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024 Das neue Lied der unhörbaren Stille

Dezember 2000

Wie von einer entschwundenen Märchenwelt vernehmen wir die Kunde, daß die vorindustriellen Epochen der Menschheitsgeschichte Jahrmillionen gedauert haben sollen. Jahrmillionen, in welchen unsere Vorfahren inmitten eines ihnen kaum bewußt werdenden Paradieses von Stille lebten, in dem jedes ihrer Erlebnisse, jeder Gedanke und jedes Gefühl, von einem universalen Weltschweigen und einem daher stillenden Ruhesein fortwährend im Zusammenspiel mit den Klängen der Natur umraunt und kommentiert wurden. Die Stätten der Manufakturen und anderer Vorstufen unserer heutigen tosenden Technikwelt waren noch örtlich ausgegrenzt und Heeren von Sklaven und niederen Ständen der Arbeitswelt aufgebürdet. Noch fern eine Zeit, in welcher der Maschine Lärm jede Sekunde und jeden Zentimeter des Menschenlebens durchdringen sollte; und seither schon der kümmerlichste Laut der Natur wie eine Epiphanie einer entschwundenen Welt der Stille gesucht und verehrt wird.

In der Musik der vorindustriellen Epochen kam die Stille wohl vor, aber sie hatte darin keine eigene Stimme, sie war noch nicht ein fundamentales musikalisches Darstellungsmedium, sondern lediglich ein exzentrisches Mittel, um gewisse Intentionen der Form und des Inhaltes musikalischer Klänge zu akzentuieren. Weithin wurde die Stille auch im Reich der Musik als deren zu erfüllender Gegensatz erfahren, als jener universale auratische Rahmen im Gemüt eines noch stillefähigen, weil stillegewöhnten Menschen, aus dessen Gemüt daher schon jeder Klang, und nicht erst die Musik, wie ein unveranstaltetes Event hervortrat, und worin die Klänge der Musik auch wieder unvergeßbar versanken, und nicht um sogleich wieder von anderer Musik und einem Tollhaus von Geräuschen erschlagen zu werden. In den alten Musiklexika finden wir daher noch bis ins 19. Jahrhundert keinerlei Eintragungen zu dem Terminus Stille.

Die Neue Musik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bühne der Musikgeschichte betrat, ist daher nicht mehr auf das traditionelle Inventar von Pausen und Fermaten angewiesen, wenn sie der verlorenen Stille einen neuen Raum in unserem Bewußtsein zu geben versucht. Da es aber nicht darum gehen kann, eine weltgeschichtlich vergangene Präsenz von Stille im Bewußtsein des Menschen von heute und morgen zu restituieren, hängt alles an der Frage, welche neue Art von Stille in dem neuen Menschen der Zukunft durch eine Neue Musik gefunden werden soll und kann.

Dieser Mensch ist schon da; es ist jener, dessen Bewußtsein einem Moloch von Geräuschen und omnipräsenten Unterhaltungsmusiken tagtäglich und allerorts in den Rachen geworfen wird, um darin genußvoll zerkaut und verschluckt zu werden. Ein Mensch, der in seinen nächstfolgenden Jahrhunderten nicht nur die Musiken von Nono, Zender und Scelsi, sondern vor allem auch die der anderen Seite, also jene von Elvis Presley, Duke Ellington und Hansi Hinterseer in sich weitertragen wird, und dem zu diesem Überfluß auch noch die Musik der wahren Mitte von Bach, Mozart und Beethoven als unvergeßbarer Gedächtnisbestand eintätowiert bleiben wird.

Diese Totale des modernen Weltzustandes der Musik sollten wir nicht vergessen, wenn wir bestürzt bemerken, daß seit dem 20. Jahrhundert mitten unter uns und doch nur am Rande der modernen Gesellschaft eine Musik entsteht, in der die Stille gleichsam melodieführend wird. Eine Musik, die daher alle unterhaltende und auch die traditionelle Kunst- und Volksmusik unter ein extremes Anführungs- und Fragezeichen setzt, wenn sie mittels fragmentierter Klanginseln, exaltiert aufgespalteter Einzeltöne und kaum nachvollziehbarer Nuancierungen von Klangkomplexen das Unhörbare einer neuen Stille für einen neuen Menschen hörbar zu machen versucht.

Die Lieder der Unhörbarkeit – als ästhetische Verwirklichung eines extremen Verhaltens in den Grenzbereichen des Menschlichen und Musikalischen angesiedelt – werden uns als Erinnyen und Kassandren nicht mehr verlassen; und sie würden sich selbst zum Verschwinden bringen, eroberten sie wie einst die traditionelle Kunstmusik mit einem universalen Repertoire, normativen Stilen und verbindlichen Geschmäckern die Elite und geistige Mitte einer künftigen Gesellschaft.

Wenn Hans Zender daher die Ohren unserer Tage glücklich preist, weil sie solches hören dürften, nämlich eine Neue Musik neuer Stille, dann ist die Gefahr groß, daß unsere Orientierung in den aktuellen Labyrinthen der Musik endgültig verloren geht. Der Komponist Neuer Musik mißversteht seine musikgeschichtliche Aufgabe und seinen Anerkennungsort im Ganzen der Musik sträflicherweise, wenn er die Wunder des neuen Klangnirvana mit beinahe denselben Worten preist, mit welchen E.T.A. Hoffmann vor schon ziemlich verflossenen Tagen die neue Kunst Beethovens seinen Zeitgenossen gepriesen hat.

Und wenn Luigi Nono sein Musikdenken als fragmentarisch, sprunghaft und chaotisch bekennt, weil nur mehr das Chaos lebendige Musik enthalte und erschaffen lasse, dann bekennt er sich zu dem geheimnisvollen Auftrag, eine Musik mit gänzlich anderer Zeitgestaltung als jener in die Welt zu setzen, die bisher deren Verbindlichkeit und Sinnhaftigkeit ausmachte. Was aber dieser andere Sinn einer anderen musikalischen Zeitgestalt sei, worauf er sich begründe, und wozu er sich artikulieren, musizieren und konsumieren lasse, all das ist nicht geklärt, solange die Geheimnisfrage unbeantwortet bleibt, in welchem Auftrag und zu wessen und welchen Diensten eine Neue Musik zu schaffen wäre, in der die Stille alle anderen Musiken gleichsam stillstellt.

In Nonos Komposition „Fragmente – Stille. An Diotima“ – nach Textfragmenten Hölderlins – faßt sich sein Umgang mit einer Stille, die durch Klanginseln wie in einem gebrochenen Echo zum Sprechen gebracht werden soll, paradigmatisch zusammen. Und nicht zufällig antwortet der Komponist auf die Frage nach dem Sinn und Ziel seiner Musik mit einem jener Paradoxa, deren Sinn und Wert von ihrer beabsichtigten Selbstverrätselung nicht zu trennen ist. Nonos Antwort: „Das ist für mich ein Wort, das muß so sein:“ und dann schrieb er ein Wort nieder, strich es aus und machte es unlesbar. Niemand kennt also das Geheimniswort, und niemand wird jemals wissen, ob es ein sinnvolles Wort war, das der Komponist sich zum besten niedergeschrieben hat. Die heilandsartige Attitude, mit der er sich als selbstgerechter Schmerzensmann einer für die Menschheit sich opfernden Musik stilisiert, ist gewollt und gemußt. Er folgt zunächst den Spuren eines John Cage, der virtuos vorgeführt hatte, wie man mit absurden Paradoxen bei den Freunden der Neuen Musik einen irritierenden und subversiven Schein von intellektuellem Glanz erzeugen kann.

Beide Komponisten der klingenden Stille aber folgen der einsehbaren musikgeschichtlichen Notwendigkeit, daß die Neue Musik ohne begleitende Wortdeutung ein nihil negativum wäre – eines Niemands Musik für Niemand. Die sogenannte Neue Musik ist ohne denkenden Kommentar nicht nur undenkbar, sie ohne ihn auch nicht existenzfähig; die unhörbare Stille ist die nur mehr erdenkbare Stille. Und daher wird der neue Komponist schon zeitlebens auch daran denken, durch unvergessbar Anekdoten gelungener Selbstinszenierung im Dienste erhebender Wortspenden der künftigen Deutungsgeschichte seiner Musik eine ersprießlich mystifizierende Richtung zu geben. Und selbstverständlich darf der Komponist radikal Neuer Musik, der daher den Namen Individualitätsgenie wahrhaft verdient, in seinem Reden und Denken für die Seinen nicht prinzipiell anders agieren als in den Klängen seiner Musik, in der die neue Stille das Wort eines unbekannt beglückenden Geistes führt. Irritierend und Subversiv sind daher die beiden bekanntesten und beliebtesten Rufnamen, auf die jenes schwarze Pony hört, mit dem unser Komponist der kühnen Stille über einen See von unbekannter Tiefe reitet. Und dieses forsche Reiten ist ihm auch nicht zu verdenken, da es höchst unbehaglich ist, dem Ernst der Stunde gemäß abzusteigen, den Namen des verborgenen Auftraggebers zu nennen und auch noch über dessen sprachloses Wesen wirklich nachzudenken.

John Cage, wohl der erste große Meister der Musik genannten Stille, der bekanntlich in seinem total transponierbaren Klavierstück 4´33´´ in einem einzigen schweigenden Satz eine Exposition, Durchführung und Reprise der Stille vorgeführt hat, suchte nach einem neuen Raunen der Stille sogar in den Klängen der „Düsenflugzeuge und Sirenen“. Seine Musik will uns daher trainieren, alle Geräusche und Klänge unserer Technikwelt als intentionslose Musik einer in uns noch verborgenen Stille wahrzunehmen. Keine schönere Musik sei denkbar als die Geräuscheflut in der Mitte einer New Yorker Straßenkreuzung. – Und des Meisters mosaisches Bonmot, er glaube zwar nicht mehr an die Kunst, wohl aber unverdrossen an eine Zukunft des Individuums, nennt bereits den Namen des geheimnisvollen Auftraggebers; fehlt also nur noch dessen Begriff; das nächste Philosophon wird sich auf die Suche nach dessen Spuren begeben.