiligen Intervall-Verwandten zu hören und zu empfinden, wenn wir erklären, einen Dreiklang samt seinen Stammesgenossen gehört und verstanden zu haben. Zwischen der Scylla des Unfugs, den Dreiklang aus der Obertonreihe in unser Bewußtsein begründend niederregnen zu lassen, und der Charybdis des Dummgedankens, den Dreiklang als zufälliges Produkt der Musikgeschichte, als kontingentes Ergebnis kompositorischer Konventionen von Musikepochen aufzufassen, als modische Attitüde von „Konsonanz“ welcher daher im zarathustrischen Zeitalter der Moderne eine uns schön ankomponierte Sonanz als allgemeinverständlicher Kollabierakkord, in dem Konsonanz und Dissonanz verschwunden sind, ohne wirklich verschwinden zu können, als neuer Grundakkord einer Neuen Tonkunst aufsteigen werde und daher auch unseren Kindern musikpädagogisch an- und einzugewöhnen wäre, liegt das Schiff der Basistheorie von Musik bis heute auf Grund; ob es je wieder gehoben wird, weiß nur der Engel der Musik-Geschichte.