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019 Gattung und Geschichte

November 2000

Was ist eine musikalische Gattung und wie ist ihr Verhältnis zu ihrer jeweiligen Entwicklungsgeschichte zu verstehen? Diese Frage wird zumeist diametral gegensätzlich beantwortet, also ohne grundsätzlichen oder gar selbstverständlichen Konsens in unserer Musikkultur. Ein Tatbestand, der auf gewisse Grenzen unseres Verständnisses von Musik verweist, also auf einen noch grundsätzlicheren und tieferen Fragenkreis, in dem sich das Wesen von Musik selbst in ihrer Geschichte offenbaren könnte. Um uns diesem Fragenkreis zu nähern, lohnt es sich, die genannte Gattungsfrage an einer einzigen musikalischen Gattung exemplarisch zu erörtern.

Die Sonate führt nach Ansicht der einen ein sozusagen ewiges Gattungsleben in der Sphäre von Instrumentalmusik seit spätestens dem 16. Jahrhundert. Ein ewiges Gattungsleben, das sich in einer Reihe von dynastischen Geschlechtern, also in einer Folge von Sonaten-Arten manifestiert – nämlich in der Erfolgsgeschichte von barocker, klassischer, romantischer und moderner Sonate. Nach der gegenteiligen Ansicht der anderen aber, haben die genannten Arten von Sonate so wenig bis gar nichts miteinander gemeinsam, daß sie mit viel mehr Recht und Grund als je eigene Gattungen anzusprechen wären. Welten lägen zwischen einer barocken und einer klassischen, zwischen einer klassischen und einer modernen Sonate. Dies ist wiederum nach Ansicht der erstgenannten Partei völlig falsch, weil die Sonate eben eine universale Form der Instrumentalmusik sei, die sich in jeweils anderem und epochenspezifischem Stil und Material, Ausdruck und Gestaltung ein geschichtsmächtiges Erscheinen verschaffen könne. Der zweitgenannten Partei erscheint dieses Argument dubios, denn niemand könne leugnen, daß sich Syntax und Stil, Form und Gehalt der Musik von Epoche zu Epoche geradezu bis in die Wurzeln der Gattung Instrumentalmusik hinein radikal veränderten. Daher sei der jeweilige Epochengeist die sozusagen oberste Gattung der Musik in ihrer jeweiligen geschichtlichen Station. Dieses Argument sei aber wiederum schon dadurch widerlegt, erwidert die erstgenannte Partei, weil doch niemand leugnen könne, daß es sinnvoll sei, Sonaten in jedem Material, also auch in polytonalen, zwölftönigen, seriellen und anderen nichttonalen Strukturen zu komponieren.

Nach diesem heftigen Scharmützel der beiden Positionen halten wir einen Moment inne, um uns auf die einfache Phänomenologie der Sonatengeschichte zu besinnen. Zunächst fällt uns auf, daß sowohl die barocke Sonate, in ihrer Entwicklung zur sonata da chiesa, da camera, Triosonate usw, als auch die klassische Sonate, in ihrer Entwicklung über die galanten und empfindsamen Stile bis hin zum Spätstil Beethovens, eine Entwicklung von Früh- über Hoch- zu Spätformen vorgelegt hat, einen Entwicklungsbogen folglich, den wir auch der romantischen Sonatengeschichte nicht absprechen können.

Steht die barocke Sonate unter der Ägide von Violine und Streichinstrumenten, auch weil es galt vom religiös ordinierten Vokalsatz zu einem autonomen Instrumentalsatz zu gelangen, so steht die Entwicklung der Sonate seit spätestens 1730, als die ersten größeren Sonatensammlungen für Tasteninstrumente neuester Bauart erschienen, unter der Ägide jener Entwicklung vom Cembalo über Clavichord bis hin zum Klavier der Wiener und Englischen Bauarten, die nicht die Ursache, wohl aber eine conditio sine qua non der klassischen Sonatengeschichte war. Und selbst noch das weitere Bedingungsfeld der barocken und klassischen Sonate finden wir in der Romantik und ihrem vollendeten virtuosen Klaviersatz, wenn auch stark säkularisiert vor: nämlich den Dienst der Sonate in Kirche, Hof und Stadt, in der kunstmusikalischen Selbstdarstellung einer feudalen Patrizierkultur, in einem ungeheuren Markt von musikalischen Dilettanten, deren Liebe zur Musik noch durch den Magen des Musizierens ging, und auch in der heroischen Selbstdarstellung eines freien Bürgers, der sich auf dem Klavier wie ein König zu gebärden dachte. Zwar sinkt die Virtuosität der Romantik später endgültig in den mode- und marktgängigen Salon ab, worin Hertz, Hünten und Konsorten ihre Triumphe feiern, gegen welche aber Schumann schon früh seinen Florestan und seine Davidsbündler rittern ließ. Doch vor diesem Niedergang der romantischen Sonate in die Bravour des Tastentigers hatten neben Schumann auch noch Brahms, Chopin und vor allem Liszt einen Weg gefunden, der Gattung nach Beethovens Sonatenkairos ein Gesicht universaler Repräsentation und Individuation zu verschaffen.

Und noch ein Unterschied fällt uns ins ruhige Auge angesichts der verschiedenen Epochengeschichten: am Ende der Epochen von Barock und Klassik erfolgen sogleich die bekannten Versuche, die vermeintlich normgewordene Form der Gattung zu kodifizieren und in einschlägigen Lehrbüchern als normative Muster für Komposition und Pädagogik zuzubereiten. Auf Mattheson und Marpurg folgen um 1840 Czerny und Marx mit ihrem Paragraphenwerk, das eine reguläre Sonate festschreiben möchte, und ein zeitgenössischer Musikkritiker schreibt entwaffnend von Clementi als dem „Meister der Sonate“; denn wohl möge Beethoven der beste Sonatenkomponist sein, Clementi aber hätte die sonatenhaftesten Sonaten komponiert, schon weil er durch 55 Jahre hindurch nichts anderes betrieben hätte. Wie absurd aber eine Kodifizierung der romantischen oder gar spätromantischen Sonate zu Diensten einer Vorbildfunktion für die moderne Sonate gewesen wäre, braucht nicht eigens ausgeführt werden.

Beethovens Klaviersonaten, die zu seinen Lebzeiten kaum je öffentlich aufgeführt wurden, stiegen nach seinem Tod in das Zentrum des Klavierrepertoires der bürgerlichen Musikkultur, und nicht als Muster, sondern als Grenze einer Individuation der universalen Gattung Sonate wurden sie ein steter Anstoß für die Auseinandersetzung der nachgeborenen Komponisten, von jener der Interpreten nicht zu reden. Schon ab 1861 gab es Pianisten, die alle 32 Klaviersonaten in Konzertserien aufführten. Aber bereits 1839 schrieb Schumann, argen Zweifeln über den Fortbestand der Gattung ausgesetzt, daß es durchaus in der Ordnung der Dinge liege, wenn eine Form ihren Lebenskreis durchlaufen habe; die Komponisten sollten nicht jahrhundertelang dasselbe wiederholen, sie sollten auf ein Neues bedacht sein. Und die Sonate, schrieb er zwei Jahre später, habe nun einmal mit drei starken Feinden zu kämpfen: „Das Publikum kauft schwer, der Verleger druckt schwer, und die Komponisten halten allerhand, vielleicht auch innere Gründe ab, dergleichen Altmodisches zu schreiben“.

Eine kontinuierliche Geschichte der Sonate lasse sich im 20. Jahrhundert nicht mehr fortschreiben, erklärt uns der ausgezeichnete Artikel ‚Sonate‘ im neuen Sachteil der MGG. Denn allzu heterogen sei nach 1914 die Entwicklung der Gattung verlaufen, und die Auflösung der Tonalität habe die Gattung Sonate in ihrem Innersten tödlich getroffen. Welch’ ein langlebiger Tod, wird nun die erstgenannte Partei ironisch einwerfen, jene Partei, die vom ewigen Gattungsleben der Sonate träumt. Ein Traum, den die Komponisten des 20. Jahrhunderts ohne Zweifel ausgiebig geträumt haben und auch durchaus erfolgreich, sofern wir nur nicht vergessen, daß auch der Begriff Erfolg ein überaus epochenrelativer genannt werden muß. Was die Sonaten von Ives und Strawinsky, Bartok und Barber, Debussy und Ravel, Prokofjew und Schostakowitsch, Hindemith und Henze, Boulez und Cage – für präpariertes Klavier – , Schnittke und Gubajdulina verbindet, das ist jene achronologische Synchronie, welche die Kunstmusik im 20. Jahrhundert vom Neoklassizismus bis zur Serialität und Aleatorik führte, um am Ende mit der postmodernen Sonate den alexandrinischen Kehraus eines universalen Eklektizismus gestalten zu müssen. Was unser Lexikon nur von Ives behauptet, daß er nämlich einen „ganz individuellen Weg gehen“ mußte, dies gilt für jeden Komponisten, der sich mit Gewissen und Einsicht der Moderne zurechnet. Einen „ganz individuellen Weg gehen“ ist freilich nur ein Euphemismus für die Aussage, daß die Entwicklung der Sonate im 20. Jahrhundert heterogen verlaufen ist. Eine heterogene Entwicklung ist keine von Geschichte mehr, die sich erzählen ließe unterm Sternbild einer möglichen Normierung mit universaler Repertoirebildung; sie ist ein Neues, das den alten Namen nur mehr führt, um ihn eines Tages, wenn er gänzlich zerfallen ist, ohne Trauer zu verabschieden. Davon träumte der „mystische Akkord“ in Skrjabins 4. Klaviersonate.