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046 Beethovens Kadenz

Juni 2001

Jede ursprüngliche Einheit kann nur in ihrer realisierten Zweiheit als Einheit erscheinen. Davon weiß noch die Sprache unserer Worte, die sich dem Phänomen des Erscheinens von Letztgründen meist ohnmächtig nähert, ein wortarmes Lied zu singen. In der Musik und ihrer Theorie war und ist das Wort Kadenz worteinfältigerweise berufen, den universalen Selbstgegensatz der vollendeten Tonalität traditioneller Musik zu bezeichnen.

Denn die Kadenz ist sowohl der grammatikalische Ursatz homophoner Tonalität wie zugleich als Kadenzieren das Extemporieren der prätemporären Struktur des universalen musikalischen Schlusses der Kadenz. Alle Themen der traditionellen Musik sind daher Kadenzthemen wie zugleich nur als kadenzierende Kadenzen der e i n e n Kadenz deren Extemporierungen zu jenen erscheinenden Intemporierungen der Kadenz, die wir Musik und Musikwerk zu nennen pflegen. Im Extemporieren von gegliederten Motiven und Themen als Teilgestalten von individuellen Werken vermittelt sich die Prätemporiertheit der Kadenz zur werkgestalteten Intemporiertheit des Vernunftschlusses einer universalen mehrstimmigen Musik. Dennoch ist weder die Periodik noch die Motivik-Thematik noch die finale Zyklik noch gar die Ausdruckshöhe und -tiefe der konkreten tonalen Musikmelodie aus der Gestalt der Kadenz abzuleiten.

Zwar verhalten sich Dominante und Tonika in der Kadenz nicht wie Prädikat und Subjekt im Urteil des Begriffes, und dennoch ist das kadenzielle Verhältnis der Klänge das Grundurteil der harmonisch vollendeten Musik, und die Kadenz daher jener musikalische Schluß, in dem eine Folge von Klängen nicht bloß aufhört und auch nicht bloß irgendwie anfängt und irgendwie weitergeht, sondern mit absolut bestimmten Anfängen anfängt, um sich durch wirkliche Mitten zu wirklich schließenden Schlüssen mit sich zu vermitteln. Das harmonisch-melodische Alphabet der Kadenz ist daher im Reich der Musik durch sich selbst verstehbar; es regiert mimetisch im Rang einer universalen Selbstverständlichkeit, die man nicht in ihren Erstgründen theoretisch verstanden haben muß, um ihre musikalischen Erscheinungen praktisch verstehen und musizieren zu können. Unsere sogenannten Allgemeinen Musiklehren präsentieren sie daher als Revue von Akkorden, über deren inneren Zusammenhang tiefere Reflexion nicht lohne, weil sich dieser angeblich auch theoretisch von selbst verstehe.

Und selbstverständlich ist die Kadenz nicht aus der Akustik von Schallwellen, nicht aus der Physiologie des Ohres, nicht aus der Chemie des Gehirns und nicht aus der Biologie des sogenannten Nervenapparates abzuleiten und zu begreifen, sondern allein aus der Geschichte der Musik. Diese aber ist nicht das kontingente Resultat zufälliger Willkür, nicht das Ergebnis eines musikextern veranstalteten Würfelspieles von Klangwelten im Reigen von Wechsel-Epochen, sondern zurückzuführen auf die Selbstentdeckung des unsterblichen Begriffes der Musik in seiner eigenen autonomen und im christlichen Abendland auch autarken Geschichte von Musik als Tonkunst. Was auch immer die Musik an Freuden und Wonnen, an Leiden und Klagen der Menschheit mitzuteilen hat und hatte, auf der Stufe ihres autarken Ideals war sie zugleich aufgerufen, alle universalen apriorischen Apperzeptionen in ihrem Material und in ihren Formen zu entdecken, um sie als universal sprechende Ausdrücke von Geist ihren Gestaltungen einzuprägen.

Bekanntlich war der heroische Individualstil, den Ludwig van Beethoven in den Jahren 1800 bis 1810 der musikalischen Menschheit schenkte, nicht die private Marotte eines heroischen Einzelgängers, die man wieder vergessen könnte und sollte, sondern die universale Offenbarung einer einmalig auratischen Freiheitsstufe von Musik in ihrer Geschichte, die als sich vollendende Schönheit autarker Kunstmusik erscheinen mußte und konnte. Und die Frage, ob jenes Dezennium der Musikgeschichte auserwählt war, weil in ihm Beethoven wirkte, oder ob Beethoven auserwählt war, weil er in diesem Dezennium nach den Entdeckungen Haydns und Mozarts weiterentdeckend wirken durfte, ist jene populäre Scheinfrage, der wir im populären Denken über Musik und Musikgeschichte immer wieder begegnen, weil ihre Dummheit exakt die blockierte Grenzpassage zu jenem Land des philosophischen Denkens über Musik markiert, in das einzureisen das nichtphilosophische Denken nicht auserwählt ist.

Beethovens Fünftes Klavierkonzert war und ist bis heute eine herausragende Inkarnation dieser auserwählten Aura von Musik als Tonkunst, von dessen stets wiederkehrender Wiederaufführung wir uns daher nicht trennen können, obwohl die Zeit seines erstmaligen Erscheinens in der Geschichte der Musik bereits 190 verflossene Jahre zurückliegt.

Sein Anfangen, Vermitteln und Aufhören ist uns mittlerweile so bekannt und selbstverständlich, daß kaum untertreibt, wer behauptet, mit der banalisierenden Zunahme des Bekanntheitsgrades werde umgekehrt proportional der Grad der Unerkanntheit von Beethovens Fünftem Klavierkonzert gesteigert.

Schon den Prachtprolog seines Anfanges kann niemand, der ihn bewußt vernommen, jemals wirklich vergessen, obwohl niemand jemals daran denkt, sich über das Geheimnis seiner Vollkommenheit ergründend verwundern zu wollen. Scheingelassen nehmen wir hin, daß uns dieses urbildliche Anfangen der zentralen Gattung Klavierkonzert sowohl das Orchester als Hüter der Kadenz wie auch und zugleich und in eins damit den Solisten als Kadenzierer der Kadenz präsentiert. Als ob diese ins Urbild einlenkende Verwandlung des von Mozart und Haydn vorgegebenen Verhältnisses von Orchesterritornell und Solistenauftritt nicht eine schwer errungene Revolution und vollendende Befreiung, sondern immer schon eine banale Selbstverständlichkeit gewesen wäre, die mittlerweile jeder kennt, der glaubt, die sogenannte klassische Musik wie seine Hosentasche zu kennen.

Mittlerweile kennen wir bekanntlich auch die gesamte abgeschlossene Geschichte des Klavierkonzertes, von seinen barocken Anfängen bis hin zu den äußersten Streckungen seiner Sprach- und Kommunikationsmöglichkeiten in Bartoks Klavierkonzerten. Gerade weil die musikalische Kommunikation von Kollektiv und Ich, die uns die Idee des Klavierkonzertes in der vollendeten Biographie ihrer Werke repräsentiert, nicht mehr Vorbild einer gesellschaftlichen Kommunikation sein kann, beginnen wir seit dem 20. Jahrhundert die Vollendung jener musikalischen Kommunikation in der Ur-Geschichte des Klavierkonzertes als einen kairos der Musik zu erfahren und zugleich zu akzeptieren, daß wir nunmehr keine neuen Klavierkonzerte mehr benötigen, da im Material- und Formengespinst der Neuen Kunstmusik die vollendete Kommunikationsgeschichte der universalen Gattung von einst nicht mehr überboten werden kann und soll.

Diesem unbewußten kollektiven Wissen entspringt daher nicht nur der in unserem Musikleben immer noch lebendige kollektive Wille, den Werken der Tradition stets wieder zu begegnen, sondern auch die nicht wenig verwunderliche Tatsache, daß sich stets wieder geniale Talente finden, die fähig sind, die Biographie der traditionellen Konzertgattungen als unersetzlichen Teil noch unseres heutigen Lebens erfahrbar zu machen.

Und dies, obwohl wir zugleich wissen, welches Schicksal die universale Kadenz der homophonen Tonalität mittlerweile ereilt hat. Sie muß sich in den versinkenden Sümpfen aller Regionen der U-Musik als verblödender Arrangeur hirnrissig unvergeßlicher Ohrwürmer verdingen, um den einst göttlichen Odem ihres sinnschaffenden Musikatmens auszuhauchen.