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018 Der Apfelbaum des Genies

Oktober 2000

Wenn wir noch in unseren Tagen die Redewendung vernehmen, der Mozart oder der Beethoven von morgen weile und wirke vielleicht schon unter uns, gewiß aber werde er sich in absehbarer Zukunft wieder aktualisieren, dann äußert sich in dieser Annahme ein gewohnheitsmäßig eingelerntes Vorverständnis über das Wesen von Genie und von Geschichte der Musik. Diesem vorurteilsverhafteten Verständnis, in dem das stets geschichtlichere Verhältnis von Komponist und Kompositionsgeschichte ein scheinbar klares Bild und Urbild annimmt, in seine Gründe und Abgründe zu folgen, ist durchaus lohnend. Denn wie in einem Spiegel erblicken wir darin nicht nur die Weisen unserer Denkungsarten, sondern auch unsere Hoffnungen und Sehnsüchte, unsere Wünsche und Illusionen an und über die Musik in ihrer Gegenwart, Geschichte und Zukunft.

Hinter dem Ausdruck der Mozart von heute, morgen und in alle Ewigkeit verbirgt sich nämlich, kaum verhüllt, die Vorstellung von einem übergeschichtlichen Wesen von musikalischem Genie, das als konstante Institution der Musikgeschichte deren alles verändernder Geschichtlichkeit standhalten könne. Die Meinung lautet: das Genie bleibe sich insgeheim gleich, mögen die einander folgenden Epochen der Musik deren Stile und Zwecke auch verändern auf Teufel komm’ raus; denn alle Veränderungen erreichten doch nur den Saum der Musik, die Akzidenzen von Kleid und Schminke, nicht aber die ewige Substanz einer Kunst, deren ursprüngliches Wesen immer schon in der erfrischenden Nähe der Musen und Genien vermutet wurde. Noch die radikalsten Veränderungen könnten der einen und stets wiederkehrenden Substanz der Musik nichts anhaben, denn diese spreche sich zuerst und zuletzt durch das Genie aus, das sich als unveränderliche Substanz der Musik in allen Veränderungen des musikalisches Materials, der Formen und Gehalte durchhalte und wiedergebäre, um immer wieder das Eine und Ewige der Musik zu schaffen und der Menschheit zu schenken.

Wie oft hören wir daher die beliebten Sentenzen, es sei Beethoven der Bach des Bürgertums, Bach aber der Beethoven der Feudalepoche; Palestrina der Bruckner des 16. Jahrhunderts und umgekehrt; Händel der Wagner der vorbürgerlichen Epoche und umgekehrt; Johann Strauß der Vivaldi des Bürgertums und umgekehrt; Schönberg der Beethoven der sogenannten „Zweiten Wiener Schule“ und auch dies womöglich umgekehrt, weil ja auch schon Cage als der Bach des 20. Jahrhunderts auf dem Jahrmarkt der Selbstdarstellungen gehandelt wurde. Die Denkungsart dieses Vergleichens bis hin zur Identität der Verglichenen ist durchaus konsequent: existiert nämlich jenes substantielle Urwesen Genie, das sich in immer anderen Erscheinungen an die Geschichte der Musik anpfropft, dann pflegen diese selbstverständlich mehr als ein geheimes Zwiegespräch unter ihresgleichen über die Jahrhunderte und Epochen hinweg. Dann erscheint das Urgenie einmal und zugleich dannmal als Dufay, als Palestrina, als Monteverdi, als Mozart, als Beethoven, späterhin als Schönberg, Xenakis, Cage und Kagel; und wie wir uns für das Fernhalten oder Fernbleiben von Lehar und Webber, Armstrong und Ellington, Elvis Presley und Paul Mc Cartney, Elton John und Bob Dylan, Michael Jackson und Madonna entschuldigen, dies soll gefälligst die Sorge unserer Nachfahren bleiben. Wir erinnern uns nämlich noch erfüllt von Erschrecken: Hans Hölzl alias Falco hatte gemeint: Mozart würde heute komponieren wie Falco vulgo Hans Hölzl; und daß der rasende Barde uns dabei den mythischen Umkehrvergleich mit dem Mozart von gestern gütig ersparte, muß sich höherer Einsicht in die medialen Abgründe des genialen Musikanten von heute verdankt haben.

Und noch ein erfreuliches Resultat zeitigt der ewige Mozart: alle Pressionen seitens einer Musikgeschichtsdeutung, die uns von einer Musik als Fortschrittsgeschichte erzählen möchte, sind wie für immer weggewischt – eigentlich ist Geschichte gar nicht oder nur ein sinnloser Trug – wie schon Sir Karl Popper zu vermeinen meinte. Endlich stehen daher die Werke der musikalischen Ewigkeit wie im Kreis um uns herum, und wir bedienen uns ihrer in einer die Ewigkeit nie verfehlenden Auswahl.

Wie trügerisch diese Rechnung des ewigen Urgenies aufgeht, läßt sich an Schönbergs Versuch, sich noch im 20. Jahrhundert als neuerliches Naturgenie der Musik zu stilisieren, genau berechnen. Schönbergs Selbstverständnis als eines leitenden Genies der Musik des 20. Jahrhunderts läßt die drei gängigen Letztgründe, ein musikalisches Genietum verbindlich zu begründen, heillos ineinanderstürzen. Je nach Bedarf und Notstand wird entweder die heute schon halb vergessene Position eines Gottesgnadentums angerufen, zweitens das spezielle Talent von Gnaden einer Natur herbeizitiert, die dem Genie die Kraft und Macht gebe, einer neuen Kunst neue Gesetze und Regeln zu geben, und drittens der hypersensible und märtyrerhafte Künstler-Seismograph beschworen, der die Expressionen einer Menschheit, welche die Martern der Geschichtlichkeit zu erleiden hat, darzustellen berufen sei.

Es erinnert daher nur mehr an eine Lesefrucht aus den Tagebüchern Saint-Saens, wenn wir bei Schönberg lesen: „Schaffen sollte für einen Künstler so natürlich und unausweichlich sein wie das Wachsenlassen von Äpfeln für einen Apfelbaum.“ Die Äpfel Schönbergs fallen und liegen für eine Botschaft an die Menschheit, die zu erbringen das „Leben wahrhaft großer Männer“ nicht lassen kann, weil darin ihr „Schaffensdrang auf ein instinktives Lebensgefühl antwortet.“ Und dieser Drang der großen Männer äußert sich nicht mehr in einem neuen verbindlichen Stil, in dem einst die drei genannten Letztgründe zu einer stimmigen Sprache von Musik zusammengingen, sondern im und durch den musikalischen „Gedanken“ ; denn die Äpfel Schönbergs tragen tapfer an ihrem Schicksal, stets ganz andere und neue werden zu müssen, da im Zeichen des Gedankens unausweichlich die Neuheit das erste und letzte Gütesiegel des genialen Wertes der musikalischen Botschaften geworden ist. Und daher kann und muß das moderne Genie der Neuen Musik auch meinen, „Musik, die einmal neu gewesen ist, kann in Wirklichkeit nicht veralten.“ Das neue Genie des 20. Jahrhunderts ist daher ein gänzlich anderes als jenes, das von der erbarmungslosen Ungüte des Innovationszwanges noch nichts wissen konnte. Und der Verlust von Stil als einer Sprache universaler Genies sprengt selbstverständlich auch die Idee eines ewigen Urgenies, das weiterhin auf universale Anerkennung und Liebe Anspruch erheben könnte. Daher kommt im 20. Jahrhundert auf jedes Genie der Neuen Musik ein ganz anderes Genie und Gegengenie der Unterhaltungsmusik, während das Genie des Jazz-Musiker, zwischen jenen beiden Janusköpfen hilflos eingeklemmt, die Unmöglichkeit einer neuen universalen Geniemusik ungehemmt und unwissend vorführt.