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093 Wie viele Sprossen hat die Sprossenwand

Dezember 2002

Während die moderne Kunstmusik, schamhaft E-Musik genannt, in der Regel ihrer ästhetischen Programme eine rhythmusbefreite Klangsprache ansteuert, lebte und werkte die traditionelle Kunstmusik, aber auch die Tradition der vormodernen europäischen Volks- und Sakralmusik im Element eines nicht swingenden und nicht sich rhythmisierenden Rhythmus. Abgesehen von den Gattungen und Stilen der Tanz- und Marschmusik war es nicht stilopportun, also epochal und sozial weder notwendig noch möglich, die Lokomotive der Musik auf eine sich auf sich beziehende Rhythmusschiene zu setzen. An dieser Immunität und Resistenz gegen die rhythmischen Verführungen einer automotorischen Reizmechanik hatten anfangs auch die unterhaltungsmusikalischen Ableger der traditionellen Musik, etwa Salon und Operette, Schlager und Schnulze, ältere Tanz- und Ballmusik ihren fruchtbringenden Anteil. Die mittlerweile auf der Ebene von Produktion ausgestorbenen Gattungen und Stile einer „gehobenen Unterhaltungsmusik“ – sehen wir abermals von einem neuen Genre mit nun globaler Reichweite ab: Filmmusik – bezeugen diese epochale Veränderung im System der Musik schlagend und unwiderlegbar.

Es ist das Verdienst und die Schuld von Jazz, Rock- und Popmusik und allen aus diesem Quellfundus fließenden Gattungen und Stilen der säkularen U-Musik, die Lokomotive der Musik auf die Schiene eines sich auf sich beziehenden Rhythmus gestellt zu haben. Und somit scheinen wir nun scheintolerant denken zu können: warum nicht sollte der swingend und groovend sich auf sich beziehende Rhythmus eine epochale Syntax und Stilistik für die Musik einer abermals jahrhundertewährenden großen Tradition großer Kunstmusik abwerfen können, ähnlich oder gar als Fortsetzung jener rhythmusintegrierten traditionellen Musik, die sich immerhin von spätestens 1600 bis 1900 als Tradition einer großen Tonkunst und ihrer Sprechweisen ungebrochen fortsetzen und ausdifferenzieren ließ?

Die alberne Sprechblase: „Was früher Vivaldi war, ist heute Mick Jagger“ nimmt eine Dummheitsaktie an der Börse dieses Aberglaubens, unter der Annahme, in der rhythmischen Perspektive auf das System von Musik sei doch ohnehin klar, daß eine swingende und groovende Musik allen rhythmusintegrierten Arten von Musik unendlich überlegen sei: sowohl musikgeschichtlich, weil heute aktuell; wie auch musiklogisch, weil das Rhythmische für jeden musikalischen Klugscheißer evidentermaßen das eigentlich Lebendige und Bauchige, das eigentlich Magische und Spontane an der Musik ist, während das verzopfte und steife Zeug einer immer nur stolzierenden Kontrapunktik und einer melodisch immer nur schreitenden oder schwebenden Harmonik lediglich den Ewiggestrigen der Musik Wohlgefallen bereiten könne – vom total verkopften Zeug der rhythmusbefreiten E-Musik der aktuellen Moderne ganz zu schweigen. Endlich vorbei die düsteren Zeiten des finsteren Mittelalters, die so entsetzlich unfrei waren, die Reizbedürfnisse des homo rhythmicus ängstlich zu tabuisieren und die Libido von Swingern und Beatern grausam zu unterdrücken. Aber gegen den unerklärten Wunsch ganzer Musiker- und Publikumsgenerationen, dumm sterben zu wollen, ist im allgemeinen natürlich nichts einzuwenden, und vor allem ist kein Kraut gegen diese beliebte Lebenskrankheit im Garten unserer Kultur gesät worden. Es ist das Schicksal ganzer Epochen, an den Dummheiten ihrer Kulturen nicht dumm werden zu können.

Was ist Swing und Beat im System von Rhythmus? Und was ist Rhythmus im System von Musik? Und was ist Musik im System von Kunst? Und was ist Kunst im System von Leben, Kultur und Geschichte? Auf welchen Sinn-Etagen im Haus der Musik und ihrer Theoriebildung können und müssen wir die Frage nach der Washeit von Rhythmus und Swing und Beat, aber ebenso nach der Washeit aller anderen Materialien und Formen und ihres Zusammenspieles zu ‚einer’ Musik stellen? Genügt ein Blick in unsere sogenannten „Allgemeinen Musiklehren“? Sind diese nicht auf der untersten Sprosse des Handlungs- und Wissenssystems der Musik angesiedelt? Genügt ein Blick in die historischen Musiklehren verflossener Musikepochen auf dieser wiederum untersten Wissenssprosse, um der Washeit von Musik im Zustand ihrer einstmaligen Geschichte habhaft zu werden und um unserem Nach- und Weitermusizieren sowie unserem Begreifen und Beurteilen der Musik vergangener Epochen auf die Sprünge zu helfen? Sind diese historischen Handlungs- und Wissenssysteme nicht immer auch durch die naive Begrenztheit ihres „seinerzeitigen“ Tuns und Wissens beschränkt?

Welche und wie viele unserer Zeitgenossen sind heute noch imstande, die ganze Palette der immer noch vorhandenen Sprossen nach ihrem genauen Wert im ganzen System der Musik und ihrer Geschichte einzuordnen, ohne in diesem zugleich musiklogischen und musikgeschichtlichen Sprossenlabyrinth einer lauernden Phalanx von heimtückisch aufgestellten Fallen und überall drohenden Systemirrtümern zum Opfer zu fallen?

Swing und Beat im System von Rhythmus begegnet uns auf jeder Sprosse in diesem janusköpfigen System von Musik, von der Allgemeinen Musiklehre angefangen, auf der sich das Musikdenken der Handwerker und Handdenker niedergelassen hat, bis hinauf zur obersten, auf der jener Adler residiert, unter dessen Klauen die Geheimnisse einer philosophisch fundierten Musik-Lehre verschanzt liegen. Auf welcher Sprosse wollen und sollen wir uns niederlassen?

Diese Sprossen umfassen die äußersten Grenzen des Systems von Musik in sowohl praktischer wie theoretischer Perspektive, vom Extrem der extrem reflexionslosen Praxis, die uns als Tiere der Musik erlöst, bis hinauf zum Extrem der reflektiertesten Theorie, die uns zu Geistern eines absoluten Wissens von Musik erhebt. In jedem Augenblick unsers Tuns in und unseres Denkens und Sprechens über Musik schweben wir zwischen und auf diesen Sprossen hin und her – und allein diese immer noch dargebotene Möglichkeit sollte unserem epochalen Wunsch, dumm sterben zu wollen, auch im Haus der Musik eine entschiedene Abfuhr erteilen.

Was fangen wir an mit dem eingangs gegebenen Hinweis, daß Kein-Rhythmus, Schwach-Rhythmus und Voll-Rhythmus exakt die rhythmuspezifischen Trennlinien zwischen erstens moderner E-Musik, zweitens traditioneller Tonkunst und Nicht-Kunst-Musik und drittens moderner Unterhaltungsmusik markieren? Daß Swing als Resultat des Off-Beats letztlich nichts anderes bedeutet als die individuell changierbare Freiheit des Jazzers und Rockers, „zwischen“ den metrisch angestammten Schlagzeiten eines nichtswingenden Rhythmus gegenbetonen zu wollen und zu können, inmitten des metrischen simultan einen zweiten Rhythmus, inmitten des Normalrhythmus einen Gegenrhythmus aufrichten zu können? Für den Systemkenner geht daraus unmittelbar hervor, daß der Versuch des Jazz, sich als künftige Lokomotive einer hinkünftig nicht mehr rhythmuslosen neuen Kunstmusik auf die Geleise der Musikgeschichte zu stellen, unmöglich durchgeführt werden kann. Umsomehr als die Episode des Free-Jazz auch musiklogisch nur eine Episode im System Jazz sein kann, denn seine Genres bleiben an die je aktuellen Genres der Unterhaltungsmusik verwiesen – zu deren improvisatorischer Aufmischung jederzeit zu Diensten.

Der Off-Beat von Jazz und Rock ist nicht Synkope, wie oft behauptet wurde, sondern wesentlich und nicht nur quantitativ mehr; ein stilbildendes Element, eine stilsetzende Materialform, eine das Swingen durchgängig begründende und ermöglichende metrisch-rhythmische Praxis.

Zwar begann auch die europäische Schlager- und Unterhaltungsmusik zunächst im Formelement von Schwach-Rhythmus, und noch heute ist der Schnulzenbereich und der sogenannte Edelsong des Popbereiches nicht unbedingt verswingt. Dies bestätigt nur die Genealogien der angeführten Dreiteilung von Rhythmus; – der swingende geht auf den metrisch-rhythmischen Modus der afroamerikanischen Musik zurück, den die weiße amerikanische Countrymusik nur peripher übernahm. Erst mit dem Blues und dem Jazz entsteht auch in den USA eine USA-Musik, die als Jazz beanspruchte, die neue Kunstmusik der neuen Weltmacht und vielleicht der ganzen Welt und Menschheit werden zu können. Man muß aber nicht dort Weltmacht werden wollen, wo es geschichtlich nicht mehr möglich ist…