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045 Der musikalische Privatkatechismus

Juni 2001

Teilt uns ein Erwachsener des pluralistischen Musikkonsumlebens von heute mit, der „zeitlose Musikstil“ eines Miles Davis bedeute ihm die höchste aller musikalischen Erfüllungen, und unzweifelhaft sei Bob Dylan ein unsterbliches Genie menschheitsbeglückender Kunst – musikalisch wie poetisch – dem die Menschheit seit den Tagen Shakespeares und Beethovens nicht mehr begegnet sei, dann wissen wir, daß aus den Worten dieses säkularen Musikkonsumenten von heute die unvergeßlich imprägnierten Musik-Euphorien seiner Kindheit und Jugend zu uns und zu ihm sprechen. Und wir wissen zusätzlich, daß er bis an das Ende seiner Lebenstage dem unbekehrbaren Geschmacksglauben seines unwissenden Musikverhältnisses die Treue halten wird.

Was dem musikliebenden Hänschen von gestern eingeübt wurde, das kann und will der musikversiegelte Hans von heute nicht mehr verlassen. Mag er sich auch in Toleranz gegen den vielfältig zerstreuten musikalischen Geschmacksglauben seiner Zeitgenossen üben, mag er sich gelegentlich und schon aus Gründen entlangweiligender Abwechslung quer durch den reichhaltigen Gemüsegarten der Musiken von heute bewegen, am Ende wird er stets wieder zu seinen Anfängen zurückkehren, zu den unvergeßlichen Musikträumen und Musikschäumen seiner Kindheit und Jugend.

Der erwachsene Musikkonsument von heute ist somit der infantile Appendix seiner Kindheit und Jugend von gestern, und es fragt sich, was daran nun wieder zu bekritteln sein soll. Anstatt die Musik dankbar dafür zu befeiern, daß sie dem modernen Menschen ein Reich ewiger Kindheit beschert habe, in dem er sich von den Mühen und Zwängen eines Lebens in einer labilen Gesellschaft ausruhen und ablenken könne, einer Gesellschaft radikalisierter Moderne, die mit den Turbulenzen ihrer technisch-wissenschaftlichen und politisch-ökonomischen Revolutionen kaum zu Rande kommt, glaubt der Musikphilosoph einer ewigen Nörgelei im Namen dubioser Wahrheiten von Kunst und Musik treu bleiben zu müssen, als ob der Zug von objektiven Normen und Geltungen im Reich der Musik nicht längst schon von der Geschichte der Menschheit, von ihrem aktuellen Zug in die Zukunft, abgekoppelt worden wäre.

Als es noch Sinn machte, gegen den Schwachsinn in der Musik und ihrer Deutung anzuschreiben, also bis zum 31. Dezember 1899, wäre die These, daß dem musikliebenden Menschen doch auch die Musik Bachs, Beethovens und Wagners bereits in seiner Kindheit und Jugend eingeimpft werden müsse, wenn er sie im Reifezustand des musikalisch Erwachsenen als hohe und unüberbietbare Kunstmusik erfahren und anerkennen zu können glaube, einer verständnislosen Perplexität und dem Vorwurf eines böswilligen Ignorantentums begegnet. Denn nicht nur verfügte die Musik vor dem 20. Jahrhundert in allen ihren Segmenten und Funktionen über eine Sprache und Ästhetik von verbindlicher Universalität, auch das ästhetische Oben und Unten im Verhältnis von Kunst- und Unterhaltungs- und sonstiger Musik war werthierarchisch noch als bürgerliche Selbstverständlichkeit gesichert; es wurde kaum als Problem, geschweige denn als Massenphänomen einer möglichen Verelendung des musikalisch-ästhetischen Geschmackes wahrgenommen.

Die aktuelle Geschmacksbildung des gesamten kunstmusikalischen Publikums als Repräsentant der bürgerlichen Gesellschaft war daher im 19. Jahrhundert noch einmal und zum letzten Mal fähig und aufgerufen, Urteile zu fällen, die einen objektiven Widerstreit über die stets aktuelle Erfahrung neuer Musik austragen konnten. Davon gibt sowohl der Streit der musikalischen Nationalgeschmäcker im 19. Jahrhundert wie auch der Streit um die Wahrheit oder Unwahrheit der Musiken von Wagner und Brahms oder von Wagner und Verdi wie auch der musiköffentliche Streit der einstigen universalen Musikgattungen untereinander bis heute ein beredtes Zeugnis ab.

Zum letzen Mal in der Geschichte der Musik konnte und mußte an der Grenze zum 20. Jahrhundert ein im Wesen der autarken abendländischen Kunstmusik angelegter musiklogischer Gegensatz öffentlichkeitsfähig ausgefochten werden, nämlich jener von Antizipation künftiger und Konservierung der je gegenwärtigen Kunstmusik als einer vermeintlich ewigen, weil ewig reproduzierbaren Gestalt von Musik – und dies nicht nur im Feld der avantgarden Gattungen und Stile, sondern auch im Reich der konfessionell aufgespaltenen Kirchenmusik. Der musikimmanente und zugleich musiköffentliche Widerstreit um das musikästhetische Vorrecht der antiqui oder moderni hat daher die gesamte abendländische Musik seit spätestens dem 12. Jahrhundert nicht nur begleitet, sondern mitbegründet. Und der absolute Grund diesbezüglich lautet: findet sich endlich auch das Wesen der Musik – preziöse Nachzüglerin von Architektur, Skulptur, Dichtung und Malerei – , in der Geschichte der Menschheit auf ihrer unüberbietbaren Entwicklungsstufe einer universalen Selbstentdeckung ihrer universalen ästhetischen Möglichkeiten als Kunstmusik ein, dann muß die Musik diese Möglichkeiten in einer Geschichte ihres Wesens verwirklichen, in der unentwegt die Kräfte der sogenannten Fortschrittsparteien mit jenen der sogenannten Rückschrittsparteien traditionsschaffend wechselwirken. Dieses absolute Wechselwirken, das annodazumal ein auch musikimmanent veranstaltetes war, wird am Beginn des 20. Jahrhunderts sogleich ein nur mehr von außen veranstaltetes und konstruiertes, weil jener objektive Widerstreit im Inneren der Musik obsolet werden mußte.

Diese Wahrheit hat übrigens die musikalische Postmoderne am und vom Ende des 20. Jahrhunderts, nicht nur als kompositorische, sondern auch als musikhörende und musizierende Postmoderne, rückwirkend erkannt und bestätigt. Die antagonistisch traditionsbildenden Kräfte der musikalischen Antizipation und Konservierung, der musikalischen Avantgarde und Retardarde, sind ineinander verglüht, und daher ist auch das einst frevelhafte Verfehlen des Gradus ad Parnassum im Reich des musikalischen Geschmackes, der sich einst auf der geschmacksverbindlichen Empore von der musikalischen Kindheitstufe bis hinauf zur Stufe eines musikalischen Auf-der-Höhe-seiner-Zeit-Seins vollziehen konnte und mußte, für den Menschen von heute erloschen. Wem die Siegermusik des aktuellen Song-Contest vertraut ist, dem darf heute der Imperativ nicht vorgehalten werden, er solle sein Urteil über seine Lieblings-Songs vorerst noch zurückhalten, weil er die neuesten Werke von Rihm und Ligeti noch nicht kenne und noch nicht beurteilt habe.

Bereits das 20. Jahrhundert hat daher musikgeschichtlich einsehen müssen, daß es Illusion war, wenn erstens Schönberg versuchte, seine Musik als Synthese von Wagner und Brahms in einem transtonalen Material- und Formfeld von Musik, das ein vermeintlich pantonales sein sollte, kompositorisch und theoretisch bekenntnisreich zu stilisieren; wenn zweitens Adorno versuchte, die einst universale Differenz von antiqui und moderni noch einmal am vermeintlich universalen Gegensatz von Schönberg und Strawinsky, später an dem von Darmstadt und Rest der Welt fortzuführen; wenn man uns drittens heute die Ruinen der musikästhetischen Nationalgeschmäcker von einst als immer noch lebendige nicht nur in der Afterästhetik des Nationenpops zu verkaufen versucht; wenn viertens versucht wird, die Musik des Jazz aller Richtungen als musikalische Synthese von U und E im Rang einer universalen Kunstmusik zu präsentieren; wenn fünftens Musiker oder Komponisten versuchen, auf ihren Reiß- oder Improvisationsbrettern ein Cross-Over von U und E zu züchten, weil deren universale Synthese nochmals möglich sein soll; wenn sechstens unbedarfte Gemüter die allerdings nur mehr pädagogische Sehnsucht nähren, die einst kanonisierbare Hierarchieselbstverständlichkeit von Oben und Unten im Reich der Musik wäre auch inmitten der totalen Ausdifferenzierung aller Musik-Richtungen von heute wieder aufzurichten; und wenn man schlußendlich siebentens die Stunde einer sogenannten „Zweiten Moderne“ ausruft, in der uns vergönnt sein werde, die illusionären Werte-Hierarchien der ersten Moderne irrtumsfrei zu restaurieren und öffentlichkeitsfähig der modernen Gesellschaft zu installieren. Die Moderne hat nicht aufgehört fortzuexistieren, nur weil ihre denkschwachen Vertreter, vom nekrologischen Wort Post aufgeschreckt, das Ende ihrer Tage gekommen glaubten. Die Moderne ist ihre ewige Fortexistenz, weil die als freie Welt freigesetzte Freiheit durch nichts mehr aus der – ewig modernen – Welt zu schaffen sein wird. Die künftige Welt wird nicht mehr aufhören, eine moderne zu sein.

Dem widerspricht nicht, daß das musikalisch-ästhetische Geschmacksurteil des modernen Menschen in der Gegenwart weithin zum Privatkatechismus eines infantilen Repetitoriums der musikalischen Euphorien seiner Kindheit und Jugend verkommen mußte. Die Antinomie des musikalisch-ästhetischen Geschmackes unter den Bedingungen der sich verschärfenden Moderne lautet daher unausweichlich, daß die stets vorauszusetzende Autonomie des ästhetischen Geschmackes und seines freien Urteils über Musik ebenso unaufgebbar bleibt, wie sie zugleich unhaltbar geworden ist. Gibt es keinen nichtnormalen Musikgeschmack mehr, gibt es auch keinen normativen Gemeinsinn von musikalischer Sinnlichkeit mehr, ohne welchen aber eine universal vollziehbare musikalische Geschmacksbildung – vom Gradus der Kindheit bis zum Parnass des Erwachsenen – zur Illusion wird.

Damit sind wir zur Alpha-und-Omega-Frage des heutigen Essays vorgedrungen: Was könnte der Sinn in dem scheinbar unsinnigen Geschehen sein, daß die Moderne den modernen Menschen nach seiner religiösen nun auch seiner ästhetischen Kompetenz beraubt?