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094 Zur ewigen Tankstelle

Dezember 2002

Die Geschichte der Musik als Kunst ist die Entfaltung ihrer absoluten Historie, und das Absolute dieser Historie ist zugleich das ewige Musikalisch-Schöne in seiner eigenen Entwicklung und Vollendung. Es gibt kein anderes, kein anderes „ewiges“ Musikalisch-Schönes, keines, das entweder über der Musikgeschichte als deren unerschöpfbare Transzendenz oder unter der Musikgeschichte als deren unerschöpflicher Naturgrund präexistierte. Allein das Absolute der Geschichte der Musik als Kunst ist deren Ewiges, deren absolute Historie ist die ewige Wahrheit der relativen Geschichtlichkeit von Musik als Kunst.

Dies zu verstehen, fällt uns nicht leicht, weil erstens der Grat des Denkens stets schmal und das Nadelöhr der Wahrheit immer eng sein muß, und weil wir zweitens von Gnaden unserer Geburt aus einer nichtdenkenden Natur dazu neigen, einen entweder unerschöpflichen Kreis ewiger Formen, etwa in Gestalt ewiger Proportionen oder Materialien; oder einen unerschöpflichen Kreis ewiger Inhalte, etwa in Gestalt ewiger Gefühle, Vorstellungen und Anschauungen, als unerschöpfliche Quelle jenseits der Musikgeschichte präexistierend anzunehmen und anzuglauben.

Das Musikalisch-Schöne wäre demnach eine Art ewiger Tankstelle der Musikgeschichte, deren Energiequellen niemals versiegten, weil die Reserven an musikalischem Gold und Öl unerschöpflich im Himmel- oder im Naturreich für die liebe Menschheit und für das Nesthäkchen Musikgeschichte auf Vorrat lägen. Nach diesem populären historistischen und zugleich futuristischen Irrtum und Aberglauben habe daher jede Kultur und Epoche ihre je eigenen und unvergleichlich gleichwertigen Emanationen musikalischer Schönheit anzubieten, und zugleich sei jede nur eine weitere und stets weiter fortschreitende Schönheit in der unerschöpflich sich aufsteilenden Schönheits-Myriade; und seitdem dieses überköstliche Zauberwunder einer ewigen Musik-Schöpfung entdeckt worden sei – ausgerechnet und zugenäht in der Moderne der Musik-Geschichte – habe die Historie der Musik recht eigentlich erst begonnen.

Was ist das Musikalisch-Schöne? An dieser Frage nicht Schiffbruch zu erleiden, ist nachgerade zu einer Kunst des Denkens über Musik als Kunst geworden, nachdem seit Hanslicks Scheitern an dieser Frage nur mehr Beliebigkeit und subjektive Belanglosigkeit unser Fragen und Antworten, unser Verstehen und Nichtverstehen im Reich der sogenannten ästhetischen Gründe und Abgründe der Musik zu regieren scheint.

Weil Gefühle und Vorstellungen, Anschauungen und Gedanken nicht der Inhalt des Musikalisch-Schönen sein könnten, folgerte Hanslick, daß allein die Form der Musik deren Inhalt und Daseinszweck sein müsse. Und weil diese Formenwelt autonomer Kunstmusik daher nicht das Erwecken von Gefühlen zum Vorsatz und zur Absicht, zum Sinngrund und Daseinszweck haben könne und dürfe, weil Musik dadurch zu einem Mittel für Gefühle, zu einem Gefühlsgenerator degradiert werde, liege der Zweck des Formierens der freien Kunstmusik zum einen in ihrer formalen Selbstvervollkommnung und zum anderen darin, durch eine gefühlsfreie Phantasie und deren formadäquates Komponieren und Musizieren sowie durch ein ebenso formadäquates Schauen qua Hören von Musik realisiert und erlebt zu werden.

Das Musikalisch-Schöne wird daher nach Hanslick durch die musikalische Phantasie im Modus von Rezeption nur aufgenommen, im Modus von Produktion aber geschaffen, im Modus von Reproduktion nachgeschaffen. Da die Phantasie aber nur das Organ, nicht das Wesen, zwar das Attribut, jedoch nicht die ganze Substanz, nur das Formieren, nicht der Inhalt des formierten Musikalisch-Schönen sein kann, denn eine nur an ihrem Phantasieren sich erhitzende Phantasie, ein nur an seinem Formieren sich erbauendes Formieren wäre nichts weiter als ein geistloses Spiel und ein leerer Joke, muß Hanslick uns mitteilen: Es sei immer schon da, das Musikalisch-Schöne, und es erscheine und geschehe immer nur als autonomes Formieren in, für und durch Formen, und es kristallisiere sich zuletzt zu einem klassischen Pantheon vollendeter Formenschönheit.

Das Musikalisch-Schöne als reines Formieren reiner Formen? Welcher Formen? Zufälliger oder notwendiger? Natürlicher oder geschichtlicher? Natürlich geschichtlicher, denn wenn nur natürlicher Formen, dann drohte der ideologische Absturz in jenen vermeintlichen ewigen Naturgrund musikalischer Schönheit, dem beispielsweise die sogenannten Erforscher einer ewigen harmonikalen Schönheit von Musik bis heute zum Opfer fallen, und das Licht freier musikalischer Phantasie und ihrer irreversiblen Geschichte wäre ausgeblasen; wenn aber geschichtlicher Formen, dann erhebt sich die wahre Gretchenfrage an die Musik und ihre Geschichte: welches Gretchen hat den Faust der Musik verführt zur Vollendung seines Schicksals, zur Zeugung absoluter musikalischer Schönheit? Nicht allein die formalistische Reduktion von Musik wird Hanslicks Musikästhetik zum Verhängnis – eine positivistische Reduktion in bester philosophieloser österreichischer Tradition, die nicht nur durch die Inhalte der Texte vokaler Musik widerlegt wird – sondern die absolut geschichtliche und zugleich geschichtlich absolute Frage, welcher konkrete Kanon an musikalischen Formen und Formierungsweisen in welcher Art und Weise als normativer Inhalt eines Musikalisch-Schönen inthronisiert werden soll, das als normativer Inhalt und ewiges Ideal zugleich dem Gang der Musikgeschichte, der nicht aufhört weiterzugehen, enthoben sein müßte.

Indem Hanslicks ästhetisches Urteil sich genötigt sah, Bruckners mit den Sinfonien Beethovens, Wagners mit den Opern Mozarts vergleichen zu müssen, ohne daß er wissen konnte, auf der geschichtlichen Grenzscheide zwischen erfüllter Vormoderne und anbrechender Moderne der Musik stehen zu müssen, konnte er folglich nicht ahnen, in welche Zukunft die denkwürdige Reise der Tonkunst führen sollte, und daher nicht wirklich verstehen, was vorging in den merkwürdigen Vorgängen seiner Zeit. Umso erstaunlicher die musiklogische Treffsicherheit des Urteils seiner Musikkritiken, die sich wohltuend vom philosophischen Dilettantismus seiner Musikästhetik abhebt; und verständlich auch, daß er mit seinem Ärger über die formalen Defizite und Widersprüche in der Musik Bruckners und Wagners zeitlebens nicht zu Rande und Frieden kam.

Alle Schwach- und Ungenies der Epoche schienen sich versammelt und verschworen zu haben, den ohrenscheinlich evidenten Ewigkeitsmustern des erfüllten Ideals musikalischer Formenschönheit, soeben in den Werken der Wiener Klassik manifestiert und inkarniert, zuwiderzuhandeln und zuwiderzukomponieren. Da hatte sich die Musik nach jahrhundertewährender Knechtschaft unter der Fron fremder Herren und Herrinnen endlich und köstlich befreit, hatte in der Epoche von Haydn bis Beethoven das zeitlose Formieren zeitloser musikalischer Formenschönheiten entdeckt, den absoluten Anfangsanfang einer ewigen absoluten Musik und vollendet befreiten Musik-Tradition und -Schönheit, und nun dieses Malheur und Desaster mit Zeitgenossen, die das erreichte Niveau nicht zu halten und nicht zu erklimmen wußten, weil sie es entweder bewußt verfehlen wollten oder unbewußt verfehlen mußten.

In der Perspektive des historistischen Aberglaubens begeht Hanslick das Versehen, Wagners und Bruckners Musik nicht „aus ihrer Zeit“ zu verstehen; jede Epoche erfinde doch aufs Neue das Rad der Musik; in der Perspektive des futuristischen Aberglaubens begeht er das genau gegenteilige Versehen, nämlich nicht eingesehen zu haben, daß jede Epoche der Musik stets nur die Vorbereitung ihrer nächsten Epoche, stets nur die Vorspeise der kommenden Hauptspeise, diese aber wieder nur eine Vorspeise für eine neuerliche Hauptspeise sei – ein Essen auf Rädern, das immerfort nur fortrollt. Nehmen wir nun noch Hanslicks Aberglauben hinzu, daß nämlich die wirklich erschienene Klassik der Musik als ein ewig sich repetierender und variierender Klassizismus der hinkünftigen Geschichte von Musik zu implementieren sei, dann haben wir alle drei ehrwürdigen Zentral-Dummheiten um uns versammelt, die uns die bürgerliche Musikgesellschaft über die Historie der Musik hinterlassen hat, und wir können endlich und köstlich mit der Verabreichung der längst verdienten Ohrfeigenrunde beginnen, ehe wir die Zurechtgezüchtigten auf ihre Fähigkeit hin prüfen, des schmalen Grates wirklichen Denkens über Musik und Musik-Geschichte ansichtig und des Nadelöhrs der Wahrheit anwürdig werden zu können.