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029 Altes und neues Ägypten

Jänner 2001

Der sogenannte „Tristan-Akkord“ aus Richard Wagners Oper Tristan und Isolde genießt in den Augen und Ohren unserer Musiktheorie bis heute den Rang eines mystischen Faszinosums, dem musikmagische Fähigkeiten nachgesagt werden. Denn ein unerkennbares Geheimnis müsse ein Akkord bergen, dessen harmonische Rätselhaftigkeit wenigstens fünfzehn Erklärungsversionen auf den Plan rufe, wenn man sich bemüht, seine harmonielogische Deutung zu erhellen. Und indem sich die bürgerliche Musiktheorie mit den ehrwürdigen, obgleich kargen Mitteln einer hausgebackenen Stufen- oder Funktionstheorie bemühte, die Apotheose seiner harmonischen Vieldeutigkeit nachzusingen, erhob sie den Tristan-Akkord in einer für sie geheimnisvollen Weise zum mythischen Quell einer neuen Harmonik und neuen Musik, die der traditionellen Harmonik und Musik überlegen sein sollte.

Doch sollten wir den Begriff des Geheimnisses nicht mit dem Begriff des Rätsels verwechseln. Das Rätsel ist ein gestelltes und inszeniertes Geheimnis; das Geheimnis aber umschließt, solange es eines noch ist, jenen, der das Geheimnis, nicht stellt, sondern als verhüllter Teil in dessen noch undurchsichtiger Dunkelheit lebt, weil er sich noch nicht als Nicht-Geheimnis weiß. Aufstellbar und inszenierbar ist ein Rätsel daher nur in einer durchschaubaren Relation zu einem System von Bedingungen, das für die rationale Auflösung des Rätsels stets wieder sorgt. Diese Auflösung und ihre selbstverrätselte Inszenierung mag so grenzenlos variabel, so reich an Möglichkeiten sein wie nur möglich, – sie wird nie zu einem Geheimnis. Daher ist das Geheimnis des Rätsels einer Lottoziehung keines, obwohl das Verhältnis der durch die Hand des Zufalls zu ziehenden Zahlen zu jener Menge von Zahlen, aus denen die glückliche Zahlenreihe gezogen wird, weitaus rätselhafter ist als die harmonielogische Vieldeutigkeit des Tristan-Akkordes.

Das Rätsel der Sphinx an Ödipus war auflösbar, weil es in einer durchschaubaren Relation zu einer rationalen Folge von Lebensaltern des Menschen erstellt und sein Code daher entschlüsselbar war, sofern sich nur ein schlauer Pionier einfand, um die rätselbildende Schicht der verhüllenden Analogie wegzuschieben. Aber das größere Rätsel, das der ägyptische Mensch sich selbst war, konnte nicht mit den ehrwürdigen, obgleich kargen Mitteln seines Welt- und Menschenbildes aufgelöst werden. Sich selbst ein unauflösbares Rätsel und daher ein Geheimnis ist der Mensch nur solange, als er sein Wesen als ein unfreies Glied einer sich selbst organisierenden Natur, eines unbekannten Gottes, eines teuflischen Gegengottes oder anderer scheinallmächtiger, geschichtlich-irdischer Mächte scheinwissend glaubt. Mit Sorge nehmen wir daher in unseren Tagen zur Kenntnis, wie ein ganzes Bündel scheinallwissender Wissenschaften bereitsteht, im Namen von Evolutionstheorie, Gehirnforschung, Biogentechnologie usf ihren säkularen Molochen abermals auserwählte Huldigungskohorten unter Menschen zu opfern, um ein Neues unter der Sonne zu züchten, und sei es auch um den Preis, das Ganze von Mensch und Menschheit in die universale Müllhalde eines säkularen Nichts zu kippen.

Zu Musik geronnen findet sich die Struktur des halbverminderten Septakkordes, vulgo Tristan-Akkord, bereits in einigen Werken von Beethoven, Schumann und Liszt vor; und in Spohrs Oper „Der Alchymist“ aus dem Jahre 1830 findet sich auch bereits das Sehnsuchtsmotiv aus Tristan und Isolde mit seinem alterierten Septakkord ein.

Weiters sollten wir nicht so rätselhaft unklug sein, vergessen zu haben, dass die Schwachstelle der traditionellen Molltonart, an der sich der systemrationale Unterschied einer „harmonischen“ von einer „melodischen“ Moll-Skala auftat, immer schon als alterationsfähiges Übungsgelände für den kleinen Grenzverkehr verschiedener benachbarter Tonarten beliebt war. An dieser Schwachstelle, die spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Perspektive einer nicht nur die Dur-Moll-Tonalität sprengenden Universalchromatik, vulgo Alterationsharmonik, – in der bald niemand mehr wusste und hören konnte, welcher Ton für welchen anderen Ton ein Vorhalt oder keiner war – als Starkstelle erscheinen mußte, lagerte ungehoben und unbeseitigbar das Wrack der mittelalterlichen Modal-Tonalität mitten in die neuzeitliche Dur-Moll-Tonalität hinein. An dieser Bruch-Stelle konnte füglich auch der Septakkord der zweiten Skalenstufe in Moll zugleich als Septakkord der siebenten Skalenstufe in der parallelen Dur-Tonart musikalisch verhandelt werden, und dies noch ganz ohne jene nur stimmungsrational erdachten Musikengel einer totalen enharmonischen Verwechslung, auf die Arnold Schönberg glaubte sich berufen zu können, als er sich musikgeschichtlich mit einem universalen Komponisten der Tradition verwechselte und daher der Meinung huldigte, aus einer alterationschromatischen Zerschlagung der Dur-Moll-Tonalität lasse sich eine neue universale Harmonik grenzenlos vagierender Akkorde hervorzaubern und als Tonsystem und Tonsatz institutionalisieren.

Es folgt daher aus der Vernünftigkeit, vulgo Rationalität, der Dur-Moll-Tonalität selbst, dass nur von ihrer Grenze her jener Angriff auf sie erfolgen konnte, der aus musikgeschichtlichen Gründen, die aber wiederum nur als Befolgung strenger musikästhetischer Nötigungen universale Geltung erlangen konnten, erfolgen musste.

Vom niemandslandverdächtigen Grenzstreifen her, wo die musikalische Kraft der harmonischen Vernunft-Synthesen des tonalen Selbstvermittlungssystems immer schon ausklinkten und sich ins Schwache und Sterbende, ins Vieldeutige und Unbestimmte verloren, wirft der Tristan-Akkord seine Bomben und Granaten in das Innere der Dur-Moll-Tonalität, um zu sprengen, was zu sprengen war. Die musikalisch-harmonische Vieldeutigkeit, die dabei ersprengt wird, ist daher geheimnisloser Weise eine ganz andere als jene noch unzersprengte Vieldeutigkeit der gestandenen Tonalität, wonach jeder Ton im dur-moll-tonalen Gefüge zuerst und zuletzt, soll er harmonisch-melodisch verständlich sein, entweder als Oktave oder als Quinte oder als Terz im tonikalen Bezug von tonartgebundenen Grundakkorden auf der inneren und äußeren Bühne unseres musikalischen Vorstellens erscheinen muß.

Und diese tonal-harmonischen Letztreduktionen und Letztdeduktionen galten und gelten nicht deshalb universal, weil sich irgendein Musiktheoretiker ein tonales Tonsystem ausgedacht oder gar ein fremdgehender Komponist den Absud eines Tonsystems zusammengepfuscht hat, weil er das Geheimnis universaler Tonsystembildung in der Geschichte der abendländischen Musik nicht einmal mehr aus der Ferne zu verstehen versucht und daher als bloße Konvention eines überholten Zeitgeschmackes denunziert. Der mimetische Selbstvollzug universaler Tonalität, der sich in der Dur-Moll-Tonalität musikgeschichtlich vollendete, ermöglicht und trägt die Realität einer musikalischen Selbstverständlichkeitsstruktur, die ihre Unmittelbarkeit absolut vermittelt erzeugt und garantiert. Über diese mimetische Selbstverständlichkeit einer universal verstehbaren Vieldeutigkeit wird der Tristan-Akkord und sein erweitertes musikgeschichtliches Gefolge niemals verfügen, auch dann nicht, wenn eines Tages der Mond nicht mehr um die Erde, sondern die Erde um den Mond kreisen sollte.

Nun sind aber Akkorde, und mögen sie noch so diffizil sein und in harmonischer Perspektive noch so vieldeutig und rätselhaft erscheinen, nichts weiter als ein Ausdrucksmittel unter anderen für einen Komponisten, der sich als solcher auch nur verstehen und bezeichnen sollte, wenn er sich der musikalischen Ausdrucksmittel um des Ausdruckes eines nichtmusikalischen Inhaltes willen bedient. Dieser Inhalt ist in Tristan und Isolde die Geschichte von Liebe und Tod eines armen Pärchens, der das bürgerliche Publikum bis heute viel an kathartischer Wirkung, Genuß und Belehrung abzugewinnen versteht.

Vielleicht lässt sich daher in dieser noch unerörterten Beziehung des Tristan-Akkordes auf seinen operndramatischen Inhalt ein nichterkennbares Geheimnis auffinden, das die beliebte These vom mystischen Faszinosum des Tristan-Akkordes retten könnte? Das nächste Philosophon wird daher die Frage erörtern, ob sich der großartige Fund Richard Wagners in dieser geheimnisgläubigen Weise deuten lässt; – der großartige Fund nämlich, auf der zerrissenen Melancholie eines gebrochenen Akkordes, in dem zwei Quarten eine Terz in ihrer Mitte wie erstickend umarmen, eine ganze Oper aufzubauen, die sich nochmals als eine universale Oper im Sinne ihrer noch ungebrochenen Tradition vollenden konnte.