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098 Zwei Preisfragen

Januar 2003

Hören wir eine Kadenz als Kadenz, weil sie uns als Kadenz anerzogen wurde und daher als Kadenz vertraut ist, oder hören wir sie als Kadenz, weil sie uns objektiv zwingt, sie als Kadenz anhören und vollziehen zu müssen? Oder schärfer gefragt: ist das Hören der Kadenzfähigkeit einer Akkordfolge lediglich die kollektive Projektion einer kulturell eingeübten Anerziehung, oder ist das Hören der Kadenzfähigkeit einer Akkordfolge vielmehr die objektive Konsequenz einer objektiven Konzeption von gesetzmäßig schließenden Akkordtönen – die uns daher zur Anerkennung und Anhörung von deren objektiver Schlußfähigkeit zwingt? Sind es lediglich Hörgewohnheiten, die zur musikgeschichtlichen Institutionalisierung von gewohnheitsmäßigen Kadenzen führten, oder sind es Kadenzgesetze, die zur Institutionalisierung von kadenzgemäßen Hörgewohnheiten führten?

Wer soll hier Antwort wissen? Der Musiker? Unmöglich – da er als erster Vollstrecker der Hörgewohnheiten seiner Musikkultur nur deren erstes Opfer ist. Der Komponist? Unmöglich – da er als primärer Erfinder neuer Musik stets nur der gewohnheitsmäßige Durchbrecher neuer Gewohnheiten ist. Der Musikhistoriker? Unmöglich – da er als historisch Denkender allen nur möglichen Hörgewohnheiten, die in der Geschichte der Musik wirklich werden, die nämliche Reverenz wissenschaftlicher Anerkennung zu zollen hat. Der Akustiker? Unmöglich – da seinem naturwissenschaftlichen Forschen die stets wechselnden Launen und Lüste der musikalischen Hörgewohnheiten nicht naturobjektgemäß serviert werden können. – War die Frage vielleicht falsch gestellt? Nur weil sie niemand beantwortet?

Spielen wir heute dem vorletzten oder letzten authentischen Steinzeitindianer, dem wir in den letzten Dschungelreservaten dieser Welt nochmals begegnen, eine vollkommen authentische Akkordkadenz vor, und erzählen wir ihm von den sagenhaften Eindrücken, die wir dabei erleben – welche Kraft etwa der dominierenden Dominante innewohne, sich von der Tonika wegzuheben, dieser jedoch eine entgegengesetzte tonikale Kraft, um die widerständige Dominante stets wieder zur Tonika zu bekehren und heimzuführen, dann wird er mit verständnislosem Staunen in unseren Augen nach einer Erklärung suchen. Er wird nicht verstehen, wovon wir reden, weil für ihn nicht wirklich ist, was für uns wirklich ist. Umgekehrt wird er uns höchst beredt von den sagenhaften magischen Wirkungen der Rhythmen und Gesänge seiner Musik zu berichten wissen, und diesmal werden wir die Unehre haben, verständnislos dreinzuschauen, weil für uns nicht wirklich ist, was für ihn wirklich ist.

Mehrere Jahrhunderte leistete sich die abendländische Musikkultur den Luxus der undurchschauten Naivität, an eine Naturgesetzlichkeit der Musik in allen ihren Elementen, also auch der Kadenzbildung zu glauben, und diese vermeintlichen Naturgesetze als „wissenschaftlich“ beweisbare vorführen zu können. Und noch heute können wir am Aberglauben derer, die beispielsweise die Obertonreihe als Cherub und Cherubim für Konsonanz und Harmonie anhimmeln, das Kainsmal eines gewohnheitsmäßigen Nachplapperns an nichtdenkenden Stirnen erkennen.

Seit dem 20. Jahrhundert müssen wir jedoch nicht mehr ins Außereuropäische auswandern, um einzusehen, daß auch die Gründe und Gesetze der abendländischen Musik-Kadenz nicht irgendwelchen Naturgründen abgejagt wurden. Da wir mittlerweile über eine ganze Heerschar nichttonaler Musik verfügen, die uns mit allen nur möglichen Klang- und denatürlichen Tonfolgen beglückt, um uns zu ganz neuen Hörgewohnheiten zu verführen, erübrigt sich das Forschen und Suchen nach musikalischen Naturgesetzen, an die sich angeblich jede Musik erstens eigentlich immer schon gehalten hätte und daher angeblich zweitens jede künftige Musik sich für immer auch weiterhin halten werde.

Daher denken wir neuerdings postmodern entschränkt: soll doch musikalisch jeder mit seiner Gewohnheit glücklich werden, was soll’s, wenn’s kein verbindliches Sollen mehr gibt? Jeder züchte sich seine Natur und sei mit ihr natürlich. Wie viele Zwölftonapostel versuchten noch vor kurzem ihre Schäfchen zur aberwitzigen Lehre zu bekehren, unser Ohr, was immer das sein möge, sei, wodurch immer auch es geschehen möge, darauf getrimmt, nach dem 10., spätestens aber nach dem 11. Ton der 12-Tonreihe zu kommunieren, daß sich die eherne Kette der zwölf Aposteltöne zur authentischen Ganzheit schließe.

Was soll nun geschehen mit unserer unbeantworteten Frage? Sollen wir sie stehen lassen, weil sie uns nicht mehr befragt und unser heutiges musikalisches Tun und Lassen angeblich nicht mehr berührt?

Um herauszufinden, „wie prägend Hörgewohnheiten selbst für Erwachsene sind“, führt die moderne Musikpsychologie, gewohnheitsmäßig von der letztaufklärenden Erkenntniskraft von Test und Testen durchdrungen, ihren Versuchskaninchen die verschiedensten Kadenzkaninchen vor. Während die Versuchskaninchen nach Alter, musikalischer Bildung und wechselnder Kulturzugehörigkeit unterschieden sind, werden die Kadenzkaninchen nach ihrer Epochenzugehörigkeit unterschieden, ausgewählt und vorgeführt.

Und schon wird beweisbar, was bewiesen werden soll: daß wir im Zirkel unserer Erziehung deren jeweils Anerzogenes und Anzuerziehendes für Wirklichkeit nehmen – eine Kadenz als Kadenz erfahren. Da aber sowohl die angeführten Unterschiede der Versuchskaninchen wie auch die angeführten epochalen Differenzen der Kadenzkaninchen erstaunlich unterschiedliche Beurteilungen und Testergebnisse zu Tage fördern – eine unerhörte Uneinhelligkeit sondergleichen über die wirkliche Stimmigkeit des Kadenzierens von Kadenzen – bleibt die Frage, ob diese Differenzen der Bewertung des Wertes von Kadenzen lediglich der Eingewöhnung von Gewohnheiten oder einer nichtgewöhnlichen Geschichte der Traditionsbildung von Kadenz anzulasten ist, durch die Inszenierung auch des Testes aller Teste unbeantwortet und unbeantwortbar. Denn für den empirischen Erforscher und seine Teste der Musik und Musik-Geschichte steht immer schon fest – anders wäre er nicht Empiricus – daß sich letztlich jede Traditionsbildung mit und an musikalischen Elementen und Grundgestalten einer Einbildung und Anerziehung von Anerzogenem verdankt. Die Geschichte der Kadenzbildung als höchst differente Eingewöhnungsgeschichte von höchst differenten Kadenzgewohnheiten. Pech gehabt, die Eskimos wurden glücklich auch ohne authentische Kadenz, wir aber mußten uns Gewohnheiten einzüchten, um uns ohne ewigen Schnee und Eis nicht allzusehr langweilen zu müssen…

Es kann nicht ausbleiben, daß der testierende Musik- und Hörpsychologe der Resultatlosigkeit seiner Testresultate ansichtig wird; und an diesem Punkt seines Scheiterns versucht er noch heute in den wissenschaftlich gezeugten Mythos von such- und findbaren Naturgesetzen der Musik zu fliehen; und erst wenn er dies unterläßt, weil stets länger schon nicht gefundene Gesetze zu den immer weniger glaubwürdigen Moden unter den wissenschaftlichen zählen, ist er bereit und fähig, mit entwaffnender Offenheit einzugestehen, daß er nicht wisse, „warum Musik so und nicht anders ist“.

Da leider bisher nicht stattgefunden habe, was hätte längst stattfinden müssen, um diese Frage zu beantworten, nämlich die „Erkenntnisse der Musikgeschichtsschreibung mit denen der Hörpsychologie zu verknüpfen“, so stünde mithin die „Musikwissenschaft heute, nach einer rund zweieinhalbtausendjährigen Geschichte“, immer „noch ganz am Anfang eines angemessenen Verständnisses der Musik“ – der aber „ist vielversprechend.“ Die totale Bankrotterklärung als Erklärung eines totalen Aufbruchs, zu dem seit über zweitausend Jahren nicht aufgebrochen wird.

Wenn nur dem großen Vater Staat diese Beichte nicht zu Ohren kommt. Seine Regenten und Räte könnten sich auf den bewährten Gedanken besinnen, daß in dieser Welt noch jedes Vergnügen seinen Preis fordert; es könnte mehr als genug sein, über zweieinhalbtausend Jahre sein gutes Geld vergeblich und unnütz an eine Wissenschaft verschleudert zu haben, die nichts als nichts erbracht hat; und somit wäre es endgültig an der Zeit, daß sich eine Wissenschaft, die über sich und ihre Sachen wirklich begreifend entweder nicht nachdenken will oder nicht kann, ihr ungewöhnliches Vergnügen aus der eigenen Tasche bezahlt.