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040 Musik als Idee und Musik als Ideal

April 2001

Die Musik ist Idee, denn immer und überall wo sie erklingt, wo sie musiziert, wo sie komponiert wird, existiert sie nur als Realität ihres eigenen Begriffes im aktuellen Zustand seiner Geschichtlichkeit; sie ist nie und nirgends ein Epiphänomen irgendeines anderen Wesens dieser Welt, sondern als Idee immer nur ein Phänomen ihres eigenen Wesens.

Musik ist daher nicht nur alles andere nicht, sondern sie ist auch nicht, was ihre Nachbarn sind: sie ist nicht Natur, nicht Malerei, nicht Architektur, nicht Dichtung, auch nicht Wissenschaft und Philosophie, nicht Politik und Gesellschaft und auch nicht Religion. Religion hätte sie dereinst für eine archaische Menschheit sein können, wenn einmal in der Menschheitsgeschichte das materielle Substrat der Musik, also der Klang, als Gott und Gottesvermittler erfahren und angebetet worden wäre.

Die Musik kann daher nicht fliegen, nicht kriechen, nicht natürlich wachsen, nicht mit Farben malen und mit Figuren zeichnen, sie kann nicht Häuser bauen und Gedichte dichten, sie kann nicht rechnen, nicht denken und nicht beten. Sie kann, was sie kann, und dies ist mehr als genug, wie ihre Geschichte glänzend bewiesen hat und immer wieder beweisen wird; und die analogen Redeweisen, wonach die Musik in ihrer Weise malen, denken, politisieren, sprechen, beten usf könne, sind als analoge nicht auf den Begriff ihrer Idee, sondern auf Wünsche und Illusionen, auf Analogien der Erfahrung, oft aber auch nur auf Verwirrungen im Verständnis der Begriffe zurückzuführen.

Ist also das Musizieren der Musik durch sich selbst begründet, dann ist sie im Status von Idee berechtigt und verpflichtet, alle anderen Ideen dieser Welt zu ihren Zwecken zu verwenden, ohne deshalb schon sofort und sogleich in ihrer Geschichte als Selbstzweck existieren zu können und zu sollen.

Die Idee der Musik ist daher erstens autogenetisch, sie bringt sich aus sich selbst, aus ihrem eigenen Wesen hervor, sie nimmt die Mittel ihres Materials und ihrer Formen aus ihrer eigenen Mitte. Wohl existiert der Klang auch außerhalb der Musik, aber in der Musik nur durch deren Formieren zu musikalischem Klang; die Symmetrie auch außerhalb der Musik, aber als rhythmische oder als musikalisch-architektonische Symmetrie nur durch Akte der Musik; wohl existiert das Holz auch außerhalb der Musik, aber als Geigenkörper nur durch dessen Auftrag, Instrument der Musik sein zu sollen; desgleichen existieren alle axiomatischen Form- und Reflexionsbegriffe der Musik auch außerhalb der Musik, in ihr aber nur als musikalische Wiederholung, Nichtwiederholung, Einheit, Differenz, Mehrteiligkeit, Entwicklung usf. Einzig ihren Inhalt, den durch Musik auszudrückenden Geist, nimmt die Musik daher nicht aus sich selbst, sondern aus der Innenwelt des Menschen im aktuellen Zustand der Menschheitsgeschichte.

Die Musik ist aber als Idee zweitens nicht nur autogenetisch, sie ist auch autonom,– denn sie verbindet die aus ihr selbst genommenen Bausteine und Formakte durch sich selbst zu selbständigen Erscheinungen von klingenden Gebilden – die Autonomie manifestiert die Autogenese. Und dies bereits im Dienst am Ausdruck von Inhalten von Mensch und Welt, die sehr musikfremd und heteronom sein können – wie etwa im schamanistischen Kannibalengesang von einst oder im unterhaltungssäkularen Technoidentanz von heute.

Die Musik ist aber als Idee nur autogenetisch und autonom, sie ist noch nicht autark; erst als Ideal ihrer Idee ist sie drittens auch autark, und nur im Idealzustand ihres Wesens kann und soll sich die Musik als wirklicher und vollendbarer Selbstzweck manifestieren. Dies zu ermöglichen, bedarf es einer bestimmten und einzigen Religion, aus deren Selbstsäkularisierung ein Geist von Freiheit in die Geschichte auch der Musik treten kann, der nun zwar immer noch und nun erst recht der Musik transzendent bleibt, dennoch aber die Kraft und das kongeniale Wesen besitzt, an und in der Musik deren Vollendung zur Autarkie ihres Wesens als Selbstzweck hervorzutreiben. Nur als autonome Kunst ist daher die Musik autark, und auch dies nur, wenn und solange sich aus dem Ideal der Idee Stile generieren, die sich noch nicht als menschliche Veranstaltungen und Strategen darstellen müssen und können – also vor dem Schisma des Ideals der Musik in die notwendige Spaltung von U und E.

Wir leben mittlerweile bereits hundert Jahre im postidealen Zustand der Musik, was den Vorteil und Genuß verschafft, die Geschichte des ganzen Ideals überschauen, überhören und daher zusammenhören und verstehen zu können. Wie Monolithe stehen die universalen Stile und ihre Gattungen in der Chrono-Logik der vollendeten Werke vor uns; denn wir wissen, wie der florentinische Embryo der Oper in Richard Straussens Opern verklang; wir wissen, wie der Embryo der Fuge in Bachs Fugen sich vollendete, und wie der vielfältige Embryo der Sinfonie im Werk Beethovens sich als vollständiger Selbstzweck erfüllte, um in den Sinfonien Mahlers exemplarisch zu verklingen. Wie ein Monolith von Monolithen steht die abgeschlossene Autokratie des Ideals der Musik im Geist des universalen Musikers von heute.

Während der Zustand von Musik als Idee daher immer gilt, weil die Musik immer autogenetisch und autonom sein muß, gilt dies von ihrer Autarkie nur einmal in der Geschichte der Menschheit. Und dies aus mehr als aus guten Gründen. Könnte der Mensch nämlich zu jeder Zeit der Geschichte eine Musik, eine Kunst, eine Wissenschaft, eine Philosophie usf in den Rang einer unbestreitbar stimmigen Selbstzweckmäßigkeit erheben, so würde er an diesem seligen und erfüllten Leben sofort auf die „Idee“ genannte Vorstellung verfallen, die genannten Autoritäten könnten und müßten auch der Endzweck der menschlichen Existenz und ihrer Geschichte sein; er würde zu glauben beginnen, an der autarken Musik einen Gott und einen Gottesvermittler erhalten zu haben. Und er würde dieses Spiel mit allen Künsten, nicht nur mit der Musik, und auch nicht nur mit den Künsten allein, zu spielen versucht sein. Er würde daher versuchen, aus dem Reich des säkular gewordenen Monotheismus in einen radikal säkularen Polytheismus zu regredieren – was unter der Würde nicht nur des Menschen ist, wie das 20. Jahrhundert bewiesen hat.

Gehen wir in einem Wald spazieren, und singen wir ein Lied nur so oder auch nur so, dann fragen wir daher nicht die Natur und die Welt, auch nicht die heute beliebten Autoritäten von Gehirn und Adrenalin, von Gen und Bauch, sondern wir singen drauflos; nach Maßgabe unserer Fähigkeit, die universellen Bausteine der Musik einer neuerlichen Individualisierung zu besonderen Ausdruckszwecken unterwerfen zu können. Die Idee der Musik präexistiert daher in uns als ein spezieller, in und durch sich bestimmter Freiheitsgeist, der sich selbst und seine Geschichte ermöglicht, sofern ihm nur die anderen Ideen – alles was er nicht ist – zu Diensten stehen, von der Schwerkraft bis zum Sauerstoffatom, vom Stimmband bis zur Sprache – obgleich hier im besungenen Walde die Musik keineswegs als Selbstzweck ihres autogenetischen und autonomen Wesens existiert und erscheint.

Vor zehntausend Jahren muß es nicht nur eines Tages geschehen sein, daß ein Jäger oder Tierhüter in den Tiroler Alpen – dank wiedererwärmter Erdwelt in den Tagen der letzten Eiszeit unterwegs mit oder ohne Instrument – um seiner Freude über die zurückweichenden Gletscher und die endlich wieder bealmbaren Berghänge auszudrücken, einen Jodler über die Berge und Täler erschallen ließ. Nicht um der Musik und des Musizierens willen, sondern um mittels ihrer Mittel seiner unbändigen Freude Ausdruck zu geben, griff er zum euphorisierenden Mittel des glossolalischen Jodlers. Dessen Form und Material ist musikalische Idee, denn was sich auch immer in seiner Melodie zur totalen Tonalität verband – die harmonische, die diastematische, die rhythmisch-metrische und die klangfarbliche Vorgeformtheit seiner Jodelei – all dies nahm er aus seinem Geist als musizierender Musik – natürlich vermittelt durch die Tradition seines Stammes, seiner Religion, seines Schamanen, seines Verständnisses von Gott, Welt und Mensch – und dies geschah dem ersten Schamanen des Stammes nicht anders.

Er nahm daher die Idee der Musik aus sich, um jenen Freude-Inhalt auszudrücken, und eine Selbstzweckrelation seines Jodelns in Beziehung auf das Material und die Formen des erjodelten Klanges erschien nur im Status der Einübung und der Fetischisierung des Musizierens, und auch dieses vollzieht sich bekanntlich in den archaischen Religionen weithin im Rahmen trancegeleiteter Kulte zu Ehren übermusikalischer Götter. Unser Eiszeit-Tiroler ist also in seiner Freude über seine neugewonnene Welt zuhause, diese Freude ist seine Wohnung, und die Musik ist nur die Einrichtung seiner Wohnung.

Gewiß, man wohnt, wie man sich einrichtet, und früh schon, lange vor der einzig und exklusiv im säkularen Christentum möglichen Erhebung der Musik aus dem Status von Idee in den Status von Ideal, muß oftmals das Wunderliche von verwunderten Musikern erwogen und ausprobiert worden sein, welche unbekannten Klangwunder einer noch unbekannten Rationalität von Musik diesem merkwürdigen und anfangs numinos erfahrenen Wesen eines autogenetischen und autonomen Klangwesens zu entlocken wären, wenn man nur einmal einen autokratischen Geist vermittelt bekäme, der freilich nicht von dieser Welt sein durfte, um die Introvertiertheit einer anderen Innenwelt musikalisch extrovertieren zu können.