048 Der gewöhnliche Extremismus
Juni 2001
Ändern wir an einem Thema einer Sinfonie Beethovens auch nur einen profilierten Ton, auch nur eine unersetzliche Pause, resultiert eine Schändung der Gestalt, die auch der Laie als melodische Verstümmelung vernimmt.
Zwar wenden jene, die sogar im triumphierenden und vollendeten Reich des Musikalisch-Schönen, -Erhabenen und -Komischen unseren Genuß desselben auf prägende Gewohnheit und Konvention zurückführen möchten, ein, daß der Laie jene sinnwidrige Verstümmelung nicht als eine der Musik, sondern lediglich als eine gewohnheitswidrige Ohrfeige vernehme, die das déjà-entendu-Prinzip seines gewohnt klassischen Hörens von Beethoven-Sinfonien verletze. Weil der gewohnheitsgeeichte Hörer sogleich wisse, daß seine Beethoven-Sinfonie komme, komme sie dann auch, was immer das sein mag: eine gekommene Beethoven-Sinfonie. Und wenn seine Gewohnte nicht in gewohnter Weise komme, dann komme sie nicht, weil sein gewohntes Hören nicht kommen konnte.
Da aber kein Musikstück jemals ohne die Effekte und Affekte der Gewöhnung ein zweites Mal gehört werden kann, müßten wir traditionslose Hörer einer unwiederholbaren Einmaligkeitsmusik geworden sein, um die Stichhältigkeit des Gewohnheitsargumentes der Gewohnheitstheoretiker überprüfen zu können. Nur schwerlich wird ein gewohnheitsfreier Mensch dieser Art jemals existieren und Musik hören können, und folglich wird sich auch kein wirklicher Gesprächspartner jemals für jenen Gewohnheitstheoretiker einfinden können, dessen Gewohnheitsargument notorisch gewohnheitsmäßig nur im Namen der Gewohnheiten von und für Niemand spricht. Folglich kann und muß mitten in der Ohrfeige gegen die Gewohnheit zugleich eine Erfahrung jener Schändung angekommen sein; im Bruch der Gewohnheit schreit der objektive musikalische Sinn-Fehler sein humanes Registriertwordensein gen Himmel. Wiederum folglich liegt eine untrennbare Einheit von musikalischer Gewohnheits- und Sinnnegation bereits vor, wenn wir jene Verstümmelung vornehmen, weil diese nur unter der schon und schön geglückten Voraussetzung einer vollkommen unfehlerhaften und insofern vollkommenen Gestalt von Musik vorgenommen werden kann.
In und an einer Musik, die ohne den universalen Unterschied von hörbarem Fehler und Nichtfehler auskommen muß, können und sollen sich musikalische Gewohnheiten daher nicht als Vorkommnisse von Vollkommenheiten anbilden und tradieren; folglich ist eine Musik im Jenseits von Fehler und Nichtfehler auf ihr eigenes Verschwinden hin konzipiert, denn sie ist nicht aus Gewohnheit, sondern notwendigerweise gleichgültig gegen das traditionsbildende Interesse, ein zweites Mal als zweites Mal gehört zu werden. Das zweite Mal kann tendenziell vom ersten Mal nicht unterschieden werden. Der Hörer und Musiker bleibt stets so dummklug als wie zuvor. Statt einer Wirkungsgeschichte resultiert eine Verwirkungsgeschichte von Musik.
Existiert aber für unser Erleben ein Wirkliches, das ein Nichtandersseinkönnen auszeichnet, lautet sein gewöhnlicher Name Natur. Eine gesetzmäßige Notwendigkeit wohnt ihm inne, die ihrer Verhüllung durch Gewohnheit immer schon vorhergeht. Diese Untrennbarkeit von schnöder und banalisierender Gewohnheit einerseits und einer absoluten und unveränderlichen Gesetzmäßigkeit im Reich der Musik andererseits verwirrt deren Gemüter bis heute sowohl in den Sphären der Praxis wie in jenen der Theorie von Musik.
Weder das Ganze noch irgendein Segment der Musik, das nicht entweder in der Perspektive des einen oder des anderen Extrems gedeutet und praktiziert würde; folglich keines das in der heute lebbaren Wirklichkeit von musikalischer Praxis und Theorie nicht eine trübe und verworrene Vermischung der Extreme präsentiert. Denn natürlich läßt es sich nur im Verworrenen gut schwätzen, und daher besteht auch kaum ein Interesse daran, das Hexeneinmaleins unseres trüb gemischten Diskurses über und in Musik bei klarem Bewußtsein zu betrachten. Die Vermischenden sind sich ihres Mischens entweder gar nicht bewußt oder wollen ihrer trunkenen Algebra nicht bewußt werden, um sich über die vernichtende Dialektik von vermeintlichen Gesetzen einerseits und ebenso vermeintlichen Gewohnheiten andererseits nicht aufklären zu müssen.
Für die Extremisten des einen Extrems steuern innere und verborgene Gesetze, die hinter den Erscheinungen der Musik auszugraben sind, den Gang und die Bedeutung aller musikalischen Erscheinungen; für die Extremisten des anderen Extrems verdankt sich in der Musik alles und jedes der hinfälligen Konventionalisierung von Gewohnheiten. Für die einen regiert eine verborgene Gesetze-Welt, für die anderen der stets ebenso aktuelle wie vergängliche Wechsel von Moden. Sowohl der Gang der Musikgeschichte in ihrem und der Weltgeschichte Ganzem, wie auch das Tun und Lassen in allen Segmenten der Musik sei entweder ein Appendix von geheimen Gesetzen oder ein Ausbund von geheimnislosen Gewohnheiten – und ist daher in den juste milieus unserer praktischen und theoretischen Musikbühnen von heute stets eine trübe Mischung von beidem.
Ist es der Sinn des heutigen Musizierens von Beethoven-Sinfonien, dessen bisherige Musiziergewohnheiten aufzubrechen und deren Hörgewohnheiten zu ohrfeigen, dann erfolgt dieser angewöhnte Sinnappell entweder im Namen angeblicher Gesetze des Originalen und Authentischen, die wieder einmal verschüttet worden wären, oder weil wir uns wieder einmal etwas Neues im Namen erbauender Abwechslung im grau gewordenen Alltag unseres Beethoven-Musizierens und –Hörens gönnen sollten.
Und die Kadenz, die in unseren Allgemeinen Musiklehren als natürliche und authentische gehandelt wird – was ist sie nun wirklich? Das Produkt einer Folge von musikalischen Moden und Konventionen, also der überkommene Extrakt einer Gewohnheitsgeschichte, welcher daher zu verabschieden und zu überwinden wäre, indem wir uns mit neuem Elan auf die Suche nach einer dodekaphonen oder seriellen oder sonst wie nichttonalen Kadenz begeben sollten? Oder ist die Kadenz die äußere und noch unerkannte Erscheinung von verborgenen und inneren Gesetzen, deren wir in der kosmischen Normenwelt einer zwielichtigen Zahlenmystik der Pythagoräer von gestern oder der physikalischen Schwingungswelt einer ebenso zwielichtigen Obertönemystik der Akustiker von heute versichern könnten?
Stets scheinen wir wählen zu können zwischen diesen extremen Extremen vielfacher Gewohnheitswelten einerseits und ebenso vielfacher Gesetzeswelten andererseits, und stets scheinen wir in extrem grenzenloser und entgrenzter Weise unsere Extrem-Welten bei Gelegenheit aktueller Vorkommnisse und nach dem Belieben eigensinniger Zwecke vermischen zu können. Dieser ebenso unendlichfache wie unendlichflache Extremismus einer verwirrten Welt läßt bei den universalen Geheimdiensten der Philosophie gewohnheitsmäßig die Alarm- und Verdachtsglocken des argwöhnenden Begriffes läuten. Irgendetwas scheint schief zu gehen draußen in der Welt der Musik, wenn daselbst ein Beethoven entweder als gesetzmäßiger Befolger und ausschmückender Pronlongierer von natürlichen Urmelodien und Ursätzen, die seinen Werken als eigentliche Gesetzgeber und Zusammenhalter zugrundelägen, oder als heroisch gewohnheitsmäßiger Ankämpfer gegen ein mehr als eingewöhntes Gehörleiden gefeiert werden soll.
Der Verdacht erhebt sich, daß die Extremisten der Gewohnheit nicht wissen, wie man sich als sinnliche Gewißheit und als Wahrnehmung von Musik seiner dürftigen Bewaffnung und Ausstattung im Dschungel auch der musikalischen Dinge zu entledigen hat; und daß die Extremisten der verborgenen und eigentlichen Musik-Gesetze nicht wissen, wie man sich im aporetischen Labyrinth der beobachtenden Vernunft von Musik zur Einsicht zu erheben hat, daß es im Geisterreich der Musik, wenn dieses einmal als hohe Kunst das strahlende Reich des Musikalisch-Schönen, -Erhabenen und –Komischen vollendet hat, unschief und wahrhaftig nur mehr darum gehen kann, die Gesetze des Erscheinens selbst als Gesetze des Erscheinens notwendiger musikalischer Freiheiten in ihrer Geschichte zu erkennen und deren verwöhnte Erscheinungen als Erscheinungen trotz ihrer Gewöhnbarkeit ungewöhnlich zu genießen.