Categories Menu

013 Macht Musik klüger?

September 2000

Wer heute behauptet, Musik mache klüger, der muß mit zwei unerbittlichen Gegenfragen rechnen: welche Musik und für welche Klugheit? Denn wenn uns Musik in der Tat klüger machen sollte, dann wäre eine genaue Angabe über die Stationen dieses verborgenen Königsweges einer modernen Intelligenzbildung mehr als wünschenswert, sie wäre von einer geradezu überlebensnotwendigen Wichtigkeit für den modernen Menschen. Dieser glaubt ja immer noch, Sprache durch Sprache, Rechnen durch Rechnen, Radfahren durch Radfahren, Lieben durch Lieben und Denken durch Denken erlernen zu müssen. Die Fragen an die Vertreter einer klugmachenden Musik gehen daher sogleich unerbittlich ins Einzelne: welche Musik und in welchem Modus ihrer Existenz: etwa dem des Komponierens und Improvisierens, oder dem des weithin von Musikern gepflogenen Musizierens vorgegebener Musik, oder dem des Hörens und Zuhörens von Musik? Und auch der Klugheiten sind in der modernen Gesellschaft bekanntlich überaus viele, teils praktische, teils theoretische, teils poietische, und teils soziale und politische, um nur den Umriß der hyperkomplex ausdifferenzierten arbeits-, lebens-, und kulturteiligen Welt der modernen Gesellschaft anzudeuten.

Noch im 19. Jahrhundert finden wir in der philosophischen Ästhetik bei Schopenhauer und Nietzsche die letzten Ausläufer jener kosmologischen Konzepte eines Wesens von Musik, durch dessen Ausübung der bürgerliche Mensch sich eines direkten und höheren Zuganges zum einen und absoluten Weltgrund versichert glaubte. Neopythagoreische und universalhumanistische Ideen gingen ein letztes Mal zusammen, um zu verkünden, was längst obsolet geworden war, um schließlich im 20. Jahrhundert in der Sackgasse musikalischer Esoterik abgestellt zu werden. Der geigenspielende Einstein und der menschheitsverbrüdernde Humanitätsreden haltende Geiger Menuhin waren der Ausverkauf dieses Ausläufertums einer erloschenen Tradition.

Fragen wir daher heute nach den Möglichkeiten der Musik und des Musizierens, einen Beitrag zur conditia humana des Menschen in der modernen Lebenswelt geben zu können, helfen uns die Naivitäten der Tradition nicht mehr weiter. Musik mache besser, kreativer und nun klüger sind zu einer Meldung vom Stammtisch der Musikkultur abgesunken, deren Anspruch, nochmals das große Ganze und Tiefe des modernen Menschen repräsentieren zu können, nur mehr unter den Mitgliedern des Musiker-Stammtisches und dessen Bewunderern Zulauf finden können.

Die Unersetzlichkeit der Musik für jeden gegenwärtigen und künftigen Typus von Menschsein muß nun sowohl ohne Anbiederung an ein außermusikalisches Nützlichsein für die moderne Gesellschaft wie auch ohne die alten Universalansprüche der Musik, das Eigentliche und Wesentliche des Menschen zu sein, nachgewiesen werden. Musik existiert in der modernen Gesellschaft erstens noch immer als Ästhetikum, wo sie also um ihrer selbst willen, um ihrer eigenen Werte und Intelligenz willen, komponiert, musiziert und genossen werden soll; zweitens noch immer als Sakralium im unersetzlichen Dienst der Liturgie, obwohl sich der moderne Mensch weithin seiner eschatologischen Dimension beraubt hat; drittens und hauptsächlich als Unterhaltungsempyreum, wo Musik den säkularen Alltag des modernen Menschen permanent begleitet, um ihn am Leben und Überleben zu halten; viertens als Therapeutikum, denn niemand kann die Erfolge der Musiktherapie leugnen, durch krankheitsspezifisch eingesetzte Musik- und Musizierweisen psychisch-somatische Leiden zu heilen, und ebenso weithin den therapeutischen Mißbrauch einer Musik, die einst als ästhetische und religiöse kulturbildend war; fünftens aber und vor allem als Pädagogikum und Sozialkörper, ohne welche Kräfte und Institutionen die Bildung moderner Kollektive nach wie vor unmöglich ist; auch als Utopikum existiert die Musik noch, freilich nur mehr in den Köpfen weniger, da der politische Glaube an eine Menschheitsverbesserung und -vereinigung durch Musik anachronistisch geworden ist.

Was mag es nun sein, das an der Musik und ihrer spezifisch ausdifferenzierten Intelligenz ein Beitrag zur hyperkomplex ausdifferenzierten Intelligenz des modernen Menschen sein könnte? Vier Dinge kommen in die engere Wahl: erstens das Material der Musik, also die Welt des Klanges; zweitens die Formenwelt der Musik, also deren unendlich vielfältige Weisen, das Material zu musikalischen Praxen, Werken und Traditionen umzubilden; drittens der Inhalt der Musik, die Welt der Emotionen und ihrer spezifischen Intelligenz, die alle sozialisierten Vorstellungs- und Anschauungsinhalte des menschlichen Bewußtseins stets begleitet und umhüllt, und viertens die Art und Weise, wie Musik die Welt der Emotion artikuliert und darstellt, zum Sprechen bringt und durch Individualisierung und Kollektivierung sozialisiert.

Das Material als solches scheidet als Kandidat aus, denn nicht durch den Klang erlernen wir beispielsweise Sprache und Rechnen, noch sonst irgendeine Intelligenz und Praxis der modernen Lebenswelt. Es ist ein Irrglaube der Musikpsychologen, Kinder erlernten durch den Klang der Mutterstimme deren Muttersprache. Wohl ist kein Sprachlaut ohne spezielle Aura einer individuellen Stimme, und das große Publikum hört bis heute lieber einer schönen Sprechstimme als deren Inhalten und Argumenten zu. Aber Sprache wird erlernt nur durch deren eigene Intelligenz, nämlich Laute als Zeichen für Dinge und Bewußtseinsakte einsetzen zu können. Nur in der Musik genießt der Klang das Vorrecht, ein gleichsam mythisches, um seiner selbst willen als Medium des Ausdrucks von Klangideen und Emotionen aufs Spiel gesetzt werden zu können. Gleichfalls scheidet die Formenwelt der Musik als universaler Klugheitskandidat aus, denn Kontrapunkt und Harmonik, Sonatenform und serielle Struktur, Improvisieren und Singen helfen uns nicht, auch nur in einem einzigen Gegenstand des modernen Lebensfahrplanes dessen Pflichtstationen zu ersetzen. Bleibt also die Welt der Emotionen und ihrer spezifischen Intelligenz, und diese findet sich in der Tat in allen Intelligenzen der modernen Lebenswelt wieder, denn die emotionale Dimension ist jedem Segment der modernen Lebenswelt, sowohl in ihrer inneren wie auch in ihrer äußeren Kommunikation und Sachlichkeit, unverzichtbar beigegeben. Unersetzlich daher Musik als nonverbale Sprache dessen, was man diffus mit dem Wort Gefühl umschreibt.

Daß es zu den schwierigsten Aufgaben der menschlichen Existenz gehört, mit Emotionen verbal und argumentativ umzugehen, wird jedem Menschen spätestens nach zwei Lebensjahren auf Erden schmerzlich bewußt. Ein seiner Sprache und seines Denkens auch im oft unbewußten Reich seiner Emotionen mächtiges Bewußtsein, das sich mittels freier – also sprechender und argumentierender – individueller Selbstdarstellung in die oft hierarchischen Kommunikationen der modernen Berufs- und Lebenswelt einbringt, ist der unverzichtbare Teilnehmer jener gesuchten menschenwürdigen Gesprächskultur einer universal sozialisierten Menschheit, nach der die moderne Gesellschaft an allen ihren Fronten seit der bürgerlichen Weltrevolution unterwegs ist.

Nun wird zwar gerade Musikern nachgesagt, sie seien wohl sensibel für das Gefühlsleben der Klänge, nicht aber in gleichem Maße für das ihrer Kollegen und der übrigen Menschheit. Dennoch ist nur im Reich der Musik ein Reichtum von nonverbalen Klangartikulationen tiefster und unerschöpflicher Emotionen erfahrbar und sozialisierbar. Nicht sich verbalisieren und argumentieren, sehr wohl aber sich selbst als Universum unerhört klanggewordener Geistesempfindungen zu erfahren, dies lernt auch der moderne Mensch nur im Reich der Musik. Freilich tut sich dieser unendliche Tiefenraum eines unendlichen Reichtums heute nur mehr auf im Widerstand gegen die Standardisierung des musikalischen Gefühlslebens durch die Omipräsenz des Unterhaltungsempyreums. Daher ist Antwort gefordert auf die Frage: welche Musik soll zu welcher Klugheit klug machen?

Das Adagio aus Beethovens Hammerklaviersonate erhebt uns in Gefühlsregionen, die vergleichbar sind den Höhen von Hölderlins Lyrik; Boulez Klaviersonaten desperieren uns in eine Zersprengtheit unseres Selbstempfindens, das auch einmal erfahren werden sollte, und das dem Auftrag aller nichttonalen Musik folgt, Emotionen in ihrem prärationalen Procedere zu erfassen; eine Bachsche Invention, ihrer Substanz gemäß erfahren, euphoriert uns in eine reine Selbstbeseelung und fast transzendente Selbstkonzentration, die dann freilich auch im Mathematik-Unterricht dem gymnasialen Delinquenten der Zahlenwelt als Steigerung seiner Konzentrationskraft zustatten kommen mag – eine freilich sekundäre Wirkung eines bonum et pulchrum et verum der Musik, das wir gleichwohl Herrn Bachs und nicht Herrn Goulds Konto gutschreiben sollten; ein Popsong jedoch muß seine Hörigen phlegmatisieren und zerstreuen, auch gegen deren scheinbare Euphorisierung im Moment suggestiver Selbstbeglückung, weil ein Pop-Song seine Empfindungen, welche die aller sein sollen, nur mehr in die Musik hineinschreien, nicht mehr aus der genialen Individualisierung ihres tonalen Materials empfangen kann. Bob Dylans Klugheit könnte im musikalischen Jenseits allenfalls zu einer Karriere als Schuhputzer im Hause Bachs nützlich sein.