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092 Jugendfrei

November 2002

Da in der Vormoderne eine Musik von Jugendlichen für Jugendliche nicht existierte, vermochte die Musik vor dem 20. Jahrhundert weder zu infantilisieren noch zur Massenmusik eines infantilen Musikgeschmacks degenerierend aufzusteigen. Der Aufstieg dieser Degenerierung ist heute an sich abgeschlossen, weil die Unterhaltungsmusik ihr infernalisches Ende erreicht hat, wenn sie beginnen muß, sich als Rhythmus- und Lautmaschine zu verwirklichen; wenn sie daher die Höhepunkte ihrer einhundertjährigen Modernitäts-Geschichte und ebenso alle ihre verbrauchten Mittel und Formen nostalgieren und remixen muß; wenn die Star-Jugendlichen und Star-Bands von einst – sofern sie ihr strapaziöses Lebensgeschäft überlebt haben – noch im hohen Alter wie Spunde einer ewigen Pubertät und Jugendmusik im Zirkus der Märkte für ein höriges Massenpublikum wiederkehren müssen.

Dieses Ende verbirgt sich den Opfern wie auch den ahnungslosen Außenbetrachtern der jugendgeborenen Massenmusik – Politikern und Pädagogen nicht zuletzt– infolge einer antinomischen Verschränkung zweier Gründe, die nur in der gedankenlosen Perspektive einer markthörigen Pragmatik vereinbar scheinen. Den ersten Grund formuliert der treuherzig muttergläubige Satz, immer schon habe die Jugend ihre eigene Musik und Kultur gehabt; daher sei die Jugendkultur und Jugendmusik jeder Generation so gut oder so schlecht wie die aller anderen – der gewesenen wie der künftigen Generationen. Kein Grund zur Sorge, nichts Neues unter der Sonne, Jugend bleibt Jugend, Musik bleibt Musik. – Den zweiten Grund formuliert der genaue Gegen-Satz einer sogenannten Pop-Ästhetik, der männlichkeitsforsch einen permanenten qualitativen Aufstieg auch der jugendlichen Massenmusik unterstellt. Schon die Geschichte der Unterhaltungsmusik im 20. Jahrhundert beweise eine fortschreitende Entwicklung und „Erweiterung“ aller ihrer Mittel, Formen, Inhalte und massenbetörenden Wirkungen – nicht zuletzt am sozialen Tatbestand von heute, da sich kaum noch ein Kind, kaum noch ein Jugendlicher der Umarmung durch die aktuelle Jugendmusik und Jugendkultur entziehen kann. Nicht nur kein Grund zur Sorge daher, sondern ein Grund zu heftiger Freude, denn stets Besseres und Vielfältigeres im Meer der unterhaltenden Musikwellen, stets Interessanteres und Individuelleres finde sich nun im Angebot der sich progressiv erweiternden Produktpalette – schon das Leben der Kinder ein einziger Hit aus unendlichen Hits.

Soll aber die popige Rede von Entwicklung und Erweiterung der Unterhaltungsmusikgenres nicht eine mit und in Luftballonkategorien sein, die lediglich das Hinzukommen von mehr Luft und Stoff beschreibt, muß sowohl der musikalische Inhalt wie die musikalische Form der konkreten Entwicklungsstufen der U-Musik wechselwirkend die behauptete Erweiterung demonstrieren. Und in der Tat finden wir diese untrennbare Wechselwirkung auf jeder der Hauptstufen der Entwicklung: im Übergang vom Blues zum Rhythm’n Blues, von diesem zum Rock ‚n’ Roll, von diesem zur Beat- und Rockmusik, und von diesen zu Hip Hop und Techno am Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Zusammenbruch des Kommunismus.

Streng genommen beginnt die Juvenilisierung der Musik erst mit dem Rock ‚n’ Roll; denn die Vorstadien des Jazz und dieser selbst in seiner eigenen Entwicklung dienen noch heute auch einem Segment von Erwachsenen in der westlichen Welt als Folie einer vermeintlich urtümlichen Musikpraxis, die als zeitgemäße musikalische Verwirklichung einer zeitgemäßen Freiheit und Befreiung erscheint – oder von dem, was zeitgemäß für zeitgemäße musikalische Freiheit gehalten und empfunden wird.

Auch an den Neben- und Zwischenstufen der unterhaltungsmusikalischen Entwicklung, etwa von Rag Time, Boogie Woogie, Bebop, Country & Western und der diversen Abarten des Punk- und Folk Rock sowie des Rap finden wir daher niemals nur eine experimentelle Erweiterung der Formen und des Materials durch Einzelkomponisten als deren individuellem Selbstausdruck – wie in der deshalb nicht nur sogenannten E-Musik des 20. Jahrhunderts – sondern immer zugleich auch einen neuen Typus eines neuen Jugendlichen und dann Erwachsenen samt deren sozialen Kollektiven und ihrem nicht nur vermeintlich subkulturellen Geist. Kurz: ein neues kollektives Lebensbewußtsein, definiert durch neue soziale Bedürfnisse und Befindlichkeiten, neue Ur- und Vorbilder neuer Freiheiten mit einem neuen Pathos für neue Vor- und Nachlieben. Der neue Inhalt des neuen jugendlichen Humanums erschuf sich daher an jeder neuen Entwicklungsstufe eine neue musikalische Formenwelt als Ausdrucksorgan, und zwar stets in genauer Fortbildung und Selbstnegation sowie Neusynthese der Formen und Materialien von gestern, um sich in den genannten Genres und deren Gattungs- und Artenvielfalt, in deren Syntaxen und Stilen individuell klingende Spiegel zu erschaffen, in denen die Pracht des neuen Lebe-Wesens angeschaut und angehört werden konnte, um mit den Gröhlemeyers aller Genres und Länder als Heroen einer unersetzlichen Lebensmusik versorgt zu werden. Und die kulturirritierte moderne Gesellschaft versucht daher noch heute unter dem Scheinsegel von „Popkultur“ nach einer neuen Leitkultur in die See der Zukunft zu stechen, ohnwissend, daß der vom omnipräsenten Juveniles geführte Methusalem nur das Schicksal des vom Einäugigen geführten Blinden wiederholt. Denn an der Hand der musikalischen Jugendkultur geführt, weiß die musikalische Hand des modernen Demokraten alsbald nicht mehr, ob sie noch eine oder bald schon keine mehr ist.

Wendete man geheimverschwörungslogisch ein, diese Stufen seien doch samt und sonders nur von findigen Agenten der Musikindustrie und ihrer Märkte eingefädelt und durchgesetzt worden, so übersähe man, daß seit dem 20. Jahrhundert ein Leben der Musik jenseits des Lebens der Musikmärkte nicht mehr spielt – nicht mehr gezeugt und nicht mehr geboren werden kann. Die Manager des Marktes waren und sind daher nur die Agenten dessen, was in den jugendlichen Massen und deren Schichtenbewegungen selbst an bedarfter Neuheit hochkommen mußte und will, und wäre es noch so infantil, barbarisch und pervers. Jedes Tierchen fand sein musikalisches Amüsierchen, und sogar der Luftgitarrist findet noch heute seine Olympiaden und seinen Olymp im Empyreum der Popkultur.

Obwohl jedoch die moderne Gesellschaft sich in allen ihren Segmenten unterm Anstrich ewiger Jugendlichkeit zu präsentieren versucht – bis hin zur wachsenden Ununterscheidbarkeit von Jugend- und Erwachsenenprogramminhalten auf allen Fernsehkanälen, weil alle Produkte so popig und pepig wie nur möglich sein müssen, um die konkurrenzgebotene Erregungsquote zu schaffen, existiert „die Jugend“ als homogene Gesellschaftsschicht längst nicht mehr. Ihr einziger gemeinsamer Nenner ist nur mehr der ökonomische, die tragende Käuferschicht von morgen zu sein – ein nicht gerade orientierender Nenner und Wegweiser. Ohne eigene Lobby und weithin im Stich gelassen von den orientierenden Lobbies von gestern: Eltern, Schule und Kirche, steuert der Jugendliche von heute als sein eigener Navigator durch die ständig sich differenzierenden und erneuernden Technologien von Radio, Stereoanlagen, Fernseher, Computer, Videorecorder, Satellitenreceiver, Video- und Computerspielen usf usw, um als multimedialer Nomade neuer Kulturtechniken durchs Leben zu kommen.

Die Anbiederung der modernen Gesellschaft an eine Jugend, die nur als Projektion ihrer eigenen desorientierten Freiheit existiert, ist daher ein Symptom ihrer gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit und nicht ein Ausdruck der infantilen Sehnsucht, als Kind dieser Welt leben und verbleiben, denken und sterben zu dürfen. Scheinbar ist nun die moderne Gesellschaft so jugendlich geworden wie die Jugend selbst, so kindlich wie die Kinder selbst, wenn man nur wüßte, was das war: Kindheit und Jugend.

Die vermeintlich ewig sich weiterentwickelnde und zugleich ewig sich gleichbleibende Jugendmusik von Jugendlichen für Jugendliche mutiert daher in der Epoche des sich erfüllenden technischen Fortschritts einerseits in ein Beiläufigkeitsmedium, das in den anderen Multimedia-Segmenten mitspielen darf, ohne daselbst nochmals jene zentralen Erregungen im Rang massenkollektiver Initiations- und zugleich Protestrituale herstellen zu können, die ihre gesellschaftliche Bedeutung als „Pop-Kultur“ im 20. Jahrhundert ermöglichten; andererseits in einen infernalischen Kehraus, der ihre Verwandlung in ein berauschendes Tanzmedium herbeiführt, um wenigstens noch als Rhythmus- und Lautmaschine übererregt dem zu Ende degenerierten Endzweck einer zu Ende verjugendlichten Musik zugeführt werden zu können.

Der säkulare DJ-Schamane und der medial klonbare Showstar führen den Anfang eines Endstadiums herbei, in dem Kinder zu Lemmingen, Jugendliche zu Fellachen mutierten, sofern eine zu Ende mutierte Jugendmusik und Jugendkultur überhaupt noch über verbindliche Kräfte zu irgendeiner kulturellen Mutation verfügen wird können.