017 Im Dunkeln ist gut Munkeln
Oktober 2000
In keiner anderen Kunst ist die Kluft zwischen Publikum und Ausführenden so groß wie in der Musik. Zwar spricht der Anschein dagegen; denn sobald der berühmte Funke überspringt, läßt sich das Publikum tragen, wohin es der Musiker führt. Und mit einer standing ovation bestätigt sich das Publikum ein vermeintliches Einvernehmen mit dem Künstler, als hänge dessen Wert und Anerkennung letztlich am jubelnden Lob der brausenden Menge.
Dennoch bestätigt diese immer auch sich selbst lobende frenetische Übereinstimmung nur die Kluft, die unüberbrückbar bestehen bleibt zwischen den geistigen und physischen Anforderungen, die der Musiker zu bewältigen hat, und den unendlich leichtgewichtigeren Anforderungen, die dem Publikum von Musik zugemutet werden. Denn während der Musiker seine oft stupenden Leistungen vollbringt, sitzt das Publikum ruhend mit verborgenem Verhalten im Dunkeln. Während der Musiker seine gewaltigen Synthesen zwischen Gedächtnis und körperlicher wie psychischer Mimesis knüpft – ermöglicht durch oft monatelanges Erüben und Erarbeiten der Werke – , darf das geistige Leicht- und Fliegengewicht Publikum unüberprüfbar in sich hineinmunkeln; es weiß ohnehin nicht, wie ihm geschieht, und dieses Nichtwissen möchte es auch nicht missen – ist es doch der so angenehme, weil anstrengungslose Teil unserer ästhetischen Sitte und Unsitte, die Kunstwerke der Musik genießen und verstehen zu wollen.
Ein ungeschriebenes Junktim regiert diesbezüglich das Verhältnis zwischen Musikern und Publikum noch heute: die sinnliche Magie der Ausführung zuerst und zuletzt überrede und überzeuge das Publikum; der Interpret als des Komponisten Zwilling sei der auserwählte Vermittler des Werkgeistes ohne Beistand durch Wort und Begriff. Und wohl bekomm’s, denn dadurch bewahrt er uns vor dem Elend aller sogenannten „Gesprächskonzerte“, bei welchen auch der beste Musiker nicht der Versuchung zu widerstehen pflegt, das musikhistorische Anekdoten-Geschwätz unserer unersetzlich gewordenen Musik-Moderatoren nachzuahmen. Anstrengungslos und angenehm, billig und wie geschmiert scheint der Geist der Musik erkaufbar, selbst dort, wo sie noch als hohe Kunst sich anbietet.
Auch Goethe wollte nicht über die Musik selbst und deren Inneres, sondern nur über die Wirkungen, die sie auf ihn ausübe, nachdenken und schreiben. Das innere Wesen der Musik und ihrer Werke sei den Musikern, Gelehrten und Kennern zu überlassen; er aber gehöre dem Kreis der edlen Laien und Dilettanten an, die sich mit der schönen Wirkung begnügen; prompt unterlief ihm das Mißgeschick, Schubert hinter Zelter ins Regal zu stellen und Beethoven als nicht ganz dicht zu taxieren.
Als sich Glenn Gould aus dem Konzertleben auf die Insel Tonstudio zurückzog, nannte er einen schwerwiegenden Hauptgrund für seine Verweigerung, vor dem Konzertpublikum von heute weiterhin zu musizieren. Er sprach von einer „hierarchischen“ Kluft zwischen dem modernen Interpreten und seinem Publikum – eine Kluft, die unschließbar im 20. Jahrhundert aufgebrochen sei, und die ihn bekanntlich bewog, bis ans Lebensende auf seiner Insel im Meer der verschollenen Kunst auszuharren. Doch wäre bereits das Publikum des 19. Jahrhunderts seiner Kunst-Musik und seiner Interpreten nicht würdig gewesen – denn eine wahre und wirkliche Übereinstimmung zwischen Komponist, Interpret und Publikum habe nur das 18. Jahrhundert gekannt.
So weit unser Ritter von der tugendhaften Interpreteninsel über seinen Rückzug in die Burg der modernen Interpreteneinsamkeit. Entsprechend solitär gebärdeten sich Glenn Goulds Anschauungen über das Tun und Lassen eines modernen Pianisten, der trotz behaupteter Modernität bekanntlich das Repertoire der traditionellen Musik favorisierte, und darin wiederum die Musik Bachs. Er ließ verlautbaren, daß er eigentlich nicht mehr als Interpret im herkömmlichen Sinn anzusprechen sei, sondern als eine Art Komponist oder Wieder-Komponist. Nicht mehr interessiere ihn nämlich, in welcher vorgeschriebenen oder überlieferten Tradition die Werke eines Komponisten der Vergangenheit zu spielen wären, denn seine Interpretationen seien jeweils individuelle und spontane Versuche, die alten Werke gleichsam neu – modern – zu rekomponieren.
Als man ihn darauf aufmerksam machte, daß sein Standpunkt nichts weniger als das Ende einer wirklich aktuellen Kunst-Musik bedeuten würde, zeigte er sich nicht abhold, diesem abgründig pessimistischen Gedanken zuzustimmen. Musik als Kunst im Sinne einer lebendigen, weil untrennbar wechselwirkenden Einheit von Komponist, Interpret und Gesellschaft sei tot und vergangen.
Die beklagte Kluft, die sich im Reich von Musik als ausgewiesener Kunst zwischen dem modernen Interpreten und seinem Publikum spätestens seit dem 20. Jahrhundert eröffnet hat, ist aber nicht nur auf geschichtliche und musikgeschichtliche Gründe zurückzuführen. Die systematischen, also musiklogisch im Wesen der Musik selbst verankerten Gründe sind nicht weniger gravierend, wie ein Vergleich mit dem Wesen der Malerei als Kunst zeigt.
Auch bei einem Bild, etwa von Rembrandt, nützte es unserem ästhetischen Verstehen und Genießen wenig, wenn wir haargenau wüßten, wie und mit welchen Mitteln der Maler sein Bild verwirklicht hat. Denn nicht das Malen, sondern das Bild soll auf uns wirken, und nicht die gesonderte Palette der Ausdrucksmittel, sondern deren zweckerfüllte Einheit im vollzogenen und daher vollendeten Resultat – genannt Bild – ist Ziel und Sinn von Malerei im Betrachter. So weit scheint daher Goethes Übertragung unseres Bild-Verhaltens auf unser Verhalten zur Musik berechtigt.
Aber die Aufführung eines Musikstückes ist gleichsam Bild und Malen zugleich – denn ein an sich schon Fertiges wird so exekutiert, als entstünde es just in diesem Augenblick, im großen Augenblick des Interpreten. Dieser agiert daher wie der Vermittler einer Immobilie, die er im Augenblick der Vermittlung dem interessierten Kunden vor das Auge zaubert.
Größe und Schuld des Interpreten sind untrennbar – eine Art von unschuldiger Schuld, denn keiner hat die Vermittlung von Musik erfunden, kein Interpret und auch kein Komponist ist oder war der erzeugende Gott des Wesens von Musik. Diese Schuld des irdischen Vermittelns ist es ja auch, die Travnicek so bitter enttäuscht an seinem Vermittler beklagt; denn das Unglück Caorle wäre nie über sein Wiener Hausmeisterschicksal hereingebrochen, wenn nicht der Vermittler sein Wesen getrieben und übertrieben hätte.
Zwar ist auch das Bild nur als gesehenes ein Bild; unabhängig von unserem Blick existieren alle Bilder dieser Welt nur als physikalische Ermöglichungen möglicher Blicke, genannt Bilder. Und weil es unzählbare Blickweisen und Blickakte gibt, enthält jedes Bild eine Vielheit von Bildern, eine hierarchische Vielheit wohlgemerkt, denn das große Bild existiert als großes nur im besten unserer Blicke, nur dem Rembrandt-Blick eröffnen sich Rembrandts Bilder als solche.
In der Malerei ist daher – im Vergleich gesprochen – der Bildbetrachter in einer Person Musiker und Hörer zugleich, es gibt nur einen Interpreten, den Betrachter und seinen Kommentar. In der Musik aber ist der Betrachter in zwei Interpreten entzweit, in den Künstler und in das Publikum, und die Schultern dieses Atlas sind von höchst ungleicher Kraft. Der Interpret kann nur in Ohr und Herz des Publikums zu einem Heroen der Musik aufsteigen, und doch weiß er zugleich, welcher Abgrund das Publikum vom inneren Wesen der vergötterten Musik trennt.
Also kollidieren und disharmonieren bereits im innersten Wesen von Musik, noch lange vor deren Auslegung durch eine Geschichte der Musik, die Angehörigen dieser merkwürdigen Kunst: Komponist, Interpret und Publikum. Und daß einmal in der Geschichte der Musik dieses Kollisionswesen eine vollendete Vermittlung und lebendige Eintracht zwischen den Angehörigen gehabt haben soll, wie unser Ritter von der Interpreteninsel sehnsüchtig verkündet, grenzte an ein geschichtliches Wunder, in dem sich das Wunder der Musik als Kunst erfüllt hätte.