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095 Die wunderschöne Schönheit

Januar 2003

Nach der schönsten seiner schönen Melodien befragt, nannte Chopin jene allbekannte E-Dur-Melodie der gleichnamig-namenlosen Etude aus Opus 10, die dem heutigen sogenannten Klassik-Liebhaber nicht als die schönste, sondern als die kitschigste aller Chopin-Melodien zu erscheinen pflegt.

Die Leidensgeschichte dieser Melodie ist bekannt: die Qualität außergewöhnlicher Schönheit wurde ihr zum Verhängnis, ihr Außergewöhnliches wurde auf den Altären des Gewöhnlichen geopfert, um dem parasitären Kult des populären Musikgeschmackes, seinem tausendfältigen Gebrauch und Mißbrauch, überantwortet zu werden.

Ehe der heutige Durchschnittshörer traditioneller Musik daher mit der Originalversion von Chopins E-Dur-Melodie bekannt wird, hat er sie bereits in unzähligen Versionen und Arrangements angetroffen, etwa als Film- und Barmusik vernommen, zum Frühstück oder Abendessen im Hotelrestaurant mitverspeist, am Radio oder von CD in unzähligen Classic-light-Versionen oder Verjazzungen verschlürft. Und daß der wahre Geburtsort der Wunderschönen der prosaische einer Klavier-Etude sein soll, vernimmt der heutige Durchschnittshörer oft nur noch als akademische Mitteilung des wissenschaftlichen Milieus.

Unser ebenso historisch gebildetes wie zugleich historistisch verbildetes Bewußtsein könnte nun angesichts dieser musikwirkungsgeschichtlichen Malaise auf den glorreichen Gedanken und leidenschaftlichen Wunsch verfallen, heroisch gegen den Strom der Geschichte, gegen den Verfallsstrom von Schönheit in Kitsch, von authentischem Inhalt in verlogene Zuckersüße, von vollendeter Form in arrangierten Schwachsinn anschwimmen zu wollen. Es müsse doch möglich sein, die reine Höhe von Chopins Geschmack und Urteil, Hören und Empfinden wieder zu erklimmen, wieder und wieder an diese heilige und unverfälschte Quelle des malträtierten Stromes heranzukommen, nicht nur um autoritäterweise dem Willen und dem Geist eines Komponisten Genüge zu tun, sondern um an dessen Freude und Genuß gleichteiligen Anteil zu gewinnen – um ein Verdorbenes wieder in der Gestalt seiner ersten und reinen Unschuld zu erblicken und zu erhören.

Wenn sogar ein ursprüngliches ästhetisches Werturteil eines Komponisten über sein eigenes Werk durch eine böse Wirkungsgeschichte bis zur Unkenntlichkeit entstellt und unnachvollziehbar wurde, dann liegt der Wunsch nahe, eine gegenläufige Wirkungsgeschichte jener wunderschönen Melodie ins Leben zu rufen, um den Schutt und Abfall, der sich über ihr aufgetürmt hat, wieder abzuräumen, und um das Ursprüngliche, das sich dem Komponisten offenbarte, wieder ursprünglich rekonstruierbar zu machen, um das Authentische wieder authentisch zu authentifizieren.

Da Chopin weder wissen noch ahnen konnte, daß seine schönste Melodie im Verlauf ihrer Wirkungsgeschichte auf die schiefe Bahn geraten würde, können wir sein Paris-Urteil weder bestreiten noch bestätigen. Denn er urteilte über eine andere, über eine nicht mehr existierende Melodie; dennoch können wir diese Aussage, daß nämlich diese bestimmte und einzelne, diese zugleich einmalig und universal individuelle Melodie, vom Komponisten als wunderschön beurteilte Melodie, heute nicht mehr in jenem Zustand existiert, in dem sie Chopin antraf, nur treffen, indem wir zugleich die bestimmten Todesarten derselben Melodie verinnerlicht haben und daher sagen können und müssen, genau diese bestimmte Melodie, die Chopin meinte und als schönste beurteilte, genaue diese und dieselbe existiert nicht mehr, weil sie nur mehr in einem abstoßenden oder verschlungenen Verhältnisleben zu den Todesgestalten ihrer ersten Lebensgestalt existiert. Wen dieser Gedanke überfordern sollte, der möge sich bei der Sache beschweren – am Schalter Musik-Geschichte.

Aber vielleicht sollten wir uns an die vielen anderen Schalter der Sachbehörde Musik wenden, um leichtere Auskunft zu erhalten, etwa an die Form-Analyse musikalischer Werke. In unserem wunderschönen Fall müßte deren Aufgabe sein und hätte schon seit jeher die Aufgabe wirklicher Chopin-Forschung sein müssen, des Komponisten ästhetisches Paris-Urteil über den Harem seiner Melodien durch das differenzierte Urteil einer ausgeklügelten Analyse der Form seiner Schönen und Wunderschönen zweifelsfrei zu bestätigen und wissenschaftlich zu beweisen. Endlich einmal wäre das zwielichtig-prekäre Wort „wissenschaftlich bewiesen“ vom Widerschein eines höheren Vernunftsinnes durchleuchtet gewesen, weil die Urteils-Autorität eines Menschen, der immerhin der Schöpfer schönster Werke war, als Imperativ aller formalen Voraussetzungen und Ziele der formalen Werk-Analyse hätte dienen müssen und können. Chopin, das war doch wer, dessen Wort folglich zu folgen, sich auch musikwissenschaftlich gelohnt hätte; freilich mit dem wunderlichen Ergebnis, daß der formbegründete Beweis des Musikalisch-Wunderschönen nur die Platitüde des historistischen Verstandes bestätigt hätte, daß nämlich auch die schönste Musik immer nur von Menschen gemacht wird, von sogenannten Genies, womit wieder einmal bewiesen worden wäre, daß wir das wirkliche Wesen der Wirklichkeit auch von Musik, den Ursprungsort ihres eigenen absoluten Phantasierens zu einer eigenen absoluten Wirklichkeit und Geschichte, niemals durch „wissenschaftliches“ Beweisen auch nur annähernd berühren werden.

Oder wir wenden uns an den Schalter der Historischen Aufführungspraxis, um ein originales Instrument Chopins anzuheuern, das uns unwiderstehlich an die reine Quelle des verdorbenen Stromes der wunderschönen Schönheiten zurückfahren soll. Mit ein bißchen Mithilfe durch Einbildung, etwa durch das Einlesen in die Biographien und vor allem in die intimen Briefe und Tagebücher jener Baroninnen und Prinzessinnen, die den Komponisten als Anregerinnen seiner Melodieergüsse bewegten, könnten wir vielleicht schon eher als gedacht wie ein Doppelgänger des Komponisten an der Quelle erscheinen. Wie durch Zauberhand wären uns die Ohren und Gemütsbewegungen Fryderyks wieder an- und eingewachsen, und wir könnten endlich verstehen, warum die längst abgetakelte Fregatte seiner E-Dur-Melodie dereinst als wunderschöne Fregatte das Meer der Musik jungfräulich betörend befuhr.

Daß vor allem Musiker in diesem Modell einer Zeitreise von der Geschichte der Musik träumen, beweist ihre Lieblingsvorstellung von Musik als wiederholbarer Aufführungsgeschichte: sie möchten am liebsten als Fliege oder Maus nochmals anwesend und zuhörend sein können, wenn Bach, Mozart, Beethoven oder eben Chopin das eigene Werk musizieren; denn als Fliege oder Maus wäre uns garantiert, der menschlichen Geschichte des Hörens von Musik entschlüpft zu sein. Als geschichtslose Tiere könnten wir hören wie geschichtliche Menschen dereinst hörten. Ein witziger Traum, der uns das Denken und Wünschen der Träumenden durchsichtig macht.

Aber vielleicht ist die Geschichte der Musik wirklich nur ein Traum? Und ein wirklicher noch dazu, was will man mehr? Gilt das unerbittliche Gesetz, daß auch die schönsten Werke der Musik nicht unabhängig vom Hören der Musik präexistieren, folglich nicht unabhängig von der geschichtlichen Veränderung des menschlichen Hörens von Musik – dann gibt es keine Werke als solche, kein Ansichsein der Werke, das sich selbst hörte, keine ‚ewige E-Dur-Melodie’, der die Eigenschaft wunderschöner Schönheit zugesprochen werden könnte, und Chopins Urteil wäre so vergänglich und nichtig wie alle seine Musik vergänglich und nichtig wäre. Mit dem Verfall des Hörens von Musik würde auch alle Musik, auch die vollendetste und schönste mitverfallen. Woher wissen wir, daß das Gegenteil wahr und wirklich ist?