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042 Gute Unterhaltung

Gute Unterhaltung

Mai 2001

U und E sind die geläufigen Chiffren des ästhetischen Zentralschisma, das alle Musik, die spätestens seit dem 20. Jahrhundert das Licht der Welt erblickt, radikal durchdringt und unerbittlich vor sich hertreibt.

Dennoch wird die Existenz des universalen Schisma – aus naheliegenden Gründen nicht zuletzt von Musikern: wer möchte nicht auf allen Kirtagen tanzen? – entweder verharmlost oder geleugnet oder als in naher oder ferner Zukunft wieder überwindbar dargestellt.

Die fundamentalistisch positiv eingestellten Leugner des Schisma pflegen bereits die abbreviativen Worthülsen von U und E als herbeigeredete Einbildung böswilliger und selbsternannter Experten zu denunzieren. Und manche Eiferer der Nichtexistenz des Schisma verführt ihr verräterischer Eifer dazu, die beschwörende Tautologieformel „Musik ist Musik“ und weiter nichts als vermeintlich Letztes Wort in der Sache von sich zu geben.

Sie verraten mit ihrer gedankenlosen Satzhülse, daß sie sich erstens bei keiner Art von Musik ihren Spaß verderben lassen wollen, und daß sie zweitens alles Denken und Reden über Musik als unnützes Geschwätz entlarvt zu haben glauben; außerdem wissen sie sich drittens auf der demokratischen Höhe unserer Zeit, die sich bekanntlich in der liberalen Annahme gefallen muß, daß heutzutage jeder Mensch selber wissen müsse, welche Art von Musik ihm nun einmal wohlgefalle; und da jeder Mensch die Musik wählen kann und soll, die zu seinem Geschmack paßt, hat keine Musik vor irgend einer anderen irgendeinen Vorzug, weshalb die genannte Tautologie einen zu ehrenden und überaus reichhaltigen Inhalt haben soll: „Musik ist Musik“ und weiter nichts. Und wenn sich zufällig ein kurioser Jemand finden sollte, dem zufälligerweise alle Arten der Musik wohlgefällig munden und ohren, von der Gregorianik bis John Cage, von Hänschen klein bis Moik, von Zarah Leander bis Duke Ellington, von Johann Strauß bis Dr. Motte, dann sei dies erst recht der schlagende Beweis dafür, daß wir heute in der besten aller möglichen Musikwelten leben, die je die Geschichte der Menschheit verziert haben.

Musikphilosophisch ist die unausweichliche Notwendigkeit des musikalischen Schisma seit dem 19. Jahrhundert auf eine einfache Formel zu bringen. Nach der geschichtlichen Vollendung der Autokratie des Ideals der Musik im Range einer nicht nur sogenannten absoluten Kunstmusik, muß die universale Bedeutung der Musik wiederum in den Status von Idee zurückkehren, diesmal aber in der Gestalt und Tradition einer universalen Unterhaltungskunst.

Eine einfache Formel scheint dem heute grassierenden Bedürfnis nach unterhaltsamer Wissenszubereitung entgegenzukommen. Wissenschaft und Philosophie werden angehalten, ihre Einsichten und Ergebnisse so einfach wie möglich darzubieten, mögen die Inhalte des Wissens und des Denkens auch so komplex wie nur möglich und wirklich sein. Ein Anhalter will mitgenommen werden, ohne fahren und ohne ein Fahrzeug versorgen zu müssen. Die Forderung nach einfacher und unterhaltsamer Darbietung der Sachen von Gott, Welt und Mensch geht einem Mißverständnis in die Falle und der eingeborenen Dummheit unseres denkpassiven Lebensbewußtseins auf den Leim. Was gefordert wird, ist nämlich nicht ein Einfaches, sondern ein Bild anstelle eines Begriffes, eine Vorstellung anstelle des Denkens der Sache. Bilder und Vorstellungen von Gott, Welt und Mensch können und müssen allerdings sehr einfach sein, damit unsere Kommunikation bei Stimmung und Laune bleibt. Jeder von uns hat einfache Bilder und Vorstellungen von Sonne, Maikäfer und Ferrari in sich wohnen, gleichfalls von Beethoven, Oktave und Dreivierteltakt. Leicht und für jedermann verständlich soll alles Wissen aller Welten sein; Wissen als Vergnügungsreise fordert der Demokrat von heute, ganz anders als sein Ahne in der Epoche jener Aufklärung, die einst die Demokratie auf den Weg in die Geschichte brachte; der moderne Demokrat auf seinem Weg in die multimediale Unterhaltungsgesellschaft will nicht mehr denken und erkennen, er will glotzen und berieselt werden; sein Bedürfnis ist daher U, aber jedes reflektierte Wissen ist nur um den Preis von E zu haben.

Legen wir daher die musikphilosophische Formel vom Zentralschisma U versus E aus, so wird sie uneinfach, und unverschämt fordert sie unser Mitdenken heraus. Die Auslegung der Formel ist sogleich der Beweis, daß keine Formel von Gott, Welt und Mensch etwas Vernünftiges taugt, jede Auslegung ist die Selbstkritik und Selbstauflösung jeder Denk- und Sprachformel.

Die musikphilosophische Formel vom Zentralschisma der Musik spricht einfach von einer Rückkehr der Musik in den Status von Idee und von der Notwendigkeit einer Musik als universaler Unterhaltungskunst.

Doch ist erstens keine Rückkehr in die Geschichte zu irgendeinem Zeitpunkt, auch nicht in jener der Musikgeschichte möglich; zweitens ist die Existenz einer Unterhaltungskunst seit dem 20. Jahrhundert eine zwar geschichtlich notwendige, nichtsdestotrotz eine horribel selbstwidersprüchliche Existenz – in der Diktion des modernen Zeitgeistes: etwas ziemlich Ambivalentes. Denn Kunst sollte Kunst, also Ausdruck ihrer und womöglich nicht nur ihrer angestammten Wahrheit sein, sie sollte nie und nimmer Unterhaltung sein. Gegen dieses wahrheitsästhetische Argument in Sachen Musik hören wir heute das gutgelaunte Gegenargument, man könne sich doch auch bei Mozarts Zauberflöte gut und prächtig unterhalten; worauf wir schlagfertig die stechende Trumpfkarte eines höheren theologischen Argumentes legen sollten: auch ein Gebet ist eine gute Unterhaltung mit Gott, um zu erkennen, was wir an dem Wort Unterhaltung haben: einen unterhaltsam einfachen Wortfetisch.

Es versteht sich, daß die sogenannte Rückkehr der Musik in den Status von Idee seit dem 20. Jahrhundert unter radikal säkularen Bedingungen erfolgen muß. Sie führt daher zu einer Popularmusik, nicht mehr zu einer womöglich globalen Volksmusik, und sie ist auch nicht mehr Kunstmusik im Status des autokratischen Ideals, sondern eine unausweichlich heteronom bestimmte Wirkungskunst als Motor einer universalen Unterhaltungskunst. Sie ist als Musik die Symbiose von Volks- und Kunstmusik – aber in der aktuellen Differenz ihrer säkularen Spezifikation seit dem 19. Jahrhundert. Die universale und weltumspannende Unterhaltungsmusik von heute ist der welt- und musikgeschichtlich notwendige Transvestit einstiger Kunst- und Volksmusik, der folglich seine beiden ehrwürdigen Ahnen ebenso erfolgreich wie erbarmungslos travestiert.

Oberflächlich betrachtet scheint eine Sinfonie Beethovens „genauso“ auf Wirkung hin komponiert worden zu sein, wie eine Schlager-, Pop- oder Jazzveranstaltung mit ihren Songs und Nummern, mit ihrem pyrotechnischen Musiktheater und der totalen Selbstinszenierung der vergötterten Musikstars jene unwiderstehlichen Wirkungen in den Herzen ihrer Gemeinden erzielen, die alle Unterschiede zwischen Kunst und Unterhaltung ständig ebenso verwischen wie ambivalent reproduzieren. „Wissenschaftlich bewiesen“ scheint daher zu sein, daß eine Sinfonie Beethovens ebenso Wirkungskunst ist wie ein Musik-Event unserer Tage; woraus folgte, daß Bach, Mozart und Beethoven die Popularmusik ihrer Zeit, wenn auch für die gehobeneren Stände, die Popularmusik unserer Zeit nun aber endlich die universale Bach-, Mozart- und Beethovenmusik für jedermann in die Welt gesetzt hätte.

Äußern wir daher – unvorsichtigerweise und ohne flankierende Maßnahmen – die These, eine Sinfonie Beethovens sei um ihrer selbst willen gefunden und komponiert worden, fährt uns wie der Pawlowsche Hund der glorreiche Einspruch entgegen, Beethoven habe doch für Menschen und nicht für die Schublade komponiert. So entfremdet und fern sind wir bereits vom autokratischen Zustand der Musik, daß uns die Vorstellung, Musik könne sui generis Logos und Leben sein, absurd erscheint. Und von der Musikhistorie dürfen wir keine Hilfe gegen die Hunde dieser Zeit erwarten, weil eine Wissenschaft, die Musik lediglich als Ausdruck ihrer jeweiligen Zeit auffaßt, und die das Märchen von den großen Männern als ersten Urhebern großer Musik in die Welt gesetzt hat, den Frevel begeht, sich ohne universale Ästhetik der Musik und ihrer Geschichte zu nähern.

Aus dem heute bereits Normalität gewordenen Abwehrverhalten gegen das wahrheitsästhetische Argument in der Musik, demzufolge noch unlängst eine universal verständliche und verbindliche Musik im Range einer Kunst um ihrer selbst willen existieren konnte und sollte, läßt sich vermutungsweise erschließen, daß die traditionelle Kunstmusik heute bereits weithin unter den Leiterwartungen der seit dem 20. Jahrhundert omnipräsent gewordenen Unterhaltungsmusik gehört und erlebt wird.

Duke Ellington wollte den Jazz zur Volksmusik Amerikas erheben; Michel Petrucciani aber zur künftigen Kunstmusik Amerikas; es waren gut gemeinte Ideen von Musik, aber keine guten Jobs für Musiker – denn um eine Idee verwirklichen zu können, dürfen wir in deren Begriff nicht Unmögliches voraussetzen.