011 In der Höhle
Juli 2000
Ein musikalisches Motiv sei der kleinste Teil eines musikalischen Themas, teilen uns noch heutzutage alle Handbücher der musikalischen Formenlehre mit. Selbstverständlich im Ton des allwissenden Schulmeisters, dessen Botschaften wir gemeinhin nicht zu bezweifeln wagen, weil wir uns damit dem Frevel aussetzen, Lehrsätze von scheinbar vollkommen klarer Rationalität als ihr genaues Gegenteil spitzbübisch entlarven zu wollen. Was so unwidersprechlich klar und logisch daherkomme, unken böse Buben, das sei, bei Licht und Vernunft besehen, nichts weiter als ein sybillinisch dunkler Ausdruck über ein mit den Mitteln der Verstandeslogik undurchschaubares Wesen von musikalischer Logik. Verhalten wir uns daher zunächst wie gehörige Schüler, brav und bereit, dem Spaß der Schulmeister zu folgen und das lernplanmäßige Spielchen mitzuspielen. Kinderleicht lassen sich sogleich aus dem vorgekauten definitorischen Ur-Reim über das Verhältnis von Motiv und Thema alle weiteren Reime folgern, mit nicht mehr Aufwand an Intelligenz als wir zur Ausführung der terzenden Urmotivfolgen im universalen Thema von <Hänschen Klein> benötigen.
Als Teil seines Ganzen ist das Motiv eines Themas Teil, das seinerseits als Teil höherer Ganzer und zuletzt der Musik selbst, die bekanntlich etwas Sinnerfülltes ist – wie wir doch sehr hoffen – als sinnsetzende Ursache für die kleinste Sinneinheit Motiv fungiert. Es scheint daher zunächst ein aussageerfüllter Satz zu sein, wenn wir hören, daß sich ein Thema aus Motiven zusammensetze; in der Tat tut sich das Motiv die Mühe an, sich zu wiederholen und zu verändern, wiederzukehren und konträr zu teilen, um aus dieser Teilung seiner selbst das begehrte Thema als gesuchtes Ganzes hervorzubringen. Grenzenlos ist nun unsere Bewunderung für die Kraft gewisser Motive, gleichsam durch Ur-Teilung von Ur-Motiven, Themen und deren musikalische Gestaltung in die Welt der Musik zu setzen. Aus einem Ur-Motiv müsse jeder Satz und jedes Werk hervorgehen, lautete nach Beethovens Tod das ungeschriebene Gesetz aller Kunstmusik, die als absolute Musik Anerkennung finden wollte.
Doch peinlicherweise will das Thema gleichfalls eine tätige Ursache, ein selbst verursachendes Ganzes sein, somit ein durch sich selbst wirkendes Ganzes, eines, das folglich mehr sein muß als die Summe seiner Teile, ein Thema, das mehr sein muß als die mitgeteilte Mitteilung seiner Motive. Kraft seines Mehrwertes als wirkender Ganzheit ist das Thema daher gleichfalls ein Ur-Wirkendes, eine ursprüngliche Einheit, die kraft eigenen Ursprungs und mittels eigener Urkraft sich teilt und ihren Teilen und Motiven mitteilt. Das Prinzip, nach und in dem sich Motive teilen, kommt insofern aus der Kraft und Idee des Themas, und wenn daher das Motiv seine Teilungen und Mitteilungen beginnt und durchführt, ist das Thema als wirkendes Ganzes immer schon da, und kein Zweifel ist darüber möglich, wer hier den Igel, und wer den Hasen macht. Unser Respekt vor der Kraft des Motivs ist nun merklich abgekühlt, denn jetzt wissen wir nicht mehr so recht, sollen wir das Motiv noch bewundern oder eher bemitleiden, denn gleichzeitig wird es wohl nicht Herr und Knecht, nicht Ursache und Wirkung seines Themas sein können. Doch wird unsere Bewunderung für die Urkräfte des Themas gleichfalls abkühlen, wenn wir den Finger auf den wunden Punkt ihres Wesens legen, denn ohne Motive besteht das Thema nur als leeres Konzept, als reines Nichts, obgleich mit dem Willen erfüllt, sich in und durch Motive zu realisieren. Offensichtlich ist das Thema ein merkwürdiges Wesen, das erst durch sein Erscheinen als Erscheinung zum Wesen wird, während zugleich die Motive nur durch ihr Verschwinden in ein Wesen, das als Ganzheit fungiert, obwohl es für sich gar nicht existiert, als Motive erscheinen können. Beide verschwinden daher, indem sie erscheinen, beide erscheinen, indem sie verschwinden. Beide sind für sich ein reines Nichts und miteinander eine umzirkte Welt von Musik – wie soll das möglich sein? Aus Nichts wird Nichts, wurde uns doch als Kleines Einmal Eins der Logik beigebracht.
Man kann natürlich versuchen, diese paradoxe Seite des Verhältnisses von Motiv und Thema im Sinn einer Schulmeisterlogik virtuos zu Ende zu reimen. Es liege nichts Geheimnisvolles darin, daß ein Thema aus Motiven bestehe, denn indem das Thema aus Motiven hervorgehe, gehe es zugleich aus sich selbst hervor: das Thema bestehe konstitutiv aus Motiven, regulativ aber aus dem Geist des Ganzen, der überall und nirgends sei – ähnlich der originären Kraft des Mittelpunktes in einem Kreis, dem alle Punkte der Peripherie ihren glänzenden Auftritt als Kreislinie verdanken, obwohl der Kreismittelpunkt nicht als ausgedehntes Etwas existiert. Warum aber soll der Kreismittelpunkt nicht gleichfalls konstitutive Wirkung und inhaltschaffende Erzeugungskraft besitzen? Zwar existiert er nicht materiell, aber seiner Macht, den unendlichen Raum fernhin zu durchwirken und begrenzend zu umzirken, verdankt die Peripherie der Kreislinie nichts weniger als ihre Existenz. Kein Ei ohne Henne, keine Henne ohne Ei, lautete immer schon die Weisheit des Spitzbubenvereins Philosophie.
Damit hier nicht der Eindruck entsteht, es gehe um philosophische Trapezakte einer Theorie von Musik im luftleeren Raum, stelle man sich aus der Geschichte der Fuge, nach deren Emanzipation von den vokalen Sakralformen, die Evolution ihrer Themengestaltung in den Stationen von Buxtehude, Sebastian Bach, Reger und Hindemith, aus der Geschichte der Sonate die Stationen von Emanuel Bach, Haydn, Beethoven und Skrjabin vor, und allenfalls noch einige Stationen aus der seit dem 19. Jahrhundert siegreich mitlaufenden Unterhaltungsmusik und deren Formgattungen, die nicht nur im Jazz auch als instrumentale Gattungen weltpopuläre Anerkennung genießen.
Das musikalische Motiv hat also eine Funktion nach oben, für sein nächstliegendes Ganzes, indem es Teil seines Themas sein darf und kann, und insofern ist es letztlich nur zu bemitleiden, denn es muß sich nach der Decke jener Zwecke strecken, die das Thema im höheren Ganzen eines Werksatzes ausführen soll.
In Kompensation dazu darf das Motiv nach unten den Herren spielen und Zweck seiner selbst sein, denn als Sinneinheit ist es selbstverständlich eine gestaltete Form-Einheit, und ein Inhalt dieser großartigen Art ist in unserer sterblichen Welt nach Adam Rieses Logik nur möglich als formierte Materie und materialisierte Form.
Hänschen Klein führt uns dies unvergeßlich vor: er nimmt die Materialien von Metrum, Rhythmus und Tempo, verbindet deren individuelle Synthese zu einer individuellen Einheit, holt sich aus den Pfründen von Harmonik und Melos eine ihm entsprechend scheinende Synthese und verbindet diese beiden Synthesen spontan und wie in traumerfülltem Schlaf zu einer individuellen Supersynthese, die man daher wohlbegründet mit dem kühnen Wort Melodie auszuzeichnen pflegt.
Hören wir daher sagen, ein Thema bestehe aus Motiven, ein Motiv aus seinem Material, so ist dies eine schulmeisterliche und nichtssagende Weisheit, denn das Gegenteil gilt mit demselben Recht: ein Motiv besteht nur in seinem Thema und somit aus dessen Kraft, und die Materialien bestehen als musikalische nur in ihren Motiven. Ohne diese Vereinigung zerfallen die Materialien zu vormusikalisch akustischen, die Motive zu Radio-, Telefon- und Handy-Signalen. Im Verhältnis von Motiv und Material regiert also dieselbe wunderliche Dialektik von Ganzem und Teilen, und daher sollten wir auch die externen Parameter des Motivs nicht vergessen, um dessen Ganzheit nicht zu verfehlen; Klangfarbe und Lautstärke dürfen nie fehlen, und die Komponisten der höheren Etagen legen sogar auf die notierte Phrasierung und Artikulation ihrer Motive und Themen nicht geringen Wert, obwohl diese nicht so eindeutig zu Vorschriften fixierbar sind wie die Gestaltung der primären Parameter.
Die Rechnung unserer Schulmeisterlogik scheint glänzend aufzugehen: unversehens scheinen wir die Urformel eines autonomen Komponierens für alle Zukunft gefunden zu haben, unversehens scheinen wir erkannt zu haben, worauf die Inthronisation einer autonomen Kunstmusik nach Überwindung der mittelalterlichen Heteronomie hinauswollte.
Die Urformel läßt sich als Imperativ formulieren und als Appell an ein ewiges Ur-Genie einer in alle Ewigkeit und Zukunft autonomen Kunstmusik weiterleiten: Lege Dir ein musikversprechendes Klangmaterial auf die Palette, forme aus diesem Motive, aus diesen Themen, aus diesen wiederum höhere Ganzheiten, und fasse alles zusammen zur Ausdruckspalette für einen Inhalt, am besten für dein Innerstes selbst, denn schließlich ist es Deine Phantasie und Dein Gefühlsleben doch wert und Not, in Klängen öffentlich ausgedrückt und kundgetan zu werden.
Die stolze Gewißheit, in den Spuren dieses Appells gehorsam und erfolgreich zu wandeln, vernehmen wir noch heute schlagend, wenn uns Alban Berg in den Analysen der Musik seines Meisters und Lehrers jubelnd nachweist und mitteilt, in ihr sei jede kleinste Wendung motivisch-thematisch. Dennoch behaupteten beckmessernde Nörgler und Komponisten schon der nächsten Generation, bereits in Weberns Musik führe die allseits durchgeführte Thematisierung von Material und Form der Musik in das peinliche Gegenteil einer völligen Entthematisierung der Musik. Folglich zu einer ganz neuen und anderen Art von Kunstmusik, die sich nur noch nicht als neue Art musikalischer Autonomie und Sinnsetzung in Klängen erkennen konnte. Sollte unsere Schulmeisterlogik mit ihrem Konzept einer ewigen Kunstmusik aus der Kraft einer ewig sich steigernden Dialektik von Motiv und Thema, von Form und Material, also eines ewigen Fortschrittes im Geist autonomer Musik, eines gravierenden Denkfehlers schuldig gemacht haben? Dann muß dieser Fehler sich auch in unserem Text vorfinden, und wir haben somit die philosophische Columbo-Pflicht, jenen Satz, in dem das Verbrechen geschah, aufzudecken, und den Täter seiner gedankenlosen Gedankentat zu überführen.