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097 Vom Tobak

Januar 2003

Für das gemeine Denken des modernen säkularen Menschen ist es ein schier unfaßbarer Gedanke, daß in der Geschichte der Menschheit von jeder substantiellen Sache ihres universalen Geistes – so auch von Musik als Kunst – deren absolute Entwicklung als zugleich absolute Geschichte ihres substantiellen Wesens und Begriffes soll erscheinen können und müssen. Ein Gedanke, der auch dem Hausverstand unseres sogenannten wissenschaftlichen Denkens nur eingehen könnte, wenn dieser nicht mehr Verstand, sondern Vernunft geworden wäre. Daß eine überepochale und auch überkulturelle, folglich wahrhaft alle geschichtlichen Logiken von Musik überwindende und sie nur gebrauchende absolute Logik der Sache und des Geistes von Musik erscheinen könne und müsse, an der die Epochen und ihre Kollektive und Individuen als Sachentdecker und Sachbearbeiter, nicht aber umgekehrt die Epochen und Kollektive und Individuen als prima causa der Sache, als vermeintlich absolute Schöpfer partizipieren, ist daher für den historischen Verstand unseres säkularen Bewußtseins nichts als philosophischer Tobak.

Denn unhintergehbar wären folgende Prämissen. Da in der Geschichte der Musik alles und jedes ein Resultat ihrer geschichtlichen Entwicklung sein müsse, und weil niemand leugnen könne, daß das Element der stets geschichtlichen Geschichte das Element des Relativen und alles Relativierenden ist, sei auch jedes in der Geschichte der Musik erscheinende Resultat ein relatives. Nichts Absolutes unter der Sonne von Geschichte. Relativ und relativierend bedeutet aber in dieser Relation nichts weiter als die relative Einsicht, daß jede Art von Musik in ihrer Geschichte auf einen verursachenden Grund von Musik zurückgeht, der stets ein anderer und wechselnder sei, und dem folglich stets nur anders begründete Erscheinungen von Musik entlockt werden könnten.

Dieser Grundeinstellung unseres historistischen Denkens entspringt die sattsam bekannte innere Dichotomie unseres historischen Verstandes: er liest die vermeinte Relativität der Geschichte der Musik entweder nach dem Muster Alpha: Gleichwertigkeit herrsche zwischen allen Epochen und Arten und Kulturen von Musik, jede sei „unmittelbar zu Gott“; dies die ursprünglich bürgerliche Version des historischen Verstandes; oder nach dem Muster Beta: die je aktuelle und modernste Epoche, Art und Kultur von Musik sei der Höhepunkt ihrer bisherigen Entwicklung – somit die jeweilige Gegenwart neuer und neuester Musik die Vollendung des Wesens von Musik; dies die ursprünglich antibürgerliche –„avantgardistische“ – Version desselben historischen Verstandes. Beide Versionen stehen zueinander in einem umgekehrten Proportionsverhältnis, die Verrücktheit der einen wird in der Widerspiegelung der anderen einsehbar.

Nehmen wir beispielsweise die Entwicklung von Mehrstimmigkeit als basaler Eigenschaft von Musik als Kunst. In ihrer abendländischen Entwicklung sind uns deren Epochen nicht unvertraut, und was an diese Entwicklung in den außereuropäischen, aber auch in den volksmusikalischen Kulturen Europas und der ganzen Menschheit erinnert, kann in ihren Entwicklungen rekonstruiert werden. Der historische Geist des kulturrelativistischen Standpunktes wird uns nun angesichts dieser Rekonstruierbarkeit das Märchen einer Gleichwertigkeit aller Mehrstimmigkeiten aller Musiken aller Kulturen nicht nur, sondern auch das Märchen einer Gleichwertigkeit aller Epochen der mehrstimmigen Musik innerhalb der europäischen Entwicklung erzählen. Dieser Märchengeist resultiert notwendigerweise aus den genannten Prämissen des historisierenden Verstandes; sein geschichtliches Relativieren aller Resultate von Musik muß notwendigerweise auch dieses sein Relativieren relativieren und daher vernichten, ohne daß aus dieser unbemerkten Selbstvernichtung eine positive Lösung des Problems hervorgehen könnte. Unter der Sonne der Geschichte wäre somit alles in gleicher Weise relativ und dadurch ebenso absolut relativ wie zugleich relativ absolut. Das geschichtliche Relativieren ist sein eigenes Aufheben und Vernichten und das Vernichten des Relativierens hebt sich gleichfalls wieder auf – es vernichtet sich, um sich zu wiederholen, es wiederholt sich, um sich zu vernichten – von Augenblick zu Augenblick – wie der Tiger in seinem Käfig hin und her wandelt, um hin und her zu wandeln.

Die Entdeckung, Erzeugung und Entfaltung eines musikrationalen Schließens von mehrstimmig geführten musikalischen Stimmen setzte an der Schwelle zum 12. Jahrhundert den Beginn einer nicht nur eigenständigen, sondern einer schlechthin universalen, also absolut logischen Entwicklung von Musik in Bewegung; – eine einmalige Geschichte von Musik erhob sich, die nicht nur nicht wiederholbar und nicht überbietbar sein kann, sondern auch nicht ihresgleichen haben kann, da ihre Einmaligkeit den Doppelsinn von Einmaligkeit vollkommen realisierte: an ihrer absoluten Sinnerfüllung von Musik als Kunst kann nur jemand zweifeln und rütteln, der nicht mehr bei (ihren) Sinnen ist.

Am Beginn des 12. Jahrhunderts komponiert und musiziert die abendländische Musik-Geschichte noch hauptsächlich in den Bahnen einer Mehrstimmigkeit, die sich in Oktav-, Quint- und Quartparallelen bewegt und in der Regel im Einklang oder Oktavklang schließt. Aber eben zu dieser Zeit entsteht erstmals eine rationale Zweistimmigkeit, die sich in gegenläufigen Stimmen zu einem Discantus-Satz profiliert; und schon aus der Mitte des 12. Jahrhunderts sind uns Notationen dieser auch den Rhythmus mitnotierenden Discantus-Sätze überliefert: Notre-Dame. Kaum ein halbes Jahrhundert später belegen Quellen den revolutionären Erstsprung in die drei- und vierstimmige Komposition, die immerhin schon den Quint-Oktavklang als Schlußklang in ihre Schlußklauseln einlegt. Wiederum ein halbes Jahrhundert später, und die Diskantuslehre hat sich zu einem veritablen Contrapunctus mit akzeptierter Parallelkadenz, mit immer noch verpönter Terz, gemausert. Es folgt um 1400 die Oktavsprung- und Quintfall-Kadenz, und mit Dufays frühen vierstimmigen Werken eine entsprechende vierstimmige Kadenzform mit dominierender Quintfall-Kadenz, der sich dann in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Quartfall-Kadenz anschließt. In dieser ersten – mittelalterlichen – Entwicklungsstufe der ratio von Mehr-Stimmigkeit konnte keine Teilstufe vor der anderen betreten, kein Gesetz und keine Regel vor den vorhergehenden entdeckt, und selbstverständlich auch kein Stil und keine Gattung von Musik ad libitum erfunden und durchgesetzt werden, jede Gestalt war stets eine zugleich sachnotwendige Überwindung und positive Aufhebung ihrer Vorgängergestalt.

Ein universaler Satz von Stimmen ist daher in seiner absoluten Genesis von ihrer empirischen Erscheinungsweise und kontingenten Bedungenheit genau zu unterscheiden; und ohnehin von dem, was wir heute nach Belieben unter einem „musikalischen Satz“ verstehen und daher nicht mehr verstehen. Notwendige Gesetze entstehen empirisch wohl, um die Not der Geschichte zu wenden, aber sie entstehen als Gesetze nicht aus dieser Not der Geschichte.

Bestritte aber der historische Verstand die logische Notwendigkeit in dieser Entwicklung zu universalen Kontrapunkten und Harmonien, weil doch eine Fülle ganz anderer Formen und Formeln stets und immer zur Verfügung gestanden wäre, weil folglich auch die damaligen Komponisten und Epochen bereits ganz anders hätten entscheiden können, nach ihrem Belieben und Privatphantasieren nämlich, dann outet unser historischer Verstand lediglich die Rückprojektions- und Verbeliebigungsfähigkeit seines modernen und zugleich historistischen Denkens, nicht aber eine universale Einsichtsfähigkeit in die Sache und ihre Geschichte. Er hat nicht verstanden, was es bedeutete und wessen es bedurfte, den welthistorischen Auftrag zu erfüllen, eine wahre und absolute Geschichte der Musik als erstmals und letztmals autonomiefähiger Kunst in diese Welt zu offenbaren. Und daher kadenzierte auch die universale Geschichte der absoluten Kadenz nur einmal durch das relativierende Element der Geschichte von Musik hindurch.

Das Absolute der Musik, hier andeutungsweise im Gebiet einer rational stimmigen Mehrstimmigkeitsbildung verfolgt – als eine Stufe der absoluten Stimmen-Rationalität des Wesens von Musik – hatte die Weisheit und die Kraft, die Relationen des Relativierenden, die an sich unbegrenzte Vielfalt von Möglichkeiten im Reich von zu führenden Stimmen, so auf sich selbst zu beziehen, daß die Relativität zu einer absoluten aufgehoben wurde. Es geschah in absoluten Beziehungen einer wirklich absoluten Relativität, daß wir absolut rationale Musik komponieren sollten und immer noch musizieren und hören können. Absolut rational sein ist daher auch in der Musik mehr als „magisch“ oder als „genial“ oder als sonstwie „auserwählt“ sein. Und es ist heute nur mehr in seinem absoluten – vollendet erfüllten und zu Ende geführten – Gewesensein zu haben und zu sein.