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020 Kein Königreich für einen neuen Namen

November 2000

Ein Name, und wäre es der höchste, ist für sich genommen nichts als ein Ensemble sinnloser Laute. Ein Wort einer uns unbekannten Sprache begegnet uns daher als ein unverständliches Lautgebilde, weil es uns nichts bezeichnet und nichts benennt. Wendete jemand ein, das unbekannte Wort sei doch wenigstens eine Art Kleinmusik, die sich aus unterschiedlichen Lauten zusammenfüge, denn das vermeintliche Wort bezeichne und benenne immerhin Konsonanten und Vokale, der würde das unbekannte Wort beleidigen, denn sehr vermutlich gibt es auch in der uns unbekannten Sprache eigens dazu bestallte Wörter, um jenen universalen Klangunterschied des Wortlautes bezeichnen und benennen zu können. – Ein Wort will also nicht für sich, sondern für ein anderes genommen werden. Höchstens in einem sprachwissenschaftlichen Labor wäre es sinnvoll zu behaupten, die unbekannten Laute eines unbekannten Wortes zeigten uns den in allen Sprachen vorfindbaren Formunterschied von Konsonant und Vokal, und die Differenzierung von Phonemen gehöre daher zu den universalen Bildungsbedingungen jeder Art von menschlicher Wortsprache.

Obwohl aber die Worte für sich nichts sind als Schall und Rauch, sind sie dennoch das höchste und urmächtigste Mittel des Menschen, sich und seine Welt herrschaftlich zu benennen und zu bezeichnen, und dies selbstverständlich zu gemeinschaftlichem und gemeinschaftsbildendem Gebrauch.

Unsere gebräuchlichen Epochen-Namen für die verschiedenen Stadien der europäischen Musikgeschichte haben uns bisher diesen unersetzlichen Dienst glänzend erwiesen. Moderne, Romantik, Wiener Klassik, Barock, Renaissance, Ars nova, Ars antiqua, um nur diese Namen zu nennen, geben uns bis heute Orientierungsmarken in einem für sich unübersehbaren Universum, in dem wir rasch die gemeinschaftliche Orientierung verlieren würden, müßten wir auf die vereinheitlichenden Namen verzichten. Sind diese Namen aber auch richtig? – fragt neuerdings die Wissenschaft der Musikhistorie. In der gezeigten Sicht des Wesens von Name ist diese Frage nicht nur nicht richtig, sondern sinnlos, denn wie uns die Analyse des Namens bereits bedeutet und daher benannt hat, sind Namen für sich weder richtig noch falsch – sie sind sinnlos.

Die genannten Epochennamen sind daher lediglich Namen für Dinge und deren Begriffe, nicht schon diese selbst. Können die Namen daher nach Belieben oder sollen sie nach Einsicht durch andere ersetzt werden, wenn sich ihr Gebrauch als problematisch erweist?

Eine schwierige Frage in einem gefährlichen Gelände; denn nicht nur erodiert in unserer Gegenwart Normung, Kanon, Repertoire, Geschmack und vieles andere, das uns bisher den Zusammenhang mit unserer Tradition bewahrte. Mit der Erosion der vertrauten und vertrauensbildenden Namen zerfiele auch noch die letzte Bastion einer Gemeinschaftlichkeit zwischen unserer Musikkultur und der Lebenswelt des modernen Menschen.

Doch Historiker argumentieren historisch: die Wortausdrücke Wiener Klassik, Romantik und Moderne seien in ihrer Zeit selbst entstanden, seit der Romantik sogar programmatisch von den avantgarden Komponisten und Deutern eingeführt, sie seien somit als authentisch verbürgt, es seien wahre Namen. Die Namen Barock, Renaissance und viele andere jedoch seien nachgereichte Namen, und sie enthielten überdies bestimmte Wertungen und Abwertungen von Stilen und Gattungen, von Satzweisen und Ausdruckswelten, wertende Benennungen also, die nicht mehr die unseren sein könnten.

Nun ist nicht zu leugnen, daß der Name Barock von Musikern und Musikdeutern in die Welt der Epochenbenennung geworfen wurde, die meinten, mit den Stilen und Gattungen der empfindsamen und aufklärerischen Epoche der Vorklassik die wahre und endgültig ideale Musik gefunden zu haben. Die Neue Musik von 1740 verstand sich als natürliche gegen die kompliziert schwülstige und altmodische der vormaligen Epoche. Und warum man seit einiger Zeit von Renaissance- und nicht mehr von einer Niederländer- oder doch wenigstens von einer Palestrina-Epoche der Musik spricht, ist nichts als ein wissenschaftlicher Schabernack im Gebrauch von Epochen-Namen, der sich den wendehalsigen Begriffen jener verdankt, die sich in den einschlägigen Fächern der Musikhistorie die Benennungsmacht anmaßen konnten, nachdem die moderne Gesellschaft jedes Interesse an einer mitwirkenden Namengebung über längst verflossene Epochen der Musikgeschichte verloren hatte.

Daher reden wir heute arg mißverständlich von einer Renaissance-Epoche der Musik im 16. Jahrhundert, obwohl jedes Kind wissen könnte, daß die große Musik unserer Tradition dem Auftakt der großen Malerei in einhundertjährigem Abstand folgen mußte. Jener Sprung in einen teilweise antichristlichen Humanismus, der in der Malerei aus dem Geist einer vermeintlichen Antike um 1500 glückte, war in der Geschichte der Musik erst um 1600 möglich. Was wir daher den oder das Barock der Musik zu nennen pflegen, ist die uneigentliche Renaissance der Musik, denn auch der Name Renaissance ist vor dem Absturz in die Widersinnigkeit nur zu retten, wenn er nicht wörtlich genommen wird – etwa als Wiedergeburt eines längst verblichenen Geistes der Menschheitsgeschichte. Leonardo da Vinci ist kein wiedergeborener Praxiteles, Petrarca nicht ein zurückgekehrter Cicero der Neuzeit.

Es ist unausweichlich, daß der Erforscher der Wälder am Ende nur mehr Bäume sieht und daher nur mehr diese in ihrer singulären Pracht zu benennen bestrebt sein wird. Folgt er diesem Trieb, wird er jenen Mitmenschen, die nichtforschend in den Wäldern oder gar außerhalb leben, nichts mehr von der gemeinschaftlichen Geschichte der Wälder erzählen können. Er wird am Ende selbst nicht mehr wissen, wo und warum und zu welchen Zwecken sich in gewissen Gegenden Bäume zu herrlichen oder weniger herrlichen Wäldern formiert haben.

Ersetzen wir daher die gebräuchlichen Namen für die bekannten, weil gemeinschaftlich benannten Epochen der Musikgeschichte durch vermeintlich wissenschaftliche, weil eben die Erforschung jeder Epoche jede Epoche als ein illusionäres Einheitsgebilde einer uneinheitlichen Vielfalt von musikalischen Erscheinungen und Entwicklungen nachweisen kann, dann bleibt am Ende nur mehr die Zuteilung von musikalischen Syntaxen und Stilen, von Gattungen und Besetzungen, von einzelnen Werkbiographien und den unzähligen Funktionen der Musik an die vorgegebenen Annalen der Chronologien und Örter einer sogenannten allgemeinen Geschichte.

Sinnlos wäre es dann, weiterhin von einer Entwicklung der europäischen Musik durch die Stadien von Früh-, Hoch- und Spätbarock, von Vor-, Hoch- und Spätklassik, von Früh-, Hoch- und Spätromantik zu reden, und auch die Rede von einer Moderne, die sich zur Postmoderne bequemen und von dieser wieder zur Renaissance in einer zweiten und nun ewigen Moderne erheben mußte, würde uns als schalgewordener Benennungsversuch im Munde zerfallen. Stattdessen hätten wir den ganzen Reigen der genannten Stile und Gattungen – die Oper, die Sinfonie, die Messe, die Sonate, das Oratorium, das Konzert usf um das Jahr X am Ort Y zu erheben und neu zu benennen, und wir hätten ebensoviele musikalische Jahresregenten und vermeintlich musikgeschichtsbildende Dekaden wie wir Örter in der Musikgeschichte auffinden könnten – und dies bis ans Ende unserer Namens-Tage. Der Wahlspruch des bekennenden Epikureers: jedem Tierchen sein Pläsierchen hätte sich sachgemäß verwandelt in den Spruch des fröhlichen Forschers vor Ort: jedem Ort seine unvergleichliche Renaissance, seinen einzigartigen Barock, seine ureigene Klassik, seine festivalfähige Moderne.

Die Sinfonie von 1780 in Mannheim ist allerdings eine andere als die Sinfonie derselben Dekade in Wien, als jene in Neapel und jene in Dresden, in Paris und London, Hamburg und Madrid. Und der sogenannte musikalische Barock kennt noch unzähligere Differenzierungen seines Begriffes im Gang seiner Entwicklung als jene von Generalbaß, Fuge, Choralsatz, Oratorium, Hofoper usf, die sich als Epochen-Termini, also als Wortausdrücke für unausgedrückte Musik-Begriffe anbieten, um den merkwürdigen Namen Barock vom musikgeschichtlichen Thron zu stoßen. Aber der Ausdruck „Generalbaßzeitalter“ nimmt sich in den Augen eines Kronenzeitungslesers von heute wie ein Wortungeheuer aus, das ungerufen aus den Tiefen einer exotischen Expertenwelt auftaucht; und diese Sonderwelt der Wissenden ruft er bekanntlich nur an, wenn in seinen medialen Informationshimmel eine Katastrophe eingeschlagen hat, die der kundigen Erklärung bedarf.

In einer von genereller historischer Amnesie bedrohten Zeit ist der Plan des spezialisierten Geschichtsschreibers, die Musikgeschichte einer neuen und unendlichen Namensgebung zuzuführen, ein mehr als riskantes Unternehmen. Denn schon heute müßte er zum Letzten und Äußersten greifen, zur Kronen- und Bildzeitung, um in deren Blätterrauschen die neuen Namen mittels täglicher Annonce hineinzurufen, um eines Tages wenigstens ihren Verballhornungen in Laut und Schrift der sogenannten Menschenwelt wiederzubegegnen.