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096 Die ewige Verjüngung

Januar 2003

Lesen wir heute in den Ruinen der Musikphilosophie Ernst Blochs, erkennen wir unschwer, daß dessen Utopieästhetik einer sich stets und unaufhörlich verjüngenden Kunst und Musik lediglich als Zusatzideologie der ökonomisch-politischen Ideologie des Marxismus sinnvoll erscheinen konnte. Nur unter dem marxistischen Verhängnis eines falschen, nämlich naturwüchsig gedachten Begriffes von Freiheit und Geschichte der Menschheit konnte die dem bürgerlichen Expressionismus entliehene Vorstellung einer ewig sich verjüngenden Kunst und Musik den Schein einer untrüglichen Wahrheitsattrappe erwerben.

Verjüngt sich nämlich Etwas, muß es in seiner Verjüngung zugleich dasselbe Etwas bleiben, widrigenfalls ist es die Verjüngung oder Geburt eines anderen Etwas, nicht aber die des sich verjüngenden Etwas. Könnte sich daher der Begriff des Musikalisch-Schönen stets und unaufhörlich zu einer neuen Musik neuer musikalischer Schönheit verjüngen, weil etwa in jeder Generation wiederum neue Genies neuer schöner Musik erwachten, so müßten auch diese Genies stets nur die Verjüngung eines und desselben Urgenies von Musik sein – und das „Wunder“ wäre vollbracht, eine „stets und unaufhörlich sich verjüngende Kunst und Musik“ denken zu können. Denn im Verjüngen des Etwas bliebe die Identität des verjüngten Etwas unangetastet – eine sich ewig gleichbleibend verjüngende Musik – ganz wie in der Natur und deren Gattungen, deren jeweils junge Generationen die alten Generationen ablösen, auf daß sich die Gattungen und Arten in ihren Neugeborenen verjüngen – eine „ewige“ Verjüngung, die gleichwohl nicht mit wirklicher „Ewigkeit“ oder gar „Unsterblichkeit“ sollte verwechselt werden.

Über ein ewig sich verjüngendes Etwas verfügt daher die Natur, solange identische Gattungen und Arten ihrem Wesen zugrundeliegen, denn allein an der Meßlatte dieser substantiellen Identität kann ermessen werden, ob sich etwas verjüngt oder nicht. Wenn sich daher neuerdings ein Heer skrupelloser Unsterblichkeitsmediziner mit teuflischem Begehren auf den bestschlechtesten Weg begibt, ein Heer von geklonten homunculi zu züchten, dann wird der Prozeß einer gattungsgemäßen Verjüngung beendet und einer maschinell wiederholbaren „Ewigkeit“ und „Unsterblichkeit“ zugeführt, einer denaturierten Natur, einem selbstgewählten Tod der bisherigen Gattung von Mensch. Der geklonte homunculus wird um seine Natur, die bisher kontingenter Bedingungsgrund seiner Freiheit war, betrogen und mit einer nichtkontingenten Gattungsnatur gefesselt; folglich wird er, der natürlichen Grundlage von wahrer Freiheit und Geschichte beraubt, nicht nur das Menetekel einer um ihre Freiheit und Geschichte beraubten Menschheit.

Da die Verjüngungsidee in der Geschichte der Musik ohne Fortschrittsidee nicht zu haben ist, weil jene ohne diese in eine Naturgeschichte eines sich wiederholenden Geistes von musikalischer Freiheit regredieren würde, statt vielmehr eine wirkliche Befreiungsgeschichte des musikalischen Geistes in und an seiner Natur zu ermöglichen, muß die marxistische Utopieästhetik beim gestandenen bürgerlichen Musikhistoriker und Musiker auf erstauntes Nichtverstehen stoßen. Das Wort „Teleologie“ fürchten diese wie der Teufel das Weihwasser.

Allerdings – eine endlose Teleologie, von was es auch sei, ist selbstwidersprüchlich und sinnlos. Musik, deren wahres Wesen und vollkommene Vernunft und Geistigkeit, Freiheit und Wahrheit immer nur in der Zukunft zu erwarten wäre, wäre einer Vergegenwärtigung nicht wert und würdig. Daher wähnt unser historischer Verstand sein historistisches Schäfchen im Trockenen, indem es ihm zutraulich einblökt, es sei gut und wahr, daß er mit gleichliebendem Eifer alle Epochen und Arten der Musik zu lieben und zu vergegenwärtigen gedenke. Denn jede Art und jedes Werk der Musik sei zuletzt und zuerst nur Ausdruck ihrer Epoche und deren Gruppen und Individuen; und nur dadurch wahr und gut und schön; und darüberhinaus gäbe es keine Wahrheit von und für Musik. Auch was an sogenanntem Zeitlosen in der Musik erscheine, verdanke sich nur jenen Referenzgründen von Epoche, Gruppe und Individuum, von Gesellschaft, Elite und Genie, und dies in jeder Epoche auf deren Weise, und jede Weise sei in und durch ihre Art und Epoche so gut und wahr und schön wie jede andere.

Dieser egalitäre Mulitepochalismus erregt jedoch wiederum das äußerste Mißbehagen im Verständnis unseres menschheitserregten Utopisten, weil der Sinn einer Sache und Praxis, der in jeder Epoche und in jeder Gesellschaft immer schon erreicht sei, eine menschheitliche Anstrengung und revolutionäre Entwicklung weder lohne noch als Preis und Anerkennung den menschheitlichen Ruhm eines unsterblichen Gedenkens und Vergegenwärtigens verdiene. Allerdings – als bloßes Spiel der Epochen mit sich selbst wäre die Musik unvermögend, als Organon ihrer Wahrheit und Wahrheitsgeschichte aufzutreten, sie wäre folglich nicht eines wahren Erinnerns und Bewährens wert und würdig – sie rangierte lediglich unter den übrigen Antiquitäten der Geschichte als deren erklingende.

Wir sehen: der marxistische Utopist von Musik und Musik-Geschichte geht einer unhaltbaren Teleologie von Musik auf den Leim; und der bürgerliche Historist geht einer unhaltbaren Historie von Musik auf eben denselben Leim. Auf denselben oder nichtdenselben?

Sehen wir nochmals zu: der Utopist legt die Wahrheit der Musik als Kunst in die durchgehend durchgängige Verbesserung und Vervollkommnung ihres Sinnes und Wertes; in eine sich stets wieder überwindende Überwindung von Epoche, Gruppe und Individuum, von Gesellschaft, Elite und Genie; in eine sich stets wieder vertiefende Vertiefung, in eine sich stets wieder überbietende Überbietung der Musik; und nur der Komponist des Genies, das verschwindende Verschwinden der Musik in der Gestalt von kurzfristig zeitlosen Werken erhaschen zu können, ist der König der Stunde, wenn auch nur für eine Stunde. Das Zeitliche der Zeit wäre das Zeitlose der Musik, das Verschwinden vergangener Musik die Geburt einer jeweils wahrhaft gegenwärtigen, wenn auch nur für einen Augenblick wahrhaft gegenwärtigen.

Warum sich Historisten ihres Lebens erfreuen, warum es eine historische Erinnerung an Musik, sogar eine musizierende gibt, muß für den überzeugten Utopisten ein Kuriosum der Geschichte, ein „ewiges“ Geheimnis bleiben; denn das musikalisch Gewesene ist das Wahre von gestern, also das Unwahre von heute und morgen; eine längst überwundene Wahrheit und Schönheit – es hat das Zeitliche gesegnet. Für den wahren Utopisten existiert der Historist nur als Fata morgana der Geschichte, als gedungener Ideologe von geschichtssüchtigen Ideologien, als Agent und Makler von mehrwertswertig verkäuflichen Antiquitäten und Nostalgien.

Der Historist hingegen lehrt uns eine Geschichte von Musik, die von Station zu Station in endlosem Kreise immer nur um sich herum schreitet und schreitet. Nicht aus dem Vergehen der Zeit, sondern aus dem Bleiben der Zeit muß der Historist daher das Ewige der Musik und das Zeitlose ihrer Geschichte erklären. Die Wahrheit jeder Musik, folglich auch ihre zeitlose, könne nur aus ihrer Zeit heraus verstanden werden; wie oft hören wir diesen kuriosen Satz; nicht überwunden, sondern unter- und eingewunden werden nun die letzten Referenzgründe von Epoche, Gruppe und Individuum, von Gesellschaft, Elite und Genie. Daraus folgen die beiden Basis-Tautologien des historistischen Erklärens der Zeitlosigkeit zeitloser Musik: sie sei umso zeitloser, je getreuer sie ihre Zeit ausdrücke, und derselbe Satz individuell gewendet: sie sei umso zeitloser, je genialer ein Genie sich selbst ausdrücke und dadurch seine Zeit hinter sich lasse. – Und für den Historisten ist der Utopist ein bizarrer, ein halb verrückter, weil stets nur fortfliegender Schmetterling im Garten der Musik.

Utopist und Historist führen uns also beide dieselbe erscheinende und nur erscheinende Geschichte und daher tautologische Geschichte vor – eine den wahren Wesensgang der Musik unterschlagende Geschichte der Musik; einmal in der Gestalt des Vergehens, das anderemal in der Gestalt des Bleibens. Für den wahrhaft revolutionären Utopisten ist die Wahrheit der Musik und ihrer Geschichte stets nur eine Durchgangsstation, von der Furie des Verschwindens vorangetrieben, ein endloser Sturzflug in eine endlose Zukunft – die Musik ad infinitum und ad libitum auf der Suche nach ihrem unauffindbaren Wesen.

Der Historist hingegen hat an jeder Erscheinung das ganze Wesen, den in jeder erscheint ihm das ganze; an jeder vergißt er zwar die anderen Erscheinungen und so das wirkliche Ganze und den wirklichen ganzen Grund aller Erscheinungen, aber dies muß ihn nicht bekümmern, denn ihn erhellt und erhält die Freude des Augenblicks am Dasein jeder Erscheinung. Jede Durchgangsstation ist ihm Ewigkeitsstation, und so versammelt er um sich herum durch ehrenwertes Sammeln eine Gartenlaube von Gartenlauben – eine so wohlig wie die andere, eine so schön und gut wie alle anderen, man muß es sich nur einzurichten wissen.

Da er beim Wort ‚Wesensgang der Musik’ eine ungemütliche Zugluft in seine Gartenlaube eindringen verspürte, muß er dieses Wort entweder professionell überhören oder sich durch verschwiegene Selbstantwort wegerklären: es ist entweder eine Banalität, nämlich nichts als die ohnehin bekannte Geschichte der Musik; oder ein erfundenes Geheimnis, nämlich nichts als eine unwissenschaftliche Mystifikation derer, die in der Geschichte der Musik immer noch deren Gras wachsen hören.