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015 Drei Thesen zur Musik des 20. Jahrhunderts

Oktober 2000

Erhoben auf das Podest des Jahres 2000 sind wir so frei und mächtig geworden, ein weiteres ganzes Jahrhundert Musikgeschichte – das 20. nach Christi Geburt – in seiner unumstößlich und unumkehrbar gewordenen Chronologie überschauen zu können. – Was lehrt uns ein erster Blick auf die Musik des 20. Jahrhunderts? Und worüber müßte uns schon heute ein erster Blick erstaunen lassen?

Über den ebenso auffälligen wie weithin verdrängten Widerspruch, daß jene Musikrichtung, die als einzige eine neue globale Musikpraxis und Musikkultur im 20. Jahrhundert hervorbringen konnte, nämlich die weltbeherrschende Rock- und Popmusik, nicht an den für Musik zuständigen Institutionen unterrichtet wurde, und noch weniger in diesen – Musikschule, Konservatorium, Musikhochschule – gezeugt und geboren wurde, obwohl die genannten Institutionen in den Gesellschaften des 20. Jahrhunderts dafür zuständig zu sein vorgaben, die produktiven Kräfte der musikalischen Kreativität als kulturellen Ausdruck der aktuellen Gegenwart zu nähren und zu führen. Erst nachdem die Rock- und Popmusik historisch geworden war, regten sich da und dort Versuche, deren Praxen in die pädagogische Obhut zu nehmen, und die Manager-Rektoren der Musik-Universitäten von heute scheuen nicht davor zurück, das Rad nochmals zu erfinden, wenn sie verkünden, durch die Aufnahme der Rockmusik in den musikpädagogischen Fächerkanon könnte ihren agonalen Institutionen schon bald ein neues Profil verschafft werden. Ausgerechnet heute, wo die Rock- und Popmusik längst in tausend Richtungen zersplittert ist und ihre zentrale Rolle im musikkulturellen Lebenshaushalt der Jugendlichen seit Mitte der 90er-Jahre an neue Musikrichtungen wie Rap, Hip-Hop und an das breite Spektrum der Technomusik abgeben mußte.

Was lehrt uns daher die Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts? Erste These: seit dem 20. Jahrhundert kann es eine wirklich aktuelle Musik nur mehr für Jugendliche geben. Eine These von nicht geringer Bedeutung, eine daher zugleich weltgeschichtliche These. Diese besagt nicht weniger als folgendes.

Nur mehr in unserer Jugend kann unser Lebensgefühl durch jene Musik, die gerade als die aktuellste gehandelt wird – und wäre es die schlechteste aller bisher möglichen – in Klängen ausgedrückt, sozial interagiert, kollektiv anerkannt und triumphal vollzogen werden. Behauptete ein Liebhaber der Neuen Musik, die Werke Lachenmanns, Kurtags, Rihms und Glass’ müßten doch viel eher befugt und befähigt sein, das Lebensgefühl des modernen Menschen auszudrücken, brauchten wir diesen fabelhaften Liebhaber nur einem Gespräch mit einem repräsentativen Banker, Fußballer, Biogenetiker, Maschinenbautechniker und Politiker unserer Tage zu bitten, um ihn über die Skurrilität seines Glaubens an die Macht der aktuellen Kunstmusik aufzuklären. Denn die genannten Repräsentanten unserer Gesellschaft würden ihm freimütig mitteilen, daß Musik für sie als ein unübersehbarer Gemüsegarten von Klängen existiere, deren Gefühlsausdrücken man sich nach Anlaß und Vorliebe zu bedienen habe. Behauptete aber jemand, die Musik Bachs, Beethovens, Chopins und Bruckners repräsentierten ihm sein heutiges Lebensgefühl, sollte er sich beizeiten wegen chronischer musikhistorischer Schizophrenie behandeln lassen

Der Wortausdruck ‚Lebensgefühl’ ist ein Begriffskürzel für die unreflektierbare Totalität unserer Grundbeziehungen und -nichtbeziehungen zu Mensch, Gott und Welt, eine uns umgreifende Totalität, die alle unsere Beziehungen und Gleichgültigkeiten stets umhüllt und begleitet, voller Ahnungen und Vorurteile sich täglich und nächtlich umwälzt, ohne je vollständig in Begriffe und Worte übersetzbar zu sein, weil wir uns immer nur in unserem, nicht jenseits unseres Lebens bewegen können. Und weil in totale Geschichtlichkeit getaucht, ist das Lebensgefühl der Menschen nicht nur in jeder Epoche und Generation ein je anderes; auch die Stadien unserer vier Lebensalter hüllen uns in je eigene Lagen von Lebensgefühl ein.

Das Lebensgefühl des Jugendlichen bewegt sich bekanntlich auf fragilem und schwankendem Lebensboden; unvertraut mit den Lasten und Abgründen der Standards und Levels einer spezialisierten Wissensgesellschaft und ausdifferenzierten Spätkultur, ist die Psyche des Jugendlichen notwendigerweise in der Regel ebenso denk- und sprachschwach wie zugleich überaus gefühlsstark, weil getrieben vom Trieb, sich eine anerkennungsfähige Identität in und gegen die vorhandene Welt zu verschaffen. Bereit, jeder sich darbietenden Illusion die Hand zu reichen, selbstberufen die Welt neu zu erfinden und überhaupt alles besser und anders zu machen als die unbeschreiblich komischen Oldies und Gruftis, befindet er sich in jenem idealen Zustand suchender Labilität, der ihn in die Arme der Musik treibt. Denn in der Musik findet er eine Geliebte, die ihn unmittelbar und seelenverwandt zu verstehen scheint, die ihm seine innersten Gefühle von innen her abliest und erfüllt, noch ehe sie verbalisiert und in den Abgründen universaler Begriffe reflektiert werden müssen.

Und weil in der labilen Seele des Jugendlichen der Kampf des Bewußtseins um Anerkennung und Identität mit archaischer Erbarmungslosigkeit tobt, muß diese erfüllende Liebe in und durch Musik kollektiv vollzogen werden: In-Sein ist für den Jugendlichen alles, Out-Sein kommt einem Todesurteil gleich. Folglich kann nur die je aktuelle Musik dem aktuellen In-Sein der Jugendlichen das Flair von Wirklichkeit und Leben verleihen.

Daher ist übrigens das Altern der Unterhaltungsmusik in den diversen Jugendszenen wesentlich grausamer als das Altern der Neuen Musik in den Szenen der Kunstmusik. Ein noch mit beinahe 60 Jahren unter dem Motto „Forever Young“ tournierender Bob Dylan, der seine schale Gymnasiasten-Lyrik noch immer zu Gutmenschen-Songs von vorgestern verbratet, ist schon ob seines gealterten Outfits nicht cool, sondern grufti. Und daß die heutigen Cover-Versionen der legendären Hits der 60er- und 70er-Jahre nur ein banalisierter Abklatsch der selber schon nicht unbanalen Originale sind, registriert auch der Jugendliche von heute mit Mißbehagen.

Als die Rock- und Popmusik noch lebendig war, war sie daher auch fähig, zugleich mit der sozialen Befindlichkeit der Jugendlichen die Illusionen der linken Utopien mitzutragen. Der Pariser Mai von 1968 wäre ohne die Adaptionen und Umformungen des US-Rocks durch die britischen Beat-Gruppen der frühen 60er-Jahre nicht möglich gewesen.

Als die Rockmusik später unter der Vereinnahmung durch die Musikindustrie dem kommerziell bedingten Innovationszwang anheimfiel, zerfiel sie alsbald in die bekannten Richtungen von Classic Rock, Art Rock, Jazz Rock, Latin Rock, Country Rock, Electronic Rock, Hard Rock, und am Ende in die ulkig dämonischen Spielwiesen von Heavy Metal, Punk Rock und New Wave.

Aber mehr noch als diese tödliche Pluralisierung war am musikgeschichtlichen Abgang der Rockmusik beteiligt, daß das Do-it-Yourself Prinzip der ersten spontanen Stunden nach und nach den Geistern der neuen Klangtechnologien ausgeliefert werden mußte. Das Mischpult in den Aufnahme-Studios wurde nicht nur ein integrierter Teil des Musizierens aller Bands, es wurde insgeheim zum Chefmusiker, und der studiolatente DJ mußte daher nur noch wenige Jahre warten, bis die Stunde seines Auftritts endlich schlug. Seither sind die Bühnenauftritte und Events der Rockbands und Popstars eine pseudooriginale Nachahmung dessen, was sie im Aufnahmestudio für den marktläufigen Tonträger an Sound-Design erarbeitet haben.

Zeigte uns ein erster Blick auf das musikgeschichtliche 20. Jahrhundert, daß es eine wirklich aktuelle Musik nur mehr für Jugendliche geben kann, so zeigte uns ein zweiter Blick, daß das einzige neue universale Musizieren, das im 20. Jahrhundert geschichtsmächtig werden konnte, gleichfalls historisch geworden ist und bis an seine Grenzen ausdifferenziert wurde. Damit aber wissen wir, daß im 21. Jahrhundert jedes Musizieren, auch jedes Komponieren und Improvisieren von Musik, historisch und damit in sich selbst heimisch geworden ist. Jede Musikpraxis kann ab nun nur mehr als bewußte Beziehung auf das Panorama der gewesenen Musikpraxen vollzogen werden. Es kann kein grundsätzlich neues mehr geben, denn jedes, das sich als solches verkündete, verbliebe im Bannkreis des Panoramas und ist dennoch zugleich von dessen ursprünglicher Unmittelbarkeit, seiner selbstsicheren Naivität und kollektiven Spontaneität für immer getrennt. – Davon bleibt die Neue Musik der Kunstszene nicht verschont, denn in ihrem musikgeschichtlichen 20. Jahrhundert wurde bereits jeder entgrenzte Klang musizierend berührt, jeder seiner Jungfräulichkeit beraubt. Es kann uns daher auf der Ebene aktualer Novität nichts mehr überraschen. Und dennoch gibt es ein absolutes Novum für das 21. Jahrhundert, das unmittelbar als Ergebnis eines dritten Blickes und als Folgerung aus den beiden ersten Blicken auf das 20. Jahrhundert erkennbar wird.

Der computergenerierte Geist der technologisch versierten Klangmaschinen enthält das Programm zu einer wirklich Neuen Musik, die zwar nur mehr von außen auf uns zu kommt, die aber einer niegewesenen Komplexität und einer ebenso niegewesenen Primitivität, einer entgrenzten Hypersensibilität und einer ebenso rauschhaft entgrenzten Barbarität fähig sein wird. U und E scheinen sich nun endlich wieder zu finden und sogar leidenschaftlich ineinander zu stürzen; doch nur, weil U und E längst verschwanden und in ein völlig anderes Medium von Musik für eine andere Menschheit pulverisiert wurden.

Weil die drei genannten Thesen untrennbar zusammenhängen, haben wir an ihnen mehr als ein Indiz dafür, was in Zukunft die Entwicklung der Musik bestimmen wird. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr in die Renaissancen von musikalischer Vergangenheit wird überborden; sie tat es schon im 20. Jahrhundert; aber sie ist unmöglich. Daß die minimal-music eine neue Epoche der Kunstmusik eingeläutet habe, weil sie der Musik einen neuen universalen Stil geschenkt hätte, wie Philipp Glass glaubt – darüber müßten wir mit seinen Anhängern noch ein ernstes Wort reden – abseits aller Zwänge von Selbstvermarktung und Selbstverschätzung.

Der letzte universale Stil, der im Reich der Kunstmusik weltgeschichtlich möglich war und daher auch den Namen Stil noch ungeschminkt verdiente – denn immerhin das Lebensgefühl wenigstens eines musikalisch aristokratischen Bürgertums brachte er für seine Gesellschaft aktuell und verbindlich zum Ausdruck – war dem 19. Jahrhundert vergönnt – aus letzten Gründen, die uns aber heute nicht mehr belästigen sollen.