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099 Von Spitz- und Lotterbuben

Januar 2003

Weil die Klänge und Töne der Musik keine Löcher und Poren besitzen, in deren Hohlräumen jene Gefühle und geistigen Inhalte sich einfinden könnten, die durch musikalische Klänge und Töne angeblich ausgedrückt und erregt werden, ist die Frage sinnvoll, wie unsere geliebten Klänge und Töne die geheimnisvolle Zauberei bewerkstelligen, als Ausdruck von Gefühlen, als Ausdruck von geistigen Inhalten erlebt werden zu können. Vielleicht täuschen die Klänge und Töne der Musik Empfindungen und Gefühle nur vor; und wir Getäuschten durchschauen es nicht, weil wir den Schein einer Täuschung mit dem Sein einer Realität verwechseln. Und Komponisten, selbst Opfer dieser Täuschung, könnten nichts weiter als die obersten Manipulateure des Zaubertricks sein, Klängen und Tönen, die nicht wie Schwämme und Papier mit Wasser und Blut zu tränken sind, dennoch den Anschein einer Tränkung mit Emotionen und Leidenschaften anzukleben, die wiederum als reale Tränkung und nicht als wirklich täuschendes Als-Ob-Theater von Emotionen von einer getäuschten Narrengemeinde wahrgenommen wird.

Im gemeinen Urteil der lieben Menschheit besteht freilich kein Zweifel daran, daß Musik ganz eindeutig, wenn auch auf vieldeutige Weise, als Ausdruck von Gefühlen und geistigen Inhalten wahrgenommen wird, als Gefäß von Emotionen – randvoll gefüllt und täglich zu leeren. Und auf die irrende Annahme, daß dies der Zweck und Endzweck auch von Musik als Kunst sei, wollen wir uns diesmal nicht einlassen. Es genügt in unseren Tagen zu wissen, daß Musik, die unter das Fallbeil des säkularen Emotionsparadigmas gelegt wurde, eben das erleiden muß, was heute mit ihr verbrochen wird. Musik als säkulare Unterhaltungskunst, die in allen ihren Genres die Erregung von Emotionen sät und die Abführung von Emotionen erntet, muß zu einem omnipräsenten Antidepressivum und Aphrodisiakum degenerieren.

Zurück zum Geheimnis unserer Frage. Wenn Musik die Fähigkeit besitzt, Emotionen erregen und darstellen zu können, dann muß auch das primäre Material der Musik – Klang und Ton – irgendeine geheimnisvolle Fähigkeit besitzen, sich als Träger und Transporteur von Emotionen und Leidenschaften betätigen zu können.

Wir sitzen in einem Konzert oder wir stehen in einem Poppseudokonzert und von der Bühne her eilen ununterbrochen Klänge und Töne mit Schallgeschwindigkeit auf uns zu – in unser Ohr hinein, in unser Gehirn hinauf, in unseren Bauch hinab. Bevor die Klänge und Töne bei uns eintrafen, konnten sie folglich über Emotionen und Leidenschaften nicht verfügen, denn wie wir bereits durchschaut haben, verfügen Klänge und Töne nicht über Löcher und Poren, und auch nicht über Rucksäcke und Handtaschen, mit denen sie das kostbare Gut hätten transportieren können. Auch tollwütig laut erschallende Klänge und Töne sind nicht mit Emotionen gefüllte Bomben, die in uns – in Ohr, Gehirn und Bauch – explodieren, obwohl die formidable Lautstärke, zu der sich die U-Musik mittlerweile suizidal befreit hat, durchaus den Eindruck einer Kopf- und Bauchexplosion zu erwecken vermag. Aber auch bei dieser Explosions-Erweckung gilt evidentermaßen: vor der Ankunft an unserer Ohrmuschel und vor dem Aufschlagen auf unserer Schädel- und Bauchdecke war in den lauten Schällen lediglich die Wirkung einer menschenunfreundlich erhöhten Amplitude von Schallschwingungen am Werk, nicht aber irgendein Tinitus- oder Bauch- oder Kopfexplosionsgefühl vorhanden. Woher kommen die Emotionen, woher die Gefühle, woher das gewisse Etwas der Musik?

Da wir nicht faul sind, bei feinen Fragen gerissen und tief mitzudenken, um aus richtigen Vorher-Einsichten die richtigen Nachher-Schlüsse zu ziehen, entlarvt sich uns urplötzlich jetzt – spät aber doch – eine idyllische Lehre unserer Kindheit als falsch eingetrichterte Fährte: „horch, was kommt von draußen rein“, muß irgend etwas anderes oder gar nichts bedeutet haben.

Denn der von uns gesuchte Schatz kann jetzt nicht mehr von draußen rein, er kann nur mehr von drinnen raus kommen. An Innereien fehlt es uns aber nicht, nicht an Schätzen ohne Ende im Universum unseres Organismus, an Myriaden von inneren Ursachen für Emotionen und Leidenschaften, an abermilliarden Teilchen und Prozeßchen als inneren Ursachen in Ohr, Gehirn und Körper. Und wer bei so vielen Pfründen nicht fündig wird, der muß Löcher im Kopf und Poren im Gehirn mit sich herumtransportieren.

Wissenschaftlich nachgewiesen ist beispielsweise ein Gefühlszentrum im Gehirn, das mittlerweile das vor hundert Jahren ebenfalls wissenschaftlich nachgewiesene Gefühlszentrum im Nervensystem abgelöst hat. Aber auch unser Ohr ist ein Universum für sich und leider immer noch nicht zu Ende erforscht, weshalb sich unter seinen Abermillionen Teilchen und Prozeßchen, seinen abertausend Härchen und Knöchelchen gleichfalls eines oder mehrere Zentren der Erschaffung und Aktivierung von Emotionen befinden könnten. Zutiefst verborgene Plätzchen, an denen die inneren Agenten der Klänge und Töne wie Rumpelstilzchen tanzen und wie Heinzelmännchen am täuschenden Wesen arbeiten könnten, dem Zaubertrank der Klänge und Töne jene beglückenden und befreienden Leidenschaften und Gefühle beizuhexen, die nun einmal dazugehören.

Folgen wir dieser Fährte, erkennen wir sogleich messerscharf: ein Zentrum ist eines, weil es seine Peripherien durch zentrale Befehle und Prozesse – durch Legislative und Exekutive – zu Peripherien macht. Es sind also innere Zentren in uns – wo sonst? – hurtig neuronal vernetzte Materie-Zentren, die wie fleißige Zentrifugen arbeiten, um den Saft der Gefühle auszugären und als bekömmliches musikalisches Adrenalin durch die Gänge des Organismus zu verschütten.

Trifft beispielsweise ein Beethovenklang unser Ohr und Gehirn, dann ist dieses Meeting Anlaß für die zuständige Zentrale, allen Empfängern an der Peripherie Meldung und Beine zu machen, sofort auch draußen und nach draußen die entsprechenden Gefühle einzuschalten und hochzufahren. Indem aber alle Peripherie-Bewohner – ein ganzes, ein unzählbares Universum – herbeieilt, um reagierend zu agieren, kann selbstverständlich auch unser liebes Ich nicht fernbleiben und schwänzen. Egal ob sitzend oder stehend, egal ob in Schuhen oder nur in Socken, es muß herbei, um den Schatz seines Beethoven-Fasses anzuzapfen.

Zwar ist die Annahme eines Iches in den Universen von Gehirn, Ohr und Körper eine vollständig unbegründete Annahme eines Fremdkörpers; da uns aber die wissenschaftlichen Lehren von Gehirn-, Ohr- und Körperzentren als Ursachen für die Entstehung von Emotionen als Begleitkörpern von Klang- und Tonkörpern auch nur wieder von Ichen – und zwar von wissenschaftlich denkenden – gemeldet und befohlen werden, bleibt der Verdacht erheblich, daß das zugereiste Ich mehr über die Umtriebe und Eigenheiten der Einheimischen erkennen könnte, als diese jemals über sich selbst wissen werden.

Hört das Ich die wissenschaftliche Meinung, jene befehlenden Zentren pflegten bei der Bildung von Emotionen mit kaum untertriebener Lichtgeschwindigkeit zu arbeiten, um die mit Schallgeschwindigkeit auftreffenden Klänge und Töne mit Emotionen vollpacken zu können, dann ist der Spitzbube Ich einfach nicht gesonnen, an diesem Geschwindigkeitstheater teilzunehmen. Er stellt sich nicht nur, er ist und bleibt ganz und gar behäbig und stur, ein renitentes Zeitlupenwesen, das in Zeitlupe agiert, um sich von Ohr, Gehirn und Bauch nichts befehlen und nichts vormachen zu lassen. Und es ist nicht nur ein Spitzbube, es ist auch ein Lotterbube; denn wie oft hört und empfindet es nur, was es selber empfinden und hören möchte – inmitten großartigster Anlagen verhält es sich wie ein Barbar und Neandertaler.

Es gibt sogar halb- bis ganzverrückte Iche, die behaupten, unsere gesuchten musikalischen Emotionen hingen weder als Begleitgeschosse an den Klängen draußen noch als Befehlsgeschosse und an den Gehirn-, Ohr- und Bauchzentren drinnen, sie hingen weder, noch flögen sie durch Zeit und Raum. Aber selbstverständlich sind Iche dieser Art keine ernstzunehmenden Gesprächspartner, weil sie noch nicht einmal das Kleine-Einmal-Eins des wissenschaftlichen Denkens und Weltbildes kapiert haben.