021 Die Entdeckung Amerikas bleibt unwiederholbar
November 2000
Alles an der Musik kann ein sogenannter stilbildender Faktor werden, ausgenommen der Stil selbst. Dieser ist die Einheit seiner Faktoren, jener Mehrwert an musikalischem Sinn, der das Geheimnis und die Unwiederholbarkeit der großen Stile bewahrt. Vergangene Stile lassen sich daher nur imitieren und karikieren, auch fragmentieren und transformieren, niemals aber wiederherstellen. Wir können nur so wie Vivaldi komponieren, so wie Botticelli malen wollen; stets werden wir nur bis zum Wie, niemals bis zum So gelangen.
Das Wort Stil ist eines jener vollständig abgebrauchten und sinnentleerten Wörter, mit welchen unsere Musikkultur ihren gedankenlosen Umgang mit Musik und Kultur auszustatten pflegt. Alles, was eine gewisse Anzahl gemeinsamer Merkmale vorweisen kann, führt heute den Namen Stil, der einst ein Ehrenname war, mit dem das Wesen einer numinosen Sache und deren wesentliches und wirklich individuelles Erscheinen universal benannt werden sollte. Le style c’est l’homme – dies meinte: das Individuum erscheine sich und anderen immer schon in einer individuellen Manier seines Existierens, der nicht zu entkommen sei, eine Manier, der das Individuum jedoch innerhalb der Gesetze und Regeln seiner Gattung und Art auf ideale Weise nachzuleben und nachzutrachten habe.
Eine vorgegebene Wesensnatur mithin, der die gesamte traditionelle Musik nachzustreben begann, sobald sie nur die ersten Fühler in die Welt jenseits der Kirche und der Zünfte ausstrecken durfte, um alsbald ihrem noch verborgenen Wesen als einer hohen und höchsten Kunst nachkomponieren und nachmusizieren zu können. – Und nachdem die Einholung des Ideals geglückt war, mußte das 20. Jahrhundert die nominalistische Sinnentleerung des Stilbegriffes durchführen.
Auf drei Etappen eines musikgeschichtlichen Mittelalters folgten drei Etappen einer musikgeschichtlichen Neuzeit – Barock, Klassik, Romantik – in deren mittlerer Etappe endlich gefunden wurde, was so lange gesucht war: jene höchste syntaktische Einfachheit als musikalischer Ausdruck einer universalen Individualität, die erstmals nur durch und in Klängen und menschheitlich zur anvisierten Menschheit reden konnte. Nicht verwunderlich daher, daß der bürgerlichen Musikgeschichtsschreibung immer wieder die mittlere Epoche als Angelpunkt der ganzen musikalischen Neuzeit erschien: für Ratz und Schenker zum Beispiel sind Bach, Beethoven und Brahms Geister einer einzigen Musikepoche. Und daß nach Mozart alle weiteren Komponisten weitere Mozarts hätten bleiben sollen, war eine gängige Vorstellung im Wien Beethovens.
Eine Illusion und ein Irrtum, der sich einem falschen Begriff einer ewigen Natur der Musik verdankte, die wie eine bleibende Natur von Musik unter Menschen wirken und Werke auf stets gleichem Stilniveau als Ausdruck ihrer Zeit und einzelner Schöpfer hervorbringen sollte. Die Illusion verschwand augenblicklich, wenn auch nicht in allen Sparten der Musikkultur, als die mit dem 20. Jahrhundert anbrechende Moderne und Unterhaltungsmoderne das Ende aller weiteren Suche nach einer höheren und tieferen Natur von Musik deutlich machten. Ein neuerlich hoher und in sich stimmiger Stil wäre für uns Heutige von Kitsch nicht zu unterscheiden.
Eine ganze Enzyklopädie von musikalischen Stilen führen uns Berardi, Kircher, Bernhard, Mattheson und viele andere Autoren vor, die den Weg der abendländischen Musik zur universalen Kunst denkend begleiteten. Jeder nur mögliche stilbildende Faktor aus den Sphären von Material, Form, Verfahren, Ausdruck, Funktion, personaler und sozialer Zugehörigkeit der Musik wird vorgeführt, um die einst gängigen Normen in der Verflechtung der universalen Musikstile zu präsentieren.
Und davon existiert noch heute ein verschwindender Widerschein, wenn ein Musiker im Internet den Indidivualstil seiner Demo-CD als Mischung aus Blues, Funk, Jazz und Hip-Hop anpreist, und ein Song-Singer verkündet, sein Stil variiere zwischen Folk, Pop und Country. In der Tat, die ewigen Mozarts leben, aber sie wirken nur mehr mit der Kraft eines endlos-ewig schaffenden Mozart.
In den ehrwürdigen Enzyklopädien der alten Stile finden wir niemals Reflexionen auf die ersten Prinzipien der Stilbildung aus dem Geist von Stil selbst, auch nicht auf die Prinzipien des ständigen Kommens und Gehens von Stilen. So sehr erschienen unseren Vorfahren ihre sprechenden Stile als ein System von Natursprachen des musikalischen Geistes im Dienste aktueller Gesellschaft, daß ihnen der merkwürdige Widerspruch einer sich geschichtlich bewegenden Natur entging – mit dem doch unverrückbar auf das mögliche Ende einer auf sich bezogenen Entwicklung von Musik als Kunst universaler Stile hingewiesen wurde.
Die universalen Stile der großen Vokalpolyphonie und Instrumentalhomophonie verschwanden daher nicht durch äußeren Einspruch, nicht durch innere Langeweile und auch nicht durch Willens- und Phantasieakte sogenannter großer Männer mit sogenannten großen Gefühlen. Stil war einst die erste und daher unreflektierbare Station des absoluten Ideals auf seinem Weg in die Geschichte der Menschheit. Die Konventionen einer entstehenden Sprache von Musik verdankten sich einer kollektiv in der Gesellschaft verankerten musikalischen Sinnlichkeit, und die Komponisten waren nicht mehr, aber auch nicht weniger als deren Kolumbusse. Indem die Stile ihre neuen Freiheitsmöglichkeiten in einem Arsenal von musikalischen Gattungen auskomponierten – Ausdrucksmedien, die zugleich die existentiellen Freiheitsmöglichkeiten ihrer Kollektive in Kirche, Staat und Gesellschaft ästhetisch repräsentierten – , verschwanden sie chrono-logisch durch immanente Ausschöpfung und konsequente Selbstkritik. Um die Größe der Werke traditioneller Musik zu ergründen, ist es daher sinnlos, etwa in den Biographien von Bach, Mozart und Beethoven herumzukramen. Nicht von ihm, sondern von seinen Arbeiten sollten wir sprechen, mahnte uns Beethoven einige Male.
Im 20. Jahrhundert hingegen wird die biographische und anekdotische Aufbereitung der Beatles und Arnold Schönbergs, von Elvis Presley und Alban Berg, von Jimmy Hendrix und Karlheinz Stockhausen zur unausweichlichen Bedingung, um sowohl das Wirken der Musiker und Komponisten wie auch die Wirkungskreise ihrer oft extrem verschiedenartigen Musiken verstehen zu können. Die nominalistischen Stile der Moderne und Unterhaltungsmoderne taugen nicht mehr dazu, eine die Kollektive wirklich tragende Musiksprache zu kreieren, sie fungieren nicht mehr als universaler Ausdruck gesellschaftlicher Freiheit. Einzig für den Lebensstil von Jugendlichen kann es daher noch eine jeweils neue Musik mit universalem Anspruch geben. Denn im Dunstkreis der je aktuellen jeunesse dorée ist eine stets wieder aktualisierte Natur von Musik nicht als inszenierte Infantilität erkennbar.
Daß Prokofieff in seiner Sinfonie classique virtuos in Kinderschuhen zu tanzen versucht, erkennt der gebildete Geschmack sogleich; daß Avo Pärts Versuche, mittelalterliche Stile zu einem musikalischen Secondhand-Shop für religiöse Gefühle von heute umzupräparieren, weithin akzeptiert werden, nehmen wir gelassen hin; und daß sich die Minimal-Music als universaler Stil einer Kunstmusik von morgen zu präsentieren versucht, mag glauben, wer es kann. Wenn aber an amerikanischen Universitätsinstituten Computerprogramme entwickelt werden, die in den Stilen der alten Meister – bevorzugt Haydn und Mozart – eine stattliche Anzahl neuer Werke generieren, dann wissen wir nicht nur, daß die Idee des ewigen Mozarts keine war, sondern auch, daß an unserem heutigen Stilbegriff nicht etwas, sondern alles faul sein muß.