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091 Die klassische Klassik

November 2002

Wer behauptet, der Jazz steige zur musikalischen Klassik unserer Zeit auf, begeht eine Kette von Gedankenfehlern, welches Begehen er zugleich nicht bemerkt. Die widerlegende Kritik dieses Begehens muß daher sowohl sein Irren wie dessen Nichtbemerken ergründen und als möglich erweisen, bevor sie zur eigentlichen Widerlegung schreitet; obwohl das Aufzeigen der Möglichkeit, einen illusionären Gang im Denken über Musik gehen zu können, im erkannten Grunde bereits die Widerlegung des Irrtums und das bemerkende Aufdecken des Nichtbemerkens ist.

Es müssen die Gründe sowohl für den Irrtum wie für dessen Naivität, sich nicht als Irrtum bemerken zu können, angegeben werden. Beides – das Irren und das Nichtbemerken des Irrens – ist nicht dasselbe, denn jemand kann einen Irrtum sehr wohl mit bestem Wissen vertreten, mit dem Wissen der Absicht nämlich, einen Irrtum für Wahrheit verkaufen zu wollen. In diesem unter Menschen nicht selten geübten Falle erscheint daher die Lüge, nicht die Dummheit. Erscheint aber die Dummheit – weil ohne Übung auszuüben der häufigere Fall – kann sie im Nebel eines epochalen Vorurteils die Gemüter so vernebeln, daß diese Opfer ihrer Zeit Wahrheit zu sprechen vermeinen, indes ihre Meinung doch nur das Gegenteil dessen besagt, was sie meinen möchten, ohne daß sie je bemerken könnten, was Gegenteil und Wahrheit ist.

Was meint nun der Gedanke und das Urteil, der Jazz steige zur Klassik unserer Zeit auf? Vorausgesetzt und eingesetzt wird offensichtlich der ominöse Terminus „Klassik“; ein Perfektions-Terminus, der einen Zustand nicht unbeträchtlicher Vollendung einer Sache ausdrückt; in unserem Falle der Sache Musik; die Klassik der Musik, gemeinhin und ursprünglich, also überliefert und dokumentiert von der Epoche der sogenannten „Wiener Klassik“ abduziert, wird nicht einer einzigen Epoche – der auserwählt wienerlichen – belassen, sondern dieser entwendet und jeder darauffolgenden Epoche, und großartiger noch, jeder nachfolgenden Art und Unart von Musik zugelassen. Weshalb uns das beliebte Geschäft anvertraut wurde, einer Verklassikung der Operette, des Schlagers, des Popsong, der Moderne usw. gehorsam zu gehorchen, und auch jenseits der uns scheinvertrauten Sache Musik begegnen wir dem ominösen Perfektionsartikel „Klassik“ allenthalben – unter Möbeln, Hotels, Autos, Parfums, Mehlspeisen, Weinen, Sonnenuntergängen und so fort ins klassisch Unendliche.

Wenn aber gilt, daß die Voraussetzung von „Klassik“ durch einen grandiosen Selbsternennungs- und Erweiterungsakt für alle nachfolgenden Epochen eingesetzt und allen nachfolgenden Musikarten aufgesetzt werden kann, dann auch auf die vorausgehenden Epochen und Musikarten der ursprünglichen Findungs- und Ernennungsepoche. Denn die ursprüngliche Erst-Klassik, die ausgerechnet den Wienern sollte verdankt sein, war nach diesem grandiosen Gedankengang nichts weiter als die endlich richtige Findung des richtigen Namens für eine Sache, die immer geschieht, immer sich wiederholt, immer frisch fröhlich im Reigen der Epochen und Musiken wiederkehrt.

Gilt nämlich als Wahrheit, daß jede Epoche ihre Klassik hervorbringt und hinterläßt, dann war jene Beurteilung der Wiener Klassik nichts weiter als die Einsicht, daß im wahren Grunde der Sache von Musik eigentlich schon jede Vorher-Epoche Klassik, nämlich die ihre und somit eine von vielen war; der Barock die Klassik des Barock, die Renaissance die Klassik der Renaissance, das Mittelalter die Klassik des Mittelalter, und das gelobte archaische Reich des goldenen Zeitalters die goldene Klassik der goldenen Nase. Und selbstverständlich können und müssen wir dieses grandiose Spiel mit allen Gattungen und Arten, mit allen Stilen und Handwerken der Musik durchspielen, wenn wir schon dabei sind, uns ordentlich auszuspielen.

Als glorreiches Resultat unseres Spieles erhalten wir daher eine ewig sich ändernde und zugleich ewig sich gleichbleibende Klassik. Alle epochalen und artgesottenen Klassiken der Musik sind in ihrer Art Klassik, nämlich ihre musikalische Klassik; nichts Unvollendetes unter der Sonne. Da aber der Begriff „Klassik der Musik“ ursprünglich abduziert wurde von einer „Wiener Klassik“ – als Name für eine Sache, die Anspruch auf einmalige Betitelung durch den Perfektionsterminus „Klassik“ erhob, liquidieren wir durch unsere allanwendbare Allvergegenwärtigung und Allvergeschichtlichung von „Klassik“ den Anspruch des Terminus, einen wirklichen, die geschichtliche Entwicklung der Sache transzendierenden Perfektionsgrad nominaldefinitorisch auszusprechen. Warum soll ausgerechnet den Wienern gegönnt sein, worauf in der demokratischen Zauberepoche alle Orte und Arten und Zeiten Anspruch haben? Für immer und ewig und schon immer für immer und ewig – wenn wir uns nur nach bestem Wissen und Gewissen fleißig und hurtig um die Sache bemühen. Denn Menschen machen die Musik, und nicht nur in Wien; und Menschen gibt und gab es immer, solange es Geschichte gibt, und wo Menschen wohnen, da wohnt auch deren Musik. Alles Klassik.

Leicht ist es also, den Königsweg des Klassischen zu finden, denn immer ist sie, immer geschieht sie, und immer anders und doch gleich. Wie aber ist es möglich, diesen himmelschreienden Widerspruch, alle Epochen und alle Arten einer Sache in den Rang von deren Vollendung zu erheben – die Währung der Wahrheit eines Begriffes durch jede beliebige Begriffswährung begleichen zu wollen, jedes Partikulare als Universales, jedes Singuläre als Einmaliges zu nehmen – nicht zu bemerken? Welche heimtückische Operation stellt der nichtdenkende Zaubermantel des epochalen Vorurteils im Denken unserer ewigen Klassikaner an? Ist es nur ein Vergessen des geschichtlichen Werde- und Wirkungsganges der Musik? Wohl nicht, da schon der logische Widerspruch der mit sich widerstreitenden Klassik-Meinung so eklatant ist, daß er erkannt werden kann, ohne die Bekanntschaft mit den Epochen der Musik gemacht zu haben. Dennoch verstellt er sich dem meinenden Bewußtsein, wenn es meint, eigentlich habe jede Epoche und jede Art von Sache in ihrem Gang durch ihre Geschichte ein gleiches Recht und einen gleichen Anspruch auf den Ehrentitel „Klassik“. Wie ist dies möglich? Was geht in den klassischen Gehirnhälften vor, wenn es auf diese schon wieder klassische Weise das Klassische für immer und für alles klassisch macht und daher für immer und ewig beseitigt?

Sehen wir genauer zu, erblicken wir den Übelgrund in des Übeltäters eigener Liebe zur eigenen Sache; denn nur der Operettenfan und dessen gemeine Gemeinde kennt die Fledermaus als klassische; nur der Schlagerfan seine Lieblingsnummern als klassische, nur der Popfan die seinigen Nummern als klassische; nur der Kenner von Schönbergs und Strawinskys Singularitäten diese als „klassische Moderne“; weil also in der modernen Zauberepoche jede Gemeinde jeglicher Art von Musik ihre Lieblinge hat, so erscheint im verführerischen Licht dieser Liebe selbst-verständlich das Geliebte und Geliebteste als das Vollendete und Nonplusultra der Sache. Jedem seine Musik, also seine Klassik; jedem seine Liebe, also seine Narretei; jedem seine Philosophie, also seine Wahrheit; jedem seine Ethik, also seine Moral; jedem seine Religion, also sein Gott.

Am Begriff schön sei heute nur mehr das Wort schön schön; erklären uns Musikhistoriker, die uns versichern, ausgiebig über den Begriff der Schönheit und des Musikalisch-Schönen nachgedacht zu haben; und nachdem wir nun kurz, aber eingiebig über den Begriff des Klassischen und des Musikalisch-Klassischen nachgedacht haben, erklären wir somit feierlich: am Wort klassisch ist heute gleichfalls nur mehr das Wort klassisch klassisch.

Bleibt noch zu klären, weshalb Londoner und Leipziger – auch nur Menschen – am Beginn des 19. Jahrhunderts auf den skurrilen Gedanken verfallen konnten, die Werke Haydns und Mozarts und Beethovens als klassische zu klassifizieren? Diese ersten Übertreiber einer durchtriebenen Liebe zu einer doch nur einzigen Art von Musik unter unzählbaren anderen Arten von Musik – was mag sie verführt haben zu diesem klassischen Fehlurteil? Aber es sei ihnen verziehen – sie hatten Lehar und Zawinul, Schönberg und Elvis noch nicht vernommen.