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016 Das Rumpelstilzchen und die Musikgeschichte

Oktober 2000

Bis an die Schwelle zum 20. Jahrhundert wurde Philosophie der Musik, meist Ästhetik der Musik genannt, erfolgreich betrieben, indem die jeweils aktuelle Kunstmusik als Anschauungs-Basis für alle musikphilosophischen und musikästhetischen Grundbegriffe, Urteile und Aussagen diente. Die aktuelle Kunstmusik war daher die musikalische Welt- und Grundanschauung der je aktuellen Musikästhetik. Diese verstand sich teils als Formulierung der geltenden musikalischen Normen, teils als Deskription der aktuellen musikalischen Stile, Musizierweisen und Kunstwerke, in denen die Normen erfüllt oder verfehlt wurden.

Als selbständige Wissenschaft betrat die Ästhetik der Musik seit 1750, seit Baumgartens Begründung einer philosophischen Ästhetik, die Bühne der Musikgeschichte. Vor 1750 finden wir daher die normativen und deskriptiven Grundsätze der Musik und Musikästhetik nur verstreut und vorphilosophisch formuliert in den praktischen Lehrwerken der Musiktheorie, in den Summen der Theologie, in den Vorschriften der Zünfte, Höfe und Musikgesellschaften.

Folglich reflektieren die Musica Enchiriadis des 9. Jahrhunderts, die Schriften eines Tinctoris, eines Glarean, eines Bernhard und Mattheson nicht auf die Voraussetzungen dessen, was sie als natürliche Normen und Ideale einer vollendeten Musik in den speziellen Gattungen und Stilen der Musik behaupten. Und auch die großen Musikästhetiken des 19. Jahrhunderts hinterfragen das geschichtliche Gewordensein der Normen ihrer Musikästhetik und aktuellen Kunstmusik nicht, sie setzen voraus, daß die gegenwärtige Kunstmusik die beste aller bisher möglichen und daher als Grundlage aller Aussagen über Musik gültig sei. Weil als selbstverständlich galt, daß die vergangene Musik durchaus vergangen und daher für den aktuellen Menschen der Gegenwart obsolet sei, galt auch als selbstverständlich, daß eine universale Ästhetik der Musik nur aus der je aktuellen Musik zu gewinnen sei. Und exakt dieses Verhältnis zur Musik und ihrer Geschichte, ein durch Jahrtausende gültiges und bewährtes Verhältnis, wird im 20. Jahrhundert ungültig und unbrauchbar. – Warum?

Die Antwort unseres Hausverstandes auf diese Frage ist bekannt: weil das 20. Jahrhundert eine Fülle verschiedenartigster Musiken hervorgebracht habe und auch die vergangenen als gegenwärtige betrachtete, und weil sich der Kunst- und Musikbegriff im 20. Jahrhundert radikal entgrenzt und erweitert habe – bis hin in Grenzbezirke des hellen Wahnsinns, wo sich Sinn und Unsinn als Rumpelstilzchen-Zwillinge ein Ständchen geben – deshalb sei im 20. Jahrhundert eine universale Ästhetik von Musik unmöglich geworden.

Setzen wir aber dieser Antwort unseres Hausverstandes abermals die Pistole des philosophischen Warum auf die Brust, wird er ungeniert und unbemerkt unsere erste Frage als Antwort vorbringen: weil eben im 20. Jahrhundert das durch Jahrtausende gültige und bewährte Verhältnis zur Musik und ihrer Geschichte unhaltbar wurde, deshalb sei im 20. Jahrhundert eine universale Ästhetik von Musik unmöglich geworden.

Damit haben wir immerhin eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Hausverstand: dieser schreitet unablässig in den vertrauten Räumen seines Hauses auf und ab und richtet es sich in den Zirkeln seiner Scheinerklärungen behaglich und gemütlich ein; er glaubt begriffen zu haben, wovon ihn noch nicht einmal ein Schimmer berührt hat.

Das 20. Jahrhundert hat bekanntlich einen einzigen Versuch einer universalen Musikästhetik gewagt, und am glänzenden Scheitern dieses Versuchs läßt sich sowohl die Tiefe des Paradigmenwechsels wie auch der Weg zu einer möglichen Antwort auf die Jahrhundertfrage sondieren. Die vier Grundirrtümer der Musikphilosophie Theodor Adornos zeigen unabweisbar, wie unerbittlich die Welt-Stunde des bisherigen Paradigmas von Musik abgelaufen ist.

Zum ersten sollte die atonale Musik die fortschrittlichste Fortsetzung des Geistes der tonalen Musik nur mit anderen Mitteln sein; die Musik der Schönberg-Schule sollte daher die beste aller bisher möglichen sein, abermals wäre es gelungen, die bisherige Musik in der aktuellsten Kunstmusik aufzuheben und bruchlos weiterzuführen. Abermals hätten wir eine Hierarchie von aktuellen Normen gefunden, nach der sich die Beurteilung aller bisherigen und gegenwärtigen Musik hätte vornehmen lassen. Um diesen Irrtum zu stützen wurde zweitens der noch gravierendere Irrtum bemüht: das marxistische Modell von Naturbeherrschung sei der insgeheime Motor auch der Musikgeschichte. Max Webers These von der vollendeten Rationalität der christlich-abendländischen Musik und Musikgeschichte wurde utopistisch überdreht, weshalb Adornos Musikphilosophie dem ausweglosen Voraussetzungszirkel von musikalischer Befreiung einerseits und musikalischem Zwangssystem andererseits nicht mehr entging. Die naturbeherrschende Musik von heute degenerierte stets wieder zur Zwangsmusik von morgen.

Als Adornos spätere Musikphilosophie gegenzusteuern versuchte, trat die Unhaltbarkeit des Modells zutage; Schönberg verstand nicht, was Adornos „Philosophie der neuen Musik“ gegen seine Musik vorbrachte. Und als die serielle Musik das genaue Gegenteil des erhofften integralen Kunstwerkes erbrach, blieb nur noch die These vom Verfransen der Künste bzw ein Rückzug auf die Hoffnung, die Meister des kleinsten Überganges – Mahler und Berg – könnten die bislang verfehlte große neue Musik einer integralen Durchorganisation aller musikalischen Parameter angeregt haben.

Das Naturbeherrschungs-Modell als Motor der Musikgeschichte ruhte drittens auf dem aus der „Dialektik der Aufklärung“ bekannten Irrtum auf, wonach ausgerechnet die Geschichte des antiken Mythos die Geschichte des Abendlandes bis hin zu den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts erklären könnte. Adorno fand zeitlebens keinen Zugang zur Geburt der traditionellen Kunstmusik aus dem Geist der christlichen Religion. Die große Musik der Tradition begann aber peinlicherweise nicht erst mit Bach; und daß die Kunstmusik nach und nach ihr „geistliches Gesicht“ verlor, erklärt sich nicht aus Gründen fortschreitender Naturbeherrschung. – Musik als Religions- und Philosophieersatz – eine verbreitete Attitüde des bürgerlichen Bewußtseins – prägte den vierten Irrtum der Musikphilosophie Adornos. Nicht nur sollte Beethovens Musik eine bessere Philosophie als jene von Hegel sein, auch die Widersprüche der modernen Gesellschaft wären in der je Neuen Musik des fortschrittlichsten Materialstandes seismographisch festgehalten und zugleich utopisch überwunden.

Am Scheitern des Versuchs, eine „Philosophie der neuen Musik“ als aktuelle Philosophie der Musik auszugeben, lernen wir nicht nur das Fürchten, sondern auch das Erkennen des Weltgeistes Musik. Ist nämlich das bisherige Fortschreiten von Musik und traditionszeugender Kunst beendet und vollendet, dann dürfte auch unser Hausverstand der erweiterten Einsicht zustimmen können, daß nur mehr die ganze bisherige Geschichte der Musik als Grundlage einer universalen Ästhetik gültig sein kann. Eine Geschichte im eminenten Wortsinn aber, eine Geschichte als eigenständige Selbstentwicklung und Chronologos substantieller Inhalte und Formen im Reich der Musik hat nur das christliche Abendland gezeugt und besessen. Wir sind dessen Erben, und daher können wir die Frage nach einer nichtbeliebigen Verhaltensweise zur Musik und Musikgeschichte nicht gänzlich abschütteln. Widrigenfalls würde sich alles Beurteilen und Bewerten von Musik vollständig auflösen und zerstieben: entweder in Musikhistorie, wo es uns genügt, historische Musik mit musikhistorischen Namen zu benennen, oder in das universale Musizieren der Musiker, welchen alle Musik tendenziell als gleich gut, weil gleich gut für selbsteigene Spielzwecke erscheint, oder in die Ästhetiken des privaten Geschmackes, der dann von den empirischen Wissenschaften empirisch erhoben, befragt, bestaunt und seziert werden kann im Massenkabinett absonderlicher Geschmacksvorlieben.

Längst leben wir im real existierenden totalen Geschmacksliberalismus, und weil die demokratische Liberalität des Musikgeschmackes universal geworden ist, wissen wir auch, wenn wir nur ein wenig aus dem Haus unseres Hausverstandes herausgehen, daß das universale Wesen von Musik schon gewesen sein muß, und auch nur als gewesenes den Inbegriff der Vollendungsmöglichkeiten von Musik offenbaren kann. Und ein heißer Kandidat, dieser gewesene Olymp der Musik für immer zu sein und zu bleiben, ist nach wie vor der eintausendjährige Äon der abendländischen Musik-Geschichte vom 10. bis zum 20. Jahrhundert.