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043 Im Schattenreich der Öffentlichkeit

Mai 2001

Nicht im fernen Arabien, sondern mitten im modernen Europa musizierte bis vor kurzem ein berühmtes Orchester unter dem Bann eines Ehrenkodex, der ohne Ausnahme gebot, Frauen nicht als musizierende in den reinen Männerbund des rein männlich musizierenden Orchesters aufzunehmen. Dieser ebenso resistente wie rigide Ehrenkodex war mit der Gunst der vielen Jahre in den Rang einer ehrwürdigen Lokaltradition und eines unverzichtbaren Markenzeichens des Orchesters aufgestiegen.

Im musikgeschichtlichen Weichbild der berühmten Stadt, deren berühmter Orchestersohn im bürgerlichen 19. Jahrhundert zur Welt gekommen war, blühte jener Ehrenkodex freilich nur als eine unter vielen Originalitäten im Panoptikum der ruhmwürdigen Lokaltraditionen ihres herausragenden Musiklebens.

So ist es durchaus verständlich, daß das ererbte Selbstbild, in einer immerwährend großen Musikstadt zu leben, wie eine Fata morgana der Musikgeschichte im Bewußtsein ihrer Bewohner bis heute sich erhalten hat; denn niemand kann leugnen, daß die berühmte Stadt ihres berühmten Orchesters in noch nicht allzufernen Tagen als unbestrittenes musikalisches Athen des alten Europa habsburgerlich residierte und dominierte.

Verständlich daher auch, daß ihre nachgeborenen Bewohner von heute, die immer noch als herausragend arrogant, ignorant und intrigant verschrieen werden, ihren Augen nicht zu trauen glaubten, als sie am Ende des 20. Jahrhunderts in ihren Zeitungen lesen mußten, die letzten Tage der keuschen Tradition auch ihres hochberühmten Orchesters seien nun unwiderruflich angebrochen.

Die erste musizierende Frau des rücksichtslos in die moderne Lebenswelt verführten Orchesters wird nun zufällig, wie der Zufall so spielt, eine hübsche Maid aus einer der mit den medialen Öffentlichkeitsritualen von heute noch wenig bescholtenen Provinzen des unterdessen zum Zwergstaat geschrumpften Großreiches von einst. Und dieser ersten Frau unter der musikalischen Orchestersonne der berühmten Stadt widerfährt Schreckliches; nicht von den wie immer nach außen soigniert höflichen und oft gar ungar liebenswürdigen Herren der Orchesterschöpfung, sondern von einem Musikleben, das seit den Tagen des angeblich für immer von uns gegangenen Kaisers zu einem Betrieb von Musikkultur degeneriert ist, von dem der Kaiser nichts vernehmen dürfte, weil er einen enthemmten Kulturbetrieb nicht tolerieren würde, in dem die Begriffe von keusch und unkeusch wie unentzifferbare Ausdrücke aus dem Alphabet von Marsmenschen erscheinen.

Auch sei an dieser Stelle eine andere ruhmwürdige Lokaloriginalität des berühmten Orchestersohns der berühmten Stadt nicht vergessen; einer Harfenistin nämlich war es trotz etlicher Jahre, die sie im berühmten Männer-Orchester mitmusizierte, nicht wirklich gelungen, als wirklich erste musizierende Frau im Orchester aller Orchester von der Meute der Schakale und Hyänen des Medien- und Kulturbetriebes ausgeschnuppert zu werden. Erst als jene hübsche Maid aus der Provinz in der allzugroßen Kapitale des allzukleinen Landes in die erlauchte Schar der Streicherherren aufgenommen wurde, ging jener Papparazzi-Wirbel los, in dem einzig und unnachahmlich das kostbare Nichts der Sensationen gebraut werden kann.

Die arme Maid wußte nicht, wie ihr geschah, denn sie wußte noch nicht, daß schon seit vielen Jahren allzuviele Schakale und Hyänen aus allzuvielen Gebüschen allzuoft in das allzukleine Land einzubrechen pflegen, um das triebhafte Unwesen ihres ebenso ruhmlosen wie ruhmbegierigen Hordenwesens zu treiben. Sie wußte nicht, daß diese Horden einander zerfleischen, ja einander fressen müssen, wenn es ihnen nicht gelingt, den Stoff, von dessen Verkauf sie leben, in gewinnschaffender Menge unter die wenigen Leute des kleinen Landes zu bringen. Der Stoff, den sie verkaufen, wird in der Sprache der Marsmenschen Interesse genannt, in der Sprache der Hordenmenschen aber Dabeisein ist alles; ein offensichtlich überaus kostbarer Stoff, der jene Adabei-Sinnphilosophie eines wirklich modernen Lebens anbietet, von dem Prinz Hamlet bedauerlicherweise noch nichts wußte, weil er im Hochmut seiner interesselosen Unbedrängtheit von jeglichem Dabeisein bei der langweiligen Frage nach dem Sein oder Nichtsein hängengeblieben war.

Nun stockt aber der Verkauf jenes kostbaren Stoffes notorisch nicht nur wegen der Ungröße des Landes, sondern vor allem deshalb, weil die kulturbanausische Mehrheit seiner Bewohner in einem Tick befangen ist, der sich bei jeder Volksbefragung, die dem wirklichen Interesse und Wohlgefallen der Bewohner an ihrem Land auf die Spur zu kommen versucht, ungeniert preisgibt. Alljährlich wieder brechen die befragten Landeingeborenen, ihrem Tick-Apriori gehorchend, mit statistischer Verläßlichkeit in ein frenetisches Halleluja auf die schöne Landschaft und auf das gute Essen in ihrem Lande aus, in einen Lobgesang an diese beiden höchsten Güter ihres Lebens im Lande hierzulande.

Wie aber soll man zeitlosen Phäaken jenen kostbaren Stoff, aus dem der Zeitgeist von heute die Kulturträume und Rituale der medialen Öffentlichkeit Tag für Tag wieder aufschäumen lassen muß, als lebensunverzichtbare Speise nahebringen? Wie soll man diese schönlebenden Ignoranten von den ewig rufenden Bergen und immergrünen Hügeln, von den immerbefahrenen Pisten und immerfort besegelten Seen, wie aus den lieblichen Hütten ihrer lieblichen Täler an die stets neu gedeckte Tafel der Kultursensationen locken? Wie soll man diese notorischen Landschafts- und Speisengenießer von den prallen Tellern und schlemmenden Schüsseln, von den süffigen Flaschen und perlenden Gläsern wegholen, um ihnen die Pflichten und Wonnen des kulturellen Dabeiseins schmackhaft zu machen?

Da kommt nun eine hübsche Maid in der Rolle der ersten musizierenden Frau unter musizierenden Männern gerade recht, um der an Sensationen für jedermann eher kargen Kunstmusikszene auf die Beine des Dabeiseinmüssens zu helfen und für jenen medialen Aufruhr zu sorgen, an dem in der U-Musikszene kein Mangel herrscht.

Diese verfügt bekanntlich über einen prall und süffig gefüllten Sensationskalender von täglich neu wiederkehrenden Exzessen, Delikten, Skandalen, Verbrechen, Irrungen und Wirrungen jeder nur ferngenießbaren Art; hier läßt sich sogar die Wiederkehr Hamlets in der Gestalt des unverdächtig infantilen Bob Dylan als fortschreitendes Kulturgut verkaufen, weil seine Fans und deren Schakale und Hyänen triefsinnig gecheckt zu haben glauben, daß die Musik ihres Halbgottes ebenso unsterblich sei wie die Illias seiner Gymnasiastenlyrik.

Dieses pseudomythische Muster einer ewigen Wiederkehr ewiger Aufruhre schien sich nun angesichts der ersten musizierenden Frau im anachronistischen Paradies eines männlich musizierenden Orchesters gleichfalls verkaufsträchtig in eine Aktion unverzichtbarer Sensationen ummünzen zu lassen, weil dieser originelle musikgeschichtliche Vorfall selbstverständlich als Wiederkehr Evas im Paradies des ewigen Männerblickes aufzubereiten war. So die Logik der Schakale, die daher nur mehr einer grunzenden Hyänenfrage bedurfte, um die mediale Cheffrage von heute, was das Leben des modernen Menschen eigentlich dabeiseinswürdig mache, an einem corpus delicti festzunageln. Also wurde die mediale Gretchenfrage in der Sprache der Marsmenschen existentiell, in der Sprache der Hordenmenschen erotisch verschärft.

Daß eine Massenkundschaft am Gängelband der Dauererregung gehalten werden muß, wenn die Hyänen des Marktes ihren erbarmungslosen Konkurrenzkampf um die Sensationen genannten Kadaver von sogenannten Kultur-Ereignissen kämpfen müssen, bezweifelt niemand. Daß aber im Lande der Phäaken, Schakale und Hyänen immer noch Lebewesen leben, die davon nichts wissen und nichts wissen wollen, damit war kaum noch zu rechnen, und dennoch sollte es fortan nicht mehr bezweifelt werden.

Denn nachdem das unvermeidliche Angebot eines Schakals ergangen war, für sein vieles gutes Geld möge sich die hübsche Maid im Evakostüm in einem berühmten Boulevardmagazin als erste Musikerin eines gleichfalls berühmten Männerorchesters präsentieren, widerfuhr ihrer edlen Seele vom Lande der Aufruhr eines Erschreckens und Umkehrens zugleich. Sie wußte nun plötzlich, auf welchen schiefen Bahnen die Landschaften der Kultur aufliegen; und sie wußte auch noch von der ewigen Weisheit, die verirrten Hyänenseelen ewig verschlossen bleibt, daß die Ikonen der Lüsternheit stets verderblich sind, sowohl für die Ikone wie für deren Anbeter, weil der Geist in ihrem Anblick verdammt wird, sein eigenes Fleisch zu verzehren, anstatt sich mit heiligem Gewissen vom himmlischen Manna zu ernähren. Und da es in gewissem Sinn nur Gott gibt, und alles andere Klimbim und Vergänglichkeit ist, ließ sich die hübsche Maid vom unberühmten Lande gelassen die tollwütige Chance entgehen, als Shootingstar in einen Himmel geschossen zu werden, den es nicht gibt.