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023 Jederzeit und jederweis

Dezember 2000

Was immer der Mensch erhören kann im vormusikalischen Erfahrungsraum des Klanges, also im ehernen Reich des Materials der Musik, das ist entweder Geräusch, Ton oder Stille. Das „Oder“ in diesem Satz ist jedoch nicht ausschließend, sondern im Sinne eines alle überhaupt möglichen Klangereignisse einschließenden und in sich zirkulierenden Kontinuums zu verstehen. An jedem Klang, den wir zwischen Himmel und Erde vermeintlich nur vorzufinden glauben, sind die genannten Modi des Klanges daher notwendig und nachweisbar vorhanden; auch am glockenhellen dreigestrichenen C einer von Maria Callas zelebrierten Arie; denn jede bestimmte Tonhöhe ist im Reich der Musik nicht nur im tonalen oder nichttonalen Kontinuum exakt zu erklimmen, sie ist auch dem Apeiron des materialen Tonhöhenkontinuums, in dem sich die von Stille durchsetzte Geräuschewelt der Tausendsteltöne tummelt, als eine absolut geformte Tonhöhe abzuringen. La Divina beklagte, sie verfüge eigentlich über drei Stimmen in einer und habe daher eine eigene individuelle Technik ausbilden müssen, um die Probleme des Registerwechsels ihrer Stimmen zu bewältigen.

Das überwundene Chaos des Klangmaterials bleibt ein perzeptiver Teil in der überwindenden Ton-Gestalt, auch wenn wir es im triumphierenden Überwindungsresultat nicht mehr wahrnehmen können oder wollen. Das kontingente Chaos des Klangreiches ist die materiale Bedingung der Möglichkeit für die absolute Form des sich selbst als Modalität seiner Substanz verwirklichenden Klanges, worin sich der Begriff des Klanges als Logos und daher als formierende Form an seiner Materie absolut betätigt. Alles was existiert, ist nur als permanentes Wechselwirken von Leiden und Tun, von Materie und Form möglich.

Der genannte Satz über die drei gründenden Modi des Klanges – Geräusch – Ton – Stille – ist ein disjunktives Urteil mit universalem Anspruch, ein Urteil, das eine Selbstoffenbarung des einen und ewigen Begriffes von Klang ausspricht, den schon der homo habilis vor zwei Millionen Jahren in seiner Klangerfahrung wenigstens rudimentär besessen haben muß, weil ihn dergestalt auch unsere heutigen Tiere in instinktgebundener Weise besitzen, ohne daß unsere Urahnen über die Herkunft des Klanges und seine Gestaltbarkeit zu Gesängen und Musiken zunächst mehr als dämonische Mythen und phantastische Märchen erzählen konnten. Nun aber, spätestens seit dem 20. Jahrhundert, ist uns die Sache des Klanges überaus und allzu sehr vertraut, auch wenn unsere Neue und Neueste Kunst-Musik davon kein Lied mehr singen, sondern eine mobile Galerie klingender Artefakte, die wir heute noch Kunst nennen, darüber konzeptieren und realisieren kann und muß. Zwischen dem weißen Rauschen einer elektroakustischen Komposition und einem Klangmarathon Morton Feldmans, in dem die Stille den Generalbaß eines bodenlosen und zugleich höchst artifiziellen Schweigens spielt, ist uns das gesamte Kontinuum des ehernen Materials der Musik jederzeit und jederweis zugänglich und erfahrbar, jederzeit und jederweis manipulierbar und reproduzierbar geworden.

Es ist also die Vernunft unseres Hörens, die uns zwingt, jeden Klang – gleichgültig ob er vermeintlich natürlich oder maschinell künstlich erzeugt wurde – auch eine Panflöte ist bereits eine kleine Handmaschine zur Klangerzeugung – in den genannten absoluten Modi des absoluten Kontinuums von Geräusch, Ton und Stille wahrzunehmen, zu intonieren, zu musizieren und kompositorisch einzusetzen. – Nicht also ist es die Natur, weder eine objektive noch eine subjektive, welche die Modi der Klangsubstanz ursprünglich erzeugt, sosehr die materielle Natur im Bewußtsein des modernen Menschen den Rang jener verflossenen Mythen und Märchen wieder erklommen hat, die vermeintlich alles erklären und alles rechtfertigen, was wir heute in und an den Klängen erfahren und mit ihnen anstellen können. Die Naivität, mit der wir von der Existenz einer Mikrotonalität oder der Erfahrbarkeit einer absoluten Stille sprechen, ist nicht weniger kurios als der Glaube eines Menschen der animistischen Religionen, daß ein Tier oder eine Pflanze oder ein Stein der Urerzeuger aller Klänge sei.

Nun ist nicht zu leugnen daß alles menschliche Hören nicht absolut jenseits der äußeren und inneren Natur, also der außer uns und an uns befindlichen, stattfinden kann. Der menschliche Geist ist radikal mit seiner Natur und einer vorgegebenen Welt verschränkt, und insofern wir über unsere Sinne mit der Welt und unseresgleichen interagieren, sind wir ohnehin an unverletzte und aufgeweckte Sinnesorgane gebunden. Aber die neuronale und physiologische, die chemisch-physikalische und mechanische Vernetzung unseres hörenden Bewußtseins im Kontinuum der Klangentstehung und Klangvergehung ist nur die Bedingungs- und Mittelskette, die sich der absolute Begriff des Klanges an uns und außer uns voraussetzt, um sich als hörender Geist in den Modi von Klängen setzen und erfahren zu können. In der Tat kommt ein Geräusch in unserem Bewußtsein nur zustande, wenn aperiodische und tumultuarische Schwingungen als Ensemble nicht distinkter Tonhöhen unser Ohr und unseren Körper treffen und durchdringen; desgleichen Töne nur, wenn der Tumult gestillt und die Kraft und Form der periodischen Schwingung sich eingefunden; und desgleichen die Stille nur, wenn kein äußeres Ereignis schwingender Materie des Menschen Ohr und Körper belästigt. Auch darf im äußeren und inneren Kontinuum der natürlichen Bedingungskette keine mitwirkende Station fehlen oder gravierend verletzt sein. Eine Kanonenkugel, neben uns abgefeuert, bliebe unhörbar, schöben wir zwischen ihre Explosion und unsere gemütliche Position eines homo sapiens sapiens ein schallundurchlässiges Vakuum ein. Und ein verletztes sogenanntes Hörzentrum in unserem Gehirn verletzt die unsterbliche Kraft des Hörens auf sterbliche Weise.

Und dennoch ist das Kontinuum des Hörens selbst nicht identisch mit den angeführten Kontinua, weil es als selbständiges und freies Hören die finale und daher urbewirkende Ursache aller Kausalketten in der sogenannten objektiven und subjektiven Natur des Hörens sein muß. Unser Hören ist der apperzeptive und teleologische Aktionsort, an dem die Synthesen der Klangzirkulation und aller Klangbeziehungen geschnürt, abgesandt und wieder eingesammelt werden. Davon kann sich jeder jederzeit überzeugen: wir finden nämlich die von uns gehörten Geräusche, Töne und Stillen weder in unserem Gehirn, noch in unseren Nervenbahnen und auch nicht in den Labyrinthen unserer Gehörgänge, und wir werden sie dort auch niemals auffinden. Auch nicht außer uns werden sie uns jemals begegnen, weil wir im Raum und an den bewegten Materien immer nur Schallquellen und das Kontinuum von Schallereignissen vorfinden werden. Auch die Stille ist daher nicht eine Empfängnis einer entleerten Welt durch ein passives und ichloses Medium in uns, auch die Stille ist die finale Setzung und ichbezogene Formierung unseres aus und mit Freiheit in die materielle Welt hineinwirkenden Hörens. Und es soll sogar Menschen geben, die sich Klänge und Töne vorstellen, und andere, die sie sogar an einem Ort namens Gedächtnis aufbewahren können.

Natürlich ist es eine Zumutung, sich vorstellen zu müssen, daß der chaotische Annäherungsversuch jenes Mondes oder Planeten an Saturn, der dem Rocheschen Gesetz gemäß bestraft und uns zur Freude bis heute in kreisende Gesteins-Ringe von entfernungsbedingter Schönheit zerbrochen wurde, lautlos vor sich gegangen sein soll. Konnte diese kleine kosmische Katastrophe nicht wenigstens unter dem Tusch dissonierender Sphärenklänge veranstaltet worden sein, wenn es schon nicht knallen und krachen konnte wie auf unseren Jahrmärkten und Feuerwerken, die uns stets wieder in staunende Kinder verwandeln?

Wer aber angesichts dieser Zumutung die Versuchung in sich verspürt, ein göttliches Hören im Universum zu positionieren, dem sei von diesem Versuch dringend abgeraten. Denn ein göttliches Hören kann sich nur in und mit uns in einem existenten Universum manifestieren oder nur für Lebewesen von unseresgleichen, die zugleich seinesgleichen wären. Es delektiert keinen Gott, dem Knallen und Prasseln von Pulsaren und Galaxien, von Roten Riesen und Braunen Zwergen zuhören und einen Urknall mit kosmischem Trommelfell ertragen zu müssen. Und ein kluger, theologieversierter Nominalist der Akustik, der heute noch fragt, ob der Allmächtige einen Klang hören könne, der lauter als der lauteste oder stiller als der stillste sei, der hat einen Knall.

Eines ist gewiß: unser Hören und Sehen führt uns in das Universum hinaus, und macht es hörbar und sichtbar; und wir wissen nicht warum und wozu diese Reise; als sollte das Universum in eine Begegnungsstätte jenes Geistes verwandelt werden, der es erschuf. Und ohne Zweifel auf Befehl eines erkennenden Denkens begibt sich unser Hören und Sehen auf die universale Reise. Und unser ist weder das Denken, noch das Hören, noch das Sehen.

Nur im Denken gelangen wir an jenen naturüberkundigen Ort, der in der Nachbarschaft jener Stille siedelt, die wir ebenso gern wie gedankenlos als absolute für verfügbar halten. Als wäre nicht gleichfalls das andere gewiß: daß auch der stillste Mensch noch unendlich stiller werden könnte, weil die Allgegenwart der absoluten Stille Gottes unerreichbar ist.