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041 Von heiligen und unheiligen Tieren

Mai 2001

Wer nicht bereit ist, sich zum Tier der Musik domestizieren zu lassen, der kann nicht in den Rang eines Musikanten, nicht eines Interpreten und auch nicht eines wirklichen Komponisten von Musik aufsteigen.

Das Urtier aller musizierenden Tiere ist aber notwendigerweise der fundamentale Sänger und sein Singen, denn allein dessen mimetische Praxis kann und soll die universalen Elementarformen des Klanges der Musik unmittelbar in die Leib-Seele-Einheit des Menschen so inkarnieren, daß ein reflexionsloser Gebrauch der Formen habituell wird. Aus einem äußeren und äußerlichen Gedächtnis der Elementarformen soll ein inneres und virtuoses entstehen, um sich zugleich in den ganzen Körper des Musikers als universales und hierarchisches Repertoire von Quasiinstinkten einzubilden.

Wer beim Musizieren nicht hört, was er spielt, spielt, was er nicht hört; und wer beim Musizieren noch in Begriffen und Worten denkt, hat seine Berufung verfehlt; und eine Musik, die des Musikers Mimesis in völliges Freiland entsetzt, etwa in das aleatorische, träumt von der Möglichkeit einer gänzlich individuellen Mimesis der Musik.

An den universalen Sänger schließt sich daher in genauer Abnahme der primären Intensität des unmittelbar mimetischen Berührens der Universalien der Musik die ganze erlauchte Primatenordnung der Musikerarten an: Bläser, Zupfer und Streicher, Stoffe- und Tastenschläger. Und nicht zufällig gilt es bis heute als Triumph der ganzen Domestizierung, wenn es uns gelingt, auf und mit den Tasten eines Klaviers zu singen. Der Dirigent aber musiziert mit dem Musizieren anderer; er dirigiert, was er vorhörend an einer Musik erhört hat; daher darf er im Zoo der Musizierenden den cheironomischen Dompteur spielen.

Um sich nun aber im Labyrinth des Begriffes der Musik nicht zu verirren, ist höchste Vorsicht geboten, wenn wir Programmen einer ewig gleichbleibenden oder einer stets ganz anderen Domestizierung der musikalischen Sinnlichkeit des musikalischen Geistes in der Geschichte der Musik begegnen.

Zwar gilt und galt Telemanns Satz vom Singen als dem Fundament in allen Dingen der Musik immer, aber er gilt nicht in derselben Weise immer. Erst seit dem 17. Jahrhundert entsteht kraft der sich säkularisierenden christlichen Religion eine Instrumentalmusik im Gewande einer musikalischen Kunst um ihrer selbst willen, also eine Musik, deren Form als Form in den Rang ästhetischer Selbstzweckmäßigkeit aufrücken kann und soll; wenn und solange im Sprechen der Instrumente das Sprechen der universal singenden Stimme nachklingt und durchscheint. Das universal intonierende Singen ist daher wohl die Grundlage einer universalen Musik im Range des Ideals, aber erst eine vollkommen schöne Instrumentalmusik ist der Grund des Ideals, der sich als Zweckursache seiner selbst in der Geschichte seiner Verwirklichung zur Erscheinung bringt. Doch ist es unmöglich, ein Ewiges zur Erscheinung und zu geschichtlichem Leben zu bringen, ohne zugleich im Leben und Erscheinen der sich vollbringenden Individuation des Wesens in dessen Grund zurückzusterben.

Eine zwiefache, weil untrennbare Paradoxie der Musik haben wir uns daher einzubläuen: erstens vollendet sich die Musik als Instrumentalmusik, obwohl deren Anfang als Vokalmusik unaufgebbar bleibt; dies ist die erscheinende Differenz von Idee und Ideal der Musik auf der Ebene ihrer mimetischen Praxis; zweitens bringt die Verwirklichung des Ideals der Musik notwendigerweise zugleich das Verschwinden des Ideals als kompositorischer Praxis und Tradition hervor.

Indem sich die eine prächtige Erscheinung und Geschichte von Musik als deren Endzweck aus ihrem universalen Grund heraussetzt, muß notwendigerweise alles, was für dieses einzigartige Unternehmen an Material- und Formmitteln investiert wurde, als schuldig gewordener Extrakt unseres musikalischen Handelns an den göttlichen Grund der Musik wieder zurückgegeben werden. Ohne Verbrennung des Stoffes keine Energie ewiger Formen und Inhalte. Die Idealwerdung der Musik gebiert zugleich das geschichtliche Zugrundegehen des Ideals.

Diese Auskunft hören wir nicht gern; und obwohl wir daher wissen, daß die Musik als mögliche Schönheit sui generis erst seit dem 17. christlichen Jahrhundert – nicht zufällig das Jahrhundert des katastrophal realisierten Schismas der christlichen Religion – intendierbar und komponierbar, wahrnehmbar und musizierbar wird, und daß die Musik im 19. Jahrhundert ihr eigenes Schisma einleiten mußte, projizieren wir spätestens seit dem 20. Jahrhundert ohne Bedenken den musikgeschichtlich vollbrachten Status des autokratisch verwirklichten Ideals der Musik in die ganze Geschichte der Musik zurück, und nicht nur in die christlich europäische; und auch noch die seit dem 20. Jahrhundert entstandene Musik, obwohl unter dem Schisma von U und E gefristet, glauben wir nochmals der Huld des Ideals zuführen zu dürfen. Wir sprechen vom einzigartig fruchtbaren 20. Jahrhundert der Musik, das alle vorigen Jahrhunderte musikgeschichtlich weit übertroffen hätte.

Daher entgleiten uns unverwunderlicherweise alle verbindlichen Begriffe in und über Musik, die Grundbegriffe taumeln und werden orientierungslos, nur mehr subjektiv sei unser Bewerten der sämtlichen Arten und Unarten von Musik, und rücksichtslos rühme nun jedes Tier der Musik sein eigenes Plaisier an der Musik. Und der falschen Universalität eines historistischen Paradigmas von Musik gemäß soll nun jede Musik in gleicher Weise „unmittelbar zu Gott“ sein, soll nun jede gegenwärtige und jede gewesene Musik „in ihrer Art“ und zugleich in einer gleichberechtigen Art aller Arten schöne und wahre und gute Musik sein.

Ein beispielhafter Ausdruck dieser Orientierungslosigkeit auf der telemannschen Fundamentalebene des Singens ist der musikliberale Gradus ad Parnassum an Elementarformen, den viele Lernbücher der Gehörbildung und Solmisation heutzutage anbieten. Sie insinuieren dem gehörigen Pädagogen und ahnungslosen Eleven, daß nach den vormodalen, den modalen, den durmolltonalen Systemordnungen der tonal zu intonierenden Intervalle selbstverständlich atonale, nach diesen selbstverständlich dodekaphone, nach diesen serielle, dann aleatorische, dann frei vorzustellende Intervalle, nach Möglichkeit bis hin zu vierteltönigen, einzusingen wären – und selbstverständlich sind auch die jazzmobil und popjuvenil umgerüsteten Intervalle und Skalen für populäre Zugaben auf dem Markt der Musikmärkte nicht zu verschmähen.

Offensichtlich verdankt sich der Versuch, die Hypothese einer bis zum letzten Tag der Menschheit normierenden Chronologie der Musikgeschichte zum Ideal einer künftigen Praxis des Musizierens zu erheben, der Meinung, das Verhältnis von Singen als Fundament und von Instrumentalspiel als Postament der Musik bleibe stets und immer in gleicher Weise gleich. Das Musizieren in fundamentis sei daher in jeder, auch in jeder selbsternannten Syntax, Stilsemantik und gesellschaftlichen Funktionsweise von Musik institutionalisierbar. De facto geschieht, was geschieht: die Fundamentalbrache des Cross-Over wird musikpädagogisch zubereitet; das musikalische Chamäleon wird zum neuen Urtier in der Primatenordnung der Musikerarten. Warum soll ein perfekter Musiker von heute im dodekaphonen Gebirge schlechter jodeln, als ein ebenso perfekter anderer Musiker im seriellen Intervalldschungel endlich wieder innovativ grooven und jazzen wird können?

Ein beispielhafter Ausdruck unserer Orientierungslosigkeit auf der Ebene der musikalischen Interpretation ist ein Jazzer, der sich über das Wohltemperierte Klavier Johann Sebastian Bachs hermacht, als habe er einem Ruf als rhythmischer Vampir und harmonischer Slalomläufer von Weltrang ad usum delphini gerecht zu werden. Als säkulare Improvisationsvorlage erleidet die theonome Autokratie von Bachs Musik einen grausamen Tod, aber der daran schuldige Musiker und sein gehöriger Hörer wissen nichts mehr von einer Schuld.

Ein beispielhafter Ausdruck unserer Orientierungslosigkeit auf der Ebene der universalen Musikgeschichte ist ein Musikgelehrter, der sich der Erforschung der sogenannten außereuropäischen Musik verschrieben hat, und der die rhythmische Polyphonie einer Gamelan-Musik der idealen Polyphonie einer Motette von Ockegehem gleichstellt. Zu diesem Gelehrten ist die Kunde noch nicht vorgedrungen, daß die tonhöhenlogische Elementarschicht der Musik in einer höheren und daher gründenderen Hierarchieebene auf der ewigen Festplatte der Musik installiert wurde.

Und ein letzter Ausdruck unserer Orientierungslosigkeit ist der bemühte Musikpädagoge von heute, der sich bestürzt fragt, wie es denn komme, daß die Jugendlichen von heute das Singen weithin als doof und nichtcool bewerten, obwohl doch ihre Idole samt und sonders mit einem ebenso auffälligen wie hinfälligen Gesang die Menschheit beglücken. Zwar wird im Popodrom unterm Vorsang des Popstars bei Gelegenheit begeistert mitgegrölt, auch finden sich immer wieder Wagemutige, die sich als Nachäffer der sogenannten Weltstars im Karaoke-Stil hervortun; weshalb jedoch diese Erfolge den musikpädagogischen Telemann von heute zurecht nicht begeistern – dieser Frage wird sich das nächste Philosophon widmen.