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049 Glückliche Überfahrt nach Absurdistan

September 2001

Arnold Schönbergs Prophezeiung über die künftige Bedeutung seiner Musik scheint sich verspätet doch noch zu erfüllen: wie die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Musik unterschätzt habe, so werde die zweite Hälfte seine Musik überschätzen. Denn neuerdings sind nicht nur die Musikkritiker, sondern auch das Konzertpublikum bereit, dem vom Urmeister der musikalischen Moderne vorgegebenen Muster einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu folgen.

Gelangt ein dodekaphones Orchesterwerk des einst geschmähten und vertriebenen Komponisten zur Aufführung – sandwichartig angesetzt zwischen zwei Klavierkonzerten Beethovens wie kürzlich bei einem österreichischen Sommerfestival – dann applaudiert das Publikum dem Werk Schönbergs ebenso begeistert wie den Werken Beethovens. Und die Musikkritiker schwärmen über die nun endlich hörbar gewordene Schönheit der dodekaphonen Musiksprache wie einst die Musikkritiker der Romantik über die neuesten Werke ihrer damals aktuellen Genies. Die Welt der Musikgeschichte scheint endlich wieder in Ordnung zu geraten. Für die Zukunft der Musik lassen sich daher die allerschönsten Hoffnungen hegen, denn das vormals natürliche Verhältnis zwischen Publikum und neuer Musik, das den Werken der lebenden Komponisten den Vorrang vor den Werken der verstorbenen einräumte, scheint wieder in Sicht und Reichweite gerückt zu sein.

Wie dumm muß das 20. Jahrhundert gewesen sein, ließ es doch die natürliche Liebe des Publikums zur aktuellen neuen Musik durch äußere Einflüsse verbittern und versauern – verführt von den Reizen eines rückständigen Musikgeschmackes der Gesellschaft, gefesselt an die Katastrophen der Weltpolitik, geblendet von den Machenschaften des Musikmarktes.

Höchste Zeit daher, daß in der Musikgeschichte nach einem völlig gestörten 20. Jahrhundert ein wieder störungsfreies 21. Jahrhundert die Agenden eines natürlichen Ganges der Musikgeschichte übernimmt. Nichts geht über eine gesunde Entwicklung einer gesunden Natur – auch in den Stürmen der Geschichte ist die ewige Blume großer Musik dank rührigen Zuspruchs eines wieder gesundenden Musiklebens nicht umzubringen.

Die Zeichen der Musikgeschichte stehen daher am Beginn des 21. Jahrhunderts auf glückliche Überfahrt: der edle Geschmack des modernen Konzertpublikums unter der Führung der noch edleren Intelligenz moderner Musikkritiker und Musikmoderatoren wird das Diktum der modernen Musikhistorie in die Tat begeisterter Konzertsäle umsetzen, wonach sich jeder blamiert, der den Werken der neuesten oder gar der Genies einer abgelaufenen Moderne seine enthusiastische Anerkennung versagt. Wer diesmal nicht aufspringt auf den abfahrenden Zug, kann sich später nicht mehr auf ungünstige Umstände berufen.

Zwar ist noch ungeklärt, ob die je neueste Musik von heute nicht die schönste und beste aller bisherigen sein müsse und daher einen begeisteteren Applaus und Zuspruch verdiene als die gewesene Musik von gestern und vorgestern. Denn nach dem einen Diktum des Propheten Schönberg hat der aktuelle Komponist als spiritus rector der Musikgeschichte stets die Aufgabe, deren Entwicklung radikal voranzutreiben und sich und seine Werke als Märtyreropfer an den Geist der Entwicklung zu stets höherer und besserer Differenzierung der Musik darzubringen. Wer kennt nicht Schönbergs Griff in die rhetorische Pathoskiste der Moderne: „Einer hat es sein müssen“. Freilich sollten wir dann beizeiten vom Sandwich-Prinzip unserer epochen-alexandrinisch gemischten Konzertprogramme Abschied nehmen, weil es schlicht einer Beleidigung der Größe von Schönbergs Musik gleichkäme, eines ihrer Werke zwischen zwei Werken Beethovens einzuquetschen, nur um das Publikum an etwas zu gewöhnen, dem anscheinend nur durch Gewöhnung beizukommen ist. Dies macht nur Sinn, wenn man den musikgeschichtlichen Unsinn in den Köpfen der Veranstalter und Musiker als unüberwindlich hinnehmen muß. Anzuraten wäre vielmehr, der historischen Entwicklung zu stets höherer Differenzierung der Musik auch in den heutigen Konzertprogrammen stattzugeben und das Publikum nicht mehr als Nachhilfeschüler und Mitläufer moderner Pädagogik und Propaganda zu degradieren. Auf einen Aperitif Renaissance und Barock folge als Vorspeise Vorklassik und Klassik, danach als Hauptspeise opulente Moderne, um mit der aktuellen Post- oder Zweiten und Dritten Moderne als Nachspeise abzuschließen. Dies ergäbe wenigstens einen musikgeschichtlichen Sinn, nachdem ein höherer und tieferer in der Musik und ihrer Geschichte angeblich nicht erschienen ist, wie uns die Penaten unserer modernen historistischen Musikreligion seit hundert Jahren versichern.

Versucht aber die zur gewöhnlichen Gewohnheit gewordene Sandwich-Idee, dem anderen Diktum des Propheten Schönbergs nachzukommen – jeder Prophet der Moderne hat mindestens zwei einander widersprechende Prophezeiungen im Talon, dann kann nämlich nichts schiefgehen, wenn der Tag des Dann anbricht – wonach nämlich die komponierenden Genies der Musik zu allen Zeiten zeitlose Genies sind, die der Entwicklung der Musikgeschichte und damit ihrer Gegenwart zugleich spotten, weil sie in jeder Epoche gleich meisterliche und gleich geniale Werke in die Welt einer stets unvergleichlichen Musik zu setzen vermögen, dann findet ohnehin das Wunder aller Wunder statt, und die Konzertprogramme sollten fortan mit einem Epochenwürfel erstellt werden.

Da es sich beim Fall der sich selbst erfüllenden Prophezeiung Schönbergs nicht um eine Meldung aus Absurdistan, sondern um eine aus dem österreichischen Musikleben handelt, muß die Sache natürlich einen zusätzlichen Hintersinn, einen doppelten Boden haben, denn in Österreich kann nichts so ernst sein, daß die Komik des Ernstes der Lage nicht immer noch ernster wäre als der Ernst des Lebens selbst. Nur das Volk der erklärten Nichtdenker konnte einen Herrn Karl als komischen Ableger und ernstgemeinten Vor- und Mitläufer Adolf Hitlers in eine Welt setzen, als deren alteuropäischen Nabel die Musikstadt Wien sich nicht mehr zu erklären brauchte.

Bekanntlich gefiel sich Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg lange und prächtig in der Rolle des Opfers; mittlerweile erkennt es sich schmerzhaft und gar nicht mehr prächtig im unbetrügbaren Spiegel der Geschichte als Opfer seiner Opferrolle. Da kommt die verspätete Wiedergutmachung an den musikgeschichtlichen Opfern des Naziregimes und seiner Mitläufer und Mitverbrecher scheinbar zur rechten Zeit. Wer sich jetzt als mitklatschender Applaudant betätigt, um Schönbergs Musik wie eine von Beethoven zu feiern, hat gleich mehrere Fliegen auf einen begeisterten Schlag erschlagen. Erstens ist er auf den bequemsten aller Wiedergutmachungszüge, auf den ästhetischen, aufgesprungen; zweitens bekennt er sich als Kenner der Musikgeschichte, er hat die Lektion der modernen Musikhistorie und ihrer Popularpropaganda brav gelernt, daß nämlich jede Zeit ihre große Musik hervorbringe, man muß nur etwa hundert Jahre lang ein wenig an sie gewöhnt werden; drittens bekundet er seine Überlegenheit über das Konzertpublikum des vorigen Jahrhunderts, dem sonderbarerweise eine Musik unbehaglich zu Herzen ging, die doch auch nur Musik ist wie jede andere, weil in ihr auch nur Töne vorkommen, wie in jeder anderen auch; und viertens darf er sich als Vorreiter eines Publikums von morgen preisen, dem nie wieder unterlaufen wird, als Mitläufer eines Geschmackes von gestern und vorgestern an den Pranger der Musikgeschichte gestellt zu werden. Jetzt endlich haben wir ein von allen Mitläufern gesäubertes Musikpublikum, das auf der Höhe unserer Zeit ist; seine Eingewöhnung ist vollbracht; sein Wissen ist phänomenal; sein Urteil ist autonom; sein ästhetischer Geschmack ist untrüglich; sein Schönheitssinn ist überzeitlich universal; seine Begeisterung unerschöpflich; kurz, der Geist einer großen Zeit hat uns wieder eingeholt.