014 Die Zeit vergeht nicht
September 2000
Es scheint alles mit rechten Dingen zuzugehen, wenn wir die musikalischen Grundbegriffe Motiv und Thema sowohl auf tonale wie auch auf nichttonale Musik anwenden. Wir finden nichts Anstößiges an unserer Gewohnheit, von tonalen Motiven und Themen bei Palestrina, Bach und Beethoven, und von nichttonalen Motiven und Themen, etwa von frei atonalen bei Berg, streng dodekaphonen bei Webern und ausgeklügelt seriellen Motiven und Themen bei Boulez und Nono zu sprechen. Und dennoch geschieht dies nur einer gedankenlosen Gewohnheit, nicht einer sachlichen Legitimation in der so benannten Musik gemäß.
Was geschieht, ist ein naiver Selbstbetrug, der die Illusion bis heute nährt, Motiv und Thema wären übergeschichtliche Formbegriffe, die in jeglichem Material, und wäre es in den kontinuierlichen Pausen fortgesetzter Stille, Sinn und Staat machen könnten. Motiv und Thema schwebten als metaphysische Gattungsbegriffe einer ursprünglichen musikalischen Formbildung in einem übergeschichtlichen Himmel, und die verschiedenen Materialien und Stile der Tonalitäten und Nichttonalitäten verhielten sich wie gleichberechtigte und gleichwertige Arten zu diesen Gattungen. Naivität und Irrtum lassen sich aufklären, wenn wir uns nicht scheuen, den prinzipiellen Unterschied von Tonalität und Nichttonalität zu bedenken. Nur äußerlich besehen und gehört scheint nämlich eine tonale Melodie mit einer atonalen Melodie alles das gemeinsam zu haben, was zum Wesen einer Melodie als Ingredienz von Musik gehört. Näher besehen aber und gehört und daher erkannt, ergibt sich folgender Unterschied.
Der tonalen Melodie wohnt kraft der inneren Materialverwandtschaft ihrer Töne ein kreisförmiges und kugelgestaltiges Konzept musikalischer Zeitgestaltung inne, das jeder nichttonalen Melodie fehlen muß bzw nur durch äußere Mimikry unterschoben werden kann. Die tonale Melodie ist daher rituell und in sich geschlossen, die nichttonale ist offen und nichtrituell, sie ist von einer freien Finalität, von einer individuell wagemutigen Gerichtetheit in die Zukunft, ohne Halt in der Gegenwart einer rückkehrfähigen und wiederholbaren Vergangenheit. Hören wir zB in der tonalen Kadenz die Folge Tonika-Dominante-Tonika, so kehren wir in der schließenden Tonika in die anfangende zurück, und das Glück, das wir dabei empfinden, ist das von musikalischer Heimkehr und Heimat. Obwohl während unseres Vollzuges der Kadenz weder unsere Lebenszeit noch die Weltzeit um ein Jota weder verkürzt noch verlängert wurde, ist in der musikalischen Zeit die vermeintlich vergehende Zeit aufgehoben und versöhnt, denn im Hier und Jetzt von tonaler Musik muß uns unsere endliche Lebens- und Weltzeit nicht bekümmern. Die musikalische Zeit ist, obwohl ästhetischer Schein, ebenso real wie die Uhr-Zeit und ebenso wirklich wie die prosaische Alltagszeit unseres Lebens; und selbstverständlich vergeht nicht die Zeit, sondern alle Dinge und alles Leben vergeht, nicht durch, sondern in der unvergänglichen Zeit.
Hören wir aber eine Folge atonaler Klänge und Töne, so hören wir deren gebrochene Materialqualität mit, ob wir wollen oder nicht. Und weil dem nichttonalen Material die inneren harmonischen Verwandtschaften fehlen und fehlen sollen, so fordert dieses Material an sich auch, daß sich in ihm und in dem, was aus ihm als Werkgestalt hervorgeht, nichts wiederholt. Das Nichts, das sich somit permanent in ihm wiederholen muß, ist musiklogisch die Stille; nur mehr Stille soll daher die an ihnen selbst unverbundenen Materialqualitäten verbinden. Indem sich die nichttonalen Klänge – sofern der Komponist nicht eine traditionsheischende Mimikry bemüht – an der Grenze von Musik bewegen, treten sie direkt aus der Stille heraus, um nur mehr in diese zu „kadenzieren“. Musik im Zustand freigesetzter individueller Freiheit muß sich dieser Freiheits- und Todesgrenze der Musik öffnen, um sich diesem bewegten Nichts einer vollkommen ungeborgenen und heimatlosen Zeit zu stellen, denn nur darin und dadurch kann sie der Grunderfahrung des Sinnverlustes im Herzen der musikalischen Moderne einen authentischen Ausdruck geben. Weberns atonale Melodie ist daher authentischer als die Mimikry-Melodie von Berg und Schönberg. Denn einzig Webern überwindet bereits am Beginn der musikalischen Moderne das „Motivisch-Thematische“ so weit, daß er sich von der Angst vor dem Neuen und Fremden beinahe schon frei gemacht hat. Er widersteht der heimeligen Versuchung, die traditionelle rhythmische Motiv-Konfiguration als künstliche Beatmung des toten traditionellen Motivkörpers herbeizubemühen, und auch noch atonalitätsfremde Leittonwirkungen und andere Anleihen der Tradition herbeizuzitieren. Und weil der nichttonalen Klangmaterie die inneren Klang- und Tonverwandtschaften fehlen und auch fehlen sollen, so fehlt ihnen auch das, was ein Motiv zum Motiv macht. Denn nur indem sich ein Motiv aus sich, also aus und in seinen Materialverwandtschaften, wiederholt und variiert, wird es als Motiv erkennbar und fähig Themen zu tragen und zu entwickeln. Ein nicht in seiner und durch seine Wiederholung und Veränderung unmittelbar erkennbares Motiv ist kein Motiv. Nur auf dieser sich selbst organisierenden Grundlage waren ungebrochene musikalisch-architektonische Zeittempel möglich, in denen eine materialgeborene Einheit von Wiederholung und Nichtwiederholung eine erfüllte Gedächtnis-Einheit von erklingender Erinnerung und Erwartung repräsentierte. Dem rituellen Kreis war ein finaler Zug eingeboren, und am geschichtlichen Ende in Vollendung: als ob ein Urmotiv der Urzeuger des Themas und aller Musik wäre, lautete das Losungswort des heroischen Beethoven.
Die Selbstorganisation des musikalischen Materials in diesem realen Als Ob vereint noch heute die Motivik von Hänschen Kleins Lied mit jener von Beethovens Schicksalsmotivik am Beginn seiner Fünften Sinfonie als heimatgewordene Musiksprache der Menschheit.
Der die Musik als freie Kunst freisetzende Prozeß, in dem sie einer rituellen Tonalität eine lebendige Finalität zeugte, die im Material schon als Samen ruhte, beginnt im Abendland bereits in den heiligen Gemächern des Gregorianischen Chorals, obgleich dessen Rezitationstöne und Klauseln ihre musikalische Finalität zuerst und zuoberst aus der Textgestalt eines heiligen Wortes empfingen. Noch bis zu den Soggetti der polyphon und vokal dominierten Musik bis gegen 1600 ist es daher sinnverstellend, von Motiven und Themen zu reden, und selbst noch Bachs Musik verträgt es nicht ohne Schaden, durch die motivisch-thematische Brille seziert zu werden. Beethoven wird am Ende über eine tragisch-dramatische, eine episch-idyllische, eine lyrische und auch über eine komisch-komödiantische Musik-Zeit verfügen, und der späte Beethoven betritt auch bereits die gebrochenen Wege in die freischwebende Finalität der Moderne. Daß aber der Versuch, die „Meister des kleinsten Überganges“ im späten 19. Jahrhundert – Wagner, Brahms und Reger bis hin zu Schönberg – als Vollender einer eigentlichen Motivik-Thematik aufs Podest zu heben, zum Scheitern verurteilt sein muß, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Mit der sogenannten allmählichen „Erweiterung“ der Tonalität mußte auch jene innere Einheit von Stabilität und Dynamik der Motivik-Thematik zerbrechen, die Beethovens Vollendung ermöglicht hatte.
Dem unausweichlichen Gebot der musikgeschichtlichen Stunde, die rituelle Tonalität verlassen zu müssen, um eine musikalische Kunst der freien reflexiven Finalität zu ermöglichen, versuchen sich Jazz und Unterhaltungsmusik bekanntlich seit dem 19. und 20. Jahrhundert mit scheinbar großem Erfolg zu entziehen; durch einen Gewaltakt allerdings, der sich an der Substanz von Musik vergehen muß und auch soll, denn die beiden neuen Größen der musikgeschichtlichen Bühne sollen uns musikalisch unterhalten und nicht mehr zu Aristokraten oder Bürgern einer höheren musikalischen Welt erheben. Eine gewalttätige Ritualität aber ist eine entfremdete, eine die uns insgeheim nichts oder nur mehr wenig angeht; sollte man meinen; denn ist einmal die Musik in die Extreme ihrer Freiheit aufgebrochen, dann läßt sich die ursprüngliche Ritualität und deren ursprüngliche Finalität durch nichts in der Welt mehr restaurieren. Auch nicht durch Rausch und Droge, nicht durch Suggestion und Beschwörung. Vernehmen wir daher wieder einmal, daß es gelungen sei, die Kluft von U und E zu überwinden, weil diesmal ein Stück von Henry, der einst mit Schäffer die musique concrete begründete, in den deutschen Charts an erster Stelle vor einer Nummer von Madonna rangiere, dann dürften wir der Erfolgsmeldung nur glauben, wenn wir zugleich glauben könnten, Henrys Techno-Motive wären im Hafen von Mozarts Motiv-Seglern gesichtet worden. Davon aber dürften wir nicht einmal die musikalischen Minimalisten der Minimal-Musik unserer Tage überzeugen können. Und wenn uns Elton John mitteilt, er sei der Entschleierung der absolut vollendeten Melodie schon sehr nahe gekommen, dann gibt er damit zu verstehen, daß die Musikgeschichte unbemerkt an ihm vorübergegangen ist; ein Malheur, das in unseren Tagen die besten Familien nicht verschont – auch Adel schützt uns heute vor musikalischer Torheit nicht.
Und weil die rituelle Tonalität im 20. Jahrhundert unterwürdig werden mußte, suchen wir unsere Disco- und Technotempel heutzutage nur mehr dank der gewaltigen Illusion auf, am anderen Ort könnten wir nächtens den Zwängen der modernen Freiheit in eine befreiende Urhorde entkommen. Zeit-gemäß wäre der rituelle Tanz um das Goldene Kalb einer erloschenen Tonalität, weil wir dabei deren entleerte Zeit zu Tode tanzen könnten.