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047 Im Clinch der Axiome

Juni 2001

Als Adorno sich in den euphorischen Darmstädter Tagen der Neuen Musik zu einem strukturtechnischen Credo als musikphilosophischem Axiom bekannt und als Losung des Tages für ein künftig endlich verbindliches Erkennen, Musizieren und Erleben nicht nur der Neuen Musik ausgerufen hatte, folgte diesem Ruf eine ganze Generation von Musikhistorikern. Die Losung war kühn, wenn auch nicht ganz neu; denn bereits die formalistische Musikästhetik des 19. Jahrhunderts, das musikästhetische Denken eines Zimmermann, Bolzano und Hanslick, hatte die positivistische Fetischisierung des Formmomentes an jener Musik, die sich soeben als Tonkunst autonomisiert hatte, immer wieder praktiziert.

Adornos These, daß der Gehalt musikalischer Kunstwerke allein in ihrer Technik liege und daher durch deren technische Analyse zu erschließen sei, bescherte uns jene Legion buchdicker Werke-Analysen, die an den Werken der Schönberg-Schule, die für das Credo des Musikphilosophen wie geschaffen schienen, deren formalen Beziehungsreichtum als geistigen Reichtum einer Neuen Musik vorzuführen trachteten – weshalb die Neue Kunstmusik verdienen sollte, ebenso, wenn nicht sogar leidenschaftlicher, geliebt zu werden, als der alten Kunstmusik in der Mitte des 20. Jahrhunderts immer noch zuteil wurde.

Jede Note der neuen Klänge wurde vom Fuß auf den Kopf, jedes Motiv von seinen atonalen Füßen auf ebenso beziehungstiefe Köpfe gestellt, um mit der Kraft einer streng metaphernlosen Sprache die musiktechnischen Verfahren und Strukturen der Neuen Musik durch eine ebenso technische Sprache musikwissenschaftlicher Methoden und Termini zu benennen. Die neue Musikanschauung sollte als gelehrte zur Welt kommen, und in den Euphemismen „musikalischer Fachausdrücke“ kulminierte der Wahn, die Eifeltürme der Neuen Musik als rein technische Kunstwerke ausbuchstabieren zu können.

Was empfinden und was denken wir heute, wenn wir die buchdicken Elaborate der musikwissenschaftlichen Analyselabors der so rasch altgewordenen Tage von gestern durchblättern, wenn wir den Zeugnissen eines ebenso leidenschaftlichen wie hörigen Musikdenkens aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederbegegnen und feststellen müssen, daß diese Wahrheiten der Vergangenheit schal geworden sind? Und wie ist jenen zumute, die heute ihre Früchte von damals nochmals zu genießen versuchen? Kann ihnen wohl zumute werden angesichts des unerbittlich offenbar gewordenen Scheiterns des einst euphorischen Versuchs, eine Neue Musik als neue musikalische Liebesreligion unserem Musikleben zu installieren, indem man sie zunächst als gnostische Erkenntnisreligion unter das Volk zu bringen versuchte, in der Annahme, diese sei ohnehin die eigentliche von jener? Der Versuch, säkulare Musik in Wissenschaft zu verwandeln, muß Füße mit Köpfen verwechseln, und die Geschichte dieser vertauschten Köpfe konnte lediglich jene wissenschaftliche Tragikomödie einer traumatischen Verwechslung zeitigen, vor der wir den wissenschaftlichen Nachwuchs von heute und morgen bewahren sollten.

Wie oft mußten die euphemistischen Klavierstücke Schönbergs als Sprengmeister eines ersten Bruchs im Gebäude der Tonalität auch dazu herhalten, die Chimäre einer neuen Art von Großkomposition aufzurichten, die dem musikgeschichtlichen Rang von Beethovens Klaviersonaten und Bachs Wohltemperierten Klavier nicht nachstünde. Reicher als der überreiche Beziehungsreichtum der neuen Formen und Techniken schien plötzlich nur mehr die Armut der armseligen Beziehungsarmut der alten Formen und Techniken zu sein.

Nun vernimmt aber noch heutzutage jedes Kind, sofern sein ungetrübtes spontanes Verstehen der Beziehungsfähigkeit von Klängen nicht durch die anekdotischen Sophismen der Schwatzmeister unserer Musikmoderationen vernebelt oder durch den Hammer der Disco guillotiniert wurde, daß Schönbergs op.11 und op.19 musikalisch absolut anders sprechen, weil sie über und von etwas Anderem sprechen als worüber etwa Beethovens Bagatellen dereinst zu sprechen beliebten, obwohl die Schönbergsche Idiomatik im vergangenen Säkulum eine musikalische Mimikry an die traditionelle Musik nochmals schlaugenial bemühen konnte.

Diese grundsätzliche und nicht nur formal-technische Andersheit einer anderen Musik gegen die eine Musik der Tradition verbirgt sich aber dem euphorischen Analytiker der neuen Klänge, weil er die andere Seite von Adornos Axiom in die Abstellkammer einer vermeintlich nur abstrakten philosophischen Spekulation verwirft, wenn er sich mit ganzem Eifer dem vermeintlich einzig konkreten Erkenntnistun in seiner Analyseküche hinzugeben beginnt.

Kein philosophisches Axiom über Musik ist möglich ohne ein zweites, denn im Faktorenunterschied, den jedes Gesetz, von was es auch sei, enthalten muß, arbeitet jene universale Negation, die verschiedene Axiome für jede Sache dieser Welt gebiert, weil jede nur als in sich unterschiedene als Sache möglich und aussprechbar ist. Auch die Worte Inhalt und Form entstammen nicht der Würfelkammer würfelnder Grammatiker und gleichfalls nicht der zufälligen Konvention verabschiedbarer Konversation; und in keiner Sache dieser Welt kann ein Axiom das andere Axiom derselben Sache restlos zum Verschwinden bringen. Im Begriff der Sache sind daher deren Gesetze freie und zugleich gesetzte Momente.

Das unmittelbar andere Axiom des einen strukturtechnischen Axioms erschien in Adornos Musikphilosophie bekanntlich als Theorem eines neuen Inhaltes einer wirklich Neuen Musik. Weil die herkömmliche tonale Sprache der Kunstmusik zum Werkzeug böser Zwecke und Institutionen verkommen und dennoch immer noch allgegenwärtig sei, existiere die neue Kunstmusik rechtens allein unter der Verpflichtung, gegen diesen universalen musikgeschichtlichen Verblendungszusammenhang, in dem sich der allgemein gesellschaftliche reproduziere, anzukomponieren. Während die imperialen Praxen von Unterhaltungsmusik und Jazz als unschuldig-schuldige Werkzeuge der Verblendung agierten, agiere das traditionelle Musikleben bewußt regressiv und sich blendend, indem es die tonale Sprache in der prägenden Gestaltung durch die traditionelle Kunstmusik ubiquitär halte, anstatt sie endlich in eine wirkliche Vergangenheit von Musik so zu verabschieden, daß endlich die neue Kunstmusik und deren neue Sprachen so ubiquitär und quasinatürlich werden können, wie die traditionellen Musiken anscheinend immer gewesen sind, obwohl diese merkwürdigerweise niemals im Auftrag einer universalen Verweigerung das Licht der Welt erblicken mußten.

Nur eine Musik, die sich der Verweigerung nicht verweigere, so das Axiom Adornos, habe noch eine Chance, die Allgegenwart des universalen Verblendungszusammenhanges aufzuzeigen und anzuprangern und eines neuen schönen Tages vielleicht sogar wieder die ästhetische und musikalische Kraft, das kollektiv begangene Verhängnis kollektiv aufzubrechen.

Das Inhaltsaxiom von Adornos Musikphilosophie enthält daher einen ebenso heroischen wie zugleich ungewissen Reiseauftrag für eine wahrhaft Neue Musik in die Zukunft der Musikgeschichte, einen Erkenntnis- und Reiseauftrag, von dem freilich nichts übrig bleibt, wenn die Analytiker der musikhistorischen Zunft nur die andere Seite dieser Medaille, jenes strukturtechnische Axiom, zur Leitinstanz ihrer Erkenntnisarbeit erheben.

Der universale Inhalt verpufft spurlos bereits in den Axiomen und Intentionen der Analyse, und kein Ersatz für sein Verschwinden in der Analyse ist die Aufrichtung und äußerliche Zuführung eines vermeintlich universalen expressionistischen Stils als Fortsetzung der traditionellen Stile, weil dieses Konzept einer ungebrochenen Moderne an unheilbarer Selbstwidersprüchlichkeit krankt, wie auch die expressionistischen Privatissima von Schönbergs biographischem Wollen und Leiden untaugliche Ingredienzen sind, um jene behauptete musikgeschichtliche Rangerhöhung des technischen Beziehungsreichtums in Op.11 als musikästhetischen und musikgeschichtlichen Höhepunkt zu beglaubigen. Bei der Analyse von Takt 11 in Schönbergs op.11/1 am elften Tag der Analyse eines angeblich epochemachenden Werkes durch den elften Analytiker im elften Jahr nach dem Zusammenbruch des Kalten Krieges sagt uns das konkrete Tun der Analyse immer nur das Konkrete: daß alles so ist, wie es wirklich ist – ein Ungeheuer an Reichtum von erklingenden Klangbeziehungen, kaum weniger reich als jene zwischen den angenamten Inhalten der Zahl 11.

Natürlich fragt uns der analyseverliebte Heros der reinen Formenwelten im Reich der Musik, und nicht nur in dieser, ob wir denn nicht gezwungen sind, als Analytiker des Analysierbaren alle Ästhetik und Philosophie zum Teufel schicken zu müssen? Wenn wir den Reichtum und die Größe der musikalischen Formen und Techniken eruieren wollen, dann müssen wir doch alle Symbolik und Metapherei, alle musikexterne Axiomatik und alle musikfremden Gedanken fahren lassen wie die Blähungen eines musikfremden Dämons?

Darauf ist aber die Gegenfrage ebenso natürlich: woran hätte der sogenannte Reichtum der Beziehungen ein Kriterium für wahren Reichtum, wenn nur der Wille zur Form und Technik regiert? Und woran hätte die behauptete Größe dieses Reichtums ein ästhetisches und musikgeschichtliches Kriterium, wenn gleichfalls nur der Wille zur Form und Technik regiert? Das Axiom des Beziehungsreichtums benötigt ein Korrektiv gegen Spiel und Zufall, um nicht in den Labyrinthen von deren Axiomen spurlos zu verschwinden. Und ein universales Korrektiv kann selbstverständlich nur im universalen und individuellen Sprechen von Musik aufgefunden werden und konstituierend am Werk sein. Ob in der Musik und ihrer Geschichte eine Sprache oder eine Nichtsprache spricht, kann nur erfahren und erkannt werden, wenn darin geprüft wird, zu welchen Zwecken welche Ausdrücke von Inhalten durch welche Formen und Techniken in welchem Material mitgeteilt werden.