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022 Stille, wo bist du?

November 2000

Um den dichten Schleier des Geheimnisses vor dem Wesen von Stille zu heben, haben kluge Köpfe einen wahrnehmbaren Unterschied von absoluter und relativer Stille in Stellung gebracht. Die relative Stille ist wahrnehmbar durch ihre unaufhebbare Beziehung auf umgebende Klänge – eine musikalische Pause kann nur als Unterbruch eines Kontinuums von Klängen in der Funktion von musikalischer Stille erscheinen. Nichts davon wäre in der absoluten Stille vorhanden, denn in ihr wäre die Stille selbst ein beziehungslos auf sich gestelltes Kontinuum, und relative Stillen müßten in diesem Kontinuum als Klanginseln erscheinen, um wahrgenommen werden zu können. Wir müßten uns und unseresgleichen aus Erfahrung sagen können, hier und jetzt ist es absolut still, und diesseits davon nicht mehr. Eine absolute Stille wäre daher differenzlos durch sich selbst hörbar; sie wäre folglich das Hören selbst. Wer aber wagte jemals zu behaupten, unser Hören könne das Hören selbst hören?

Eine wahrnehmbare absolute Stille wäre folglich ärger als das ärgste Fürchten und Erschrecken, und Fuchs und Hase würden sich zu Tode ängstigen, ehe sie einander im abnormen Land der vollkommenen Lautlosigkeit Gute Nacht sagen könnten.

Offensichtlich verführt unseren Hausverstand der flüssige Gebrauch der Worte absolut und relativ zur Aufstellung von Realitätsattrappen, die vor unser Denken unbemerkt jenen dichten Schleier schieben, von dem auch die heutigen Wissenschaften des Schalles ihren enormen Aberglauben an eine eigenständige Materie namens Schall nähren. Daß wir in diesem Leben eine absolute Stille weder je gehört haben noch je hören werden, sollte auch dem geräuschelosesten Denken unserer hausverständigen Gedanken einleuchten. Und die Stille des wirklich erkennenden Denkens ist jenseits der akustischen Welt.

Nach einem Beethovenschen Sforzato folgt oft eine Pause als gleichsam atemlose Stille, die kraft der finalen Ritualität der Beethovenschen Tonalität dennoch die Bewegung der Klänge vorwärtstreibt. Die Beethovensche Pause ist eine musikalische Klang-Null, in der die Erwartung des Hörers gleichsam mit sich multipliziert wird. Die reale Bewegung steht still, aber die nicht weniger reale Erwartung des Hörers stürzt umso gewisser und unwiderstehlicher in die ausgezirkelte Zukunft einer triumphalen Ankunft. Und wenn Johann Sebastian Bach das Schweigen Christi durch Pausen musikalisch sinnfällig macht, dann geschieht dies in einem völlig anderen Sinn von Musik als in jenem, den John Cage bemühen muß, wenn er in seiner hoffentlich gedruckten und eingespielten, gewiß aber schon oft aufgeführten Komposition 4’33“ die mögliche Nihilierung der Musik selbst als ein Stück neuer Musik präsentiert. Und auch wenn niemand während der Aufführung des wahrhaft phänomenalen Stückes zu gähnen wagt, von einer Begegnung mit der erhofften absoluten Stille bleiben wir weltenweit entfernt.

Aber vielleicht wohnt die absolute Stille doch irgendwo, und wir waren nur noch nicht dort?

Wohl nicht in unseren Konzertsälen, denn auch in jener gerühmten Konzert-Stille, in der die berühmte Stecknadel hörbar zu Boden fällt, überhören wir geflissentlich die Geräusche unseres Atems und körperlichen Existierens ebenso wie jene der Klimaanlage, der Stühle und den ganzen Geräuschekontrapunkt naher und ferner Maschinen. Die suggestive Macht der Musik läßt die Segel unserer gewöhnlichen Aufmerksamkeit auf unsere stets klanggrundierte Welt streichen. Und erst ein lieber Zeitgenosse im Publikum, der seinem Niesreiz nicht widerstehen könnte, würde uns bewußt machen, wo wir uns uneigentlich befinden. Denn Mithilfe der Tiefe eines schallendes Raumes, der dank unseres Hörens als Botschafter von Klängen agieren darf, wird der Musik plötzlich eine Ohrfeige und uns ein Stoß versetzt, der uns wie Tölpel von der erhabenen Bühne des kunsthaften Scheinens von Klängen und Stillen herabstößt.

Dann vielleicht auf dem Gipfel des Mount Everest, wenn sich sein schweigendes Haupt eines schönen Tages bei vollkommener Windstille betreten ließe? Oder noch besser und noch stiller: im Grabe unserer Verstorbenen, wenn sich nur alle Würmer beizeiten dezent zurückgezogen hätten, um unserer Suche nach dem Hort absoluter Stille nicht im Wege zu stehen? Doch wer wollte angesichts des leibhaftig gewordenen Todes die Erde, die Steine, die morschen Särge und verwesenden Leichen danach befragen, ob ihnen nun nach absoluter Stille zumute sei?

Auf der Rückseite des Mondes sind seit Menschengedenken, und dieses reicht nun bereits bis zu unserem Theorem vom Urknall zurück, unzählige Gesteinsbrocken in hallende Tiefen gestürzt. In hallende Tiefen? War jemand zugegen, der sie jemals hallen hörte?

Vom Jupitermond Io werden zu dieser Stunde die heftigsten Ausbrüche unzähliger Vulkane gemeldet. Geht es dabei laut oder leise zu, und wenn es leise zugehen sollte: relativ oder absolut leise? Ist da jemand, der zuhört? fragen wir uns relativ beängstigt. Hätten wir den Ort absoluter Stille auf den menschenlos fernen und sogenannten Himmelskörpern endlich gefunden?

Eine Frage, die sich problemlos beantworten läßt, erklärt uns jeder technikversierte Mensch von heute. Man stelle ohne Schüchternheit und voll Vertrauen in die Übertragungskraft unserer technischen Hörgeräte eine Armada von Mikrofonen an allen schallverdächtigen loci delicti des Mondes auf, und alsbald werde man hören, was dann zu hören sei. Nicht anders verfahren ja längst alle radiologischen Horchposten an den Teleskopen unserer irdisch verankerten Weltraumbehörden. Noch die Klänge und Stillen der entferntesten Quasare entbergen sich in einem akustischen Schein unserem darüber kaum noch staunenden Ohrengeist.

Das Problem scheint gelöst, und unser Schmerz darüber, daß wir soeben von der mirabilen Vorstellung einer das Weltall durchklingenden Sphärenharmonie Abschied nehmen mußten, scheint einigermaßen getröstet und besänftigt. Mag es auch an vielen Orten im Universum behaglich still sein, an vielen anderen Orten scheint es fürchterlich und doch vertraut zu krachen und zu knallen – ein phantastisches Klangtheater, und ganz und gar ohne unser Zutun und Zuhören – Science-fiction-Herz, was willst du mehr?

Nun verkünden aber unsere Lehrbücher der Akustik in schöner Einmütigkeit, es seien Schallquellen, und es seien Schallwellen, und diese seien Funktionen bewegter Materie, und die bewegte Materie lasse sich gänzlich ohne jeden Bezug auf den Unterschied von Klang und Stille, den nur unser Hören als existent einklage, beschreiben, berechnen, verwerten und anwenden.

Wenn aber die Schallwellen in ihrem eigenständigen Kontinuum nicht der hörbaren Welt zugehören, dann ist es bis zur heutigen Preisfrage des Philosophon nicht mehr weit: verhalten wir uns wie kluge Affen oder wie sich selbst täuschende Mechaniker, wenn wir zwischen Schallquelle und Hörquelle Apparate einschalten und dann behaupten, diese Einschaltung tue nichts zur Sache, weder ein Iota hinzu, noch ein Iota hinweg?

Ein Licht geht uns auf: die Frage nach der Stille meint insgeheim eine ganz andere: woher und wie kam das Hören in dieses Universum? Eine Frage von köstlicher Tragweite und daher sollten wir das Philosophon ersuchen, noch mehrmals in den Labyrinthen des Begriffes nachzufragen, um uns vor dem dichten Schleier des Geheimnisses von Stille nicht allein und nicht verzagen zu lassen.