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012 Vom Schicksal der Musik

Juli 2000

Ein Komponist mit dem denkwürdigen Namen Ludwig van Beethoven hat in einem denkwürdigen Werk der abendländischen Musikgeschichte die absolute Dialektik von musikalischem Motiv und Thema auf den absoluten Punkt gebracht. Auf den absoluten Punkt eines absoluten Denkens und Empfindens in Tönen, das seither nicht mehr überboten wurde und dessen Höhe und Absolutheit auch nie wieder erreicht, geschweige denn überboten werden wird. Zwar warf Louis Spohr dem Motivthema am Beginn des Kopfsatzes der Fünften Sinfonie vor, es fehle ihm die sinfonische Würde, es könne gleichsam nicht gattungsartig und stilkonform grüßen. Und nicht weniger tiefschürfend meint im kompensierenden Gegenzug dazu das große Publikum bis heute, vier Töne von solch sinnlich betörender Gewalt müßten über die magische Kraft verfügen, in Tat und Klang an die Pforte des Schicksals zu klopfen, wobei man nur allzu gern wüßte, ob von innen oder von außen, und ob an die Pforte des Schicksals der Musik oder gar an die der musikalisch befreiten Menschheit.

Kein Zweifel, das große Publikum hat an der Fünften einen Narren von Dauerliebe bis heute gefressen, weil noch der musikalisch Unbeleckteste trotz und wegen seines musikalischen Hänschen-Klein-Verstandes sogleich kapiert, daß er hier etwas musikalisch Ungeheures vorgesetzt bekommt. – Doch jenseits dieser Kontroverse um den nicht vorhandenen Bart einer Sinfonie vollzog sich früh schon in der denkenden Höhle des bürgerlichen Musikbewußtseins eine sinnvoll erregte Diskussion darüber, wie denn der Beginn dieser einzigartigen Sinfonie und diese selbst zu hören und zu verstehen sei.

Die Geister schieden sich bereits an der Frage, ob das bekannte Motivenpaar in den ersten vier Takten der Sinfonie nur als deren Motto oder schon als ihr thematischer Einsatz zu hören und zu interpretieren sei. Daß beides zugleich geschehen kann und soll, lehrt der weitere Gang des Kopfsatzes, der seinen thematischen Beginn rückwirkend bestätigt. Die Schicksalssinfonie hält sich nicht mit ehrwürdig gewordenen Begrüßungsformeln der Gattung auf, sie ist nicht so freundlich anzukündigen, daß demnächst im Klangtheater Sinfonie etwas Großes aufgeführt werde – wie etwa noch die Eroica – sie ist groß schon im Moment des ersten Auftritts ihrer Tonideen. Sie spricht sogleich vom Einswerden eines absoluten Musikdenkens mit sich selbst und daher mit einem ungeheuren und musikgeschichtlich unwiederholbaren Pathos.

Bekanntlich konzipierte Beethoven die Fünfte zusammen mit der Sechsten; jene als Inbild einer final gerichteten Handlungszeit als Ausdruck einer weltverändernden Kraft und Freiheit der Musik mit gelingendem Ausgang und daher triumphalem Finale; die Pastorale hingegen als Ausdruck einer mit der zirkulären Naturzeit versöhnten Kontemplativ- und Ritualzeit des säkularen bürgerlichen Menschen.

Jene final gerichtete Musikzeit, in der sich tonales Thema und Motiv bei Beethoven als absolute Wechselwirkung ineinanderzufügen streben, so daß das Thema als Selbstentwicklung eines einzigen Motivs zu erscheinen scheint, stieß Goethe als Äußerung eines dämonischen Musikdenkens ab und zwang Hegel zur bis heute rätselhaften Ignoranz Beethovens. – Drei einander widerstreitende Deutungen stellten sich ein, wenn die bürgerliche Musikkultur das Rätsel Beethoven und insbesondere seiner Schicksalssinfonie zu verstehen suchte. Die erste Partei erkannte sogleich, mit der Schicksalssinfonie habe die Musik als Kunst einen Vollendungsgipfel erreicht, aber auf einem singulären Vollendungsweg zugleich, die Fünfte könne daher nicht Vorbild und Muster für eine weiterhin sich steigernde Erfolgsgeschichte der Gattung Sinfonie und des absoluten Musikdenkens sein. Eingeweihte Musikforscher lehren daher bis heute, Beethoven habe den kairos der Musik in drei Musikgattungen vollbracht. Denn dank der Stilhöhe der Musiksprache seiner Zeit und dank der Kraft seiner genialen Individuation von Stil und Gattung habe sich das Endbild absoluter Musik in leiblicher Erscheinung offenbart. Die zweite Partei hätte Beethoven am liebsten als dionysischen Barbaren, der unrechtens in das schöne und fidele Reich der Musik eingedrungen sei, aus den gemütlichen und gemüthaften Gefilden der schönen Seele und ihrer seligen Ergüsse verbannt. Und an den Brüchen und Fragmentierungen, an den Reflexionen und Experimenten des späten Beethoven schien sich die These vom musikgeschichtlichen Außenseiter Beethoven nochmals zu bestätigen. Die dritte Partei aber kürte die paradigmatische Schicksalssinfonie des Beethovenschen Musikdenkens zum ersten modernen musikalischen Kunstwerk überhaupt, zum ersten Werk moderner Kunstmusik. Musik als absolute Kunst habe sich daher fortan aus einem einzigen Motiv, aus der musiklogischen Kraft eines Urmotivs zu entfalten – gleichgültig in welchem Tonmaterial, gleichgültig in welchem Stil, gleichgültig in welchem Rahmen gesellschaftlicher Musikbedürfnisse.

Im heutigen Rückblick auf die abgeschlossene Epoche der bürgerlichen Musikkultur erkennen wir daher, daß Beethovens Musikdenken mit der Schicksalssinfonie als erfülltem Paradigma seiner Möglichkeiten in Tat und Wahrheit das Schicksal der Musik als Kunst besiegelt hat. Und noch die Tatsache, daß in unseren Tagen der Diskurs über Beethovens Schicksalsbestimmung der Musik verstummt ist, bestätigt, daß wir von der bürgerlichen Musikepoche Abschied genommen haben.

Solange noch darüber gestritten wurde, in welcher Weise das Schicksal der Musik als Kunst in Gegenwart und Zukunft verbindlich und gegründet zu bestimmen, zu leiten und zu fördern sei, deuteten jene, die Beethoven als Außenseiter und Einzelfall interpretierten, die Wege Zelters, Rossinis, Offenbachs und ihrer Nachfolger als Wegbereiter einer zu erstrebenden bürgerlichen Unterhaltungsmusik, weil es die Musik insgesamt nur noch als leichte Muse verdiene, noch einmal als Ausdruck von verbindender Humanität in aller Welt Anerkennung zu finden. Jene aber, die Beethoven als Vorbild für die Moderne reklamierten, glaubten in der radikal Neuen Musik des 20. Jahrhunderts die Steigerung und Vollendung des Beethovenschen Musikdenkens und somit das Arkanum eines zu sich befreiten autonomen Musikdenkens erkennen und fördern zu müssen. Die dritte Deutung schließlich, die von einem schicksalshaften Endbild von Musik und Humanität in Beethovens Werken sprach, wurde von der bürgerlichen Musikkultur als allzu kühne Herausforderung marginalisiert, und sie ist heute bereits zu einer beinahe unverständlichen Zumutung und Überforderung der Geister geworden.

Heute begegnet uns der markante Kopfsatz von Beethovens Fünfter bereits im Kaufhaus, in einer gesampelten Orchesterfassung, um uns beim Auswählen in der Überfülle des Warenangebots nicht allein zu lassen; und bei Gedenkjubiläen zu Ehren des Komponisten wird auch dessen Fünfte zum Abschuß freigegeben, die Komponisten neuer Musik und kühn gestimmte Jazzer teilen uns beauftragt und musikalisch mit, was an Beethovens Sinfonie heute noch hörenswert sei. Frei von den Zweifeln und Selbstzweifeln des modernen Komponisten musizieren die Historischen Aufführungspraktiker ihr antiquarisches Interesse an Beethoven aus, sie übermitteln uns die frohe Botschaft eines ewig originalen Beethoven als Trost und Hoffnung im rasenden Abschied unserer Gegenwart von unserer Tradition. Doch ist Beethovens Schicksalssinfonie für Musiker und Dirigenten nur eine unter tausenden Sinfonien, und in der Perspektive der Interpreten-Ästhetik ist selbstverständlich die jeweils aufzuführende Sinfonie die beste und schönste aller möglichen.

Die manchmal noch rhetorisch beschworene „Einzigartigkeit“ Beethovens und seiner Schicksalssinfonie verkommt im Panoptikum der sich entgrenzenden Repertoires und Diskurse über alle nur mögliche Musik zur Äußerungsmarotte eines Komponisten, der sich als „Klassiker“ mißverstand und als solcher mißverstanden wurde. Schicksal und Verhängnis der Musik in ihrer Geschichte bestätigen sich auch darin: Musiker und Dirigenten müssen sich als Diener des gesamten Repertoires der Musikgeschichte aufopfern, Hörer und Veranstalter müssen sich als Konsumenten und Vertreiber aller Musikmärkte opfern – aber die Musik selbst hatte sich einst in höherem Auftrag zu opfern.