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025 Erster Traumtod

Dezember 2000

Wenn der moderne Mensch von heute mit sich und seinen Mitmenschen kommuniziert, bewegt er sich bei wachem Bewußtsein die längste Zeit seines Lebenstages in den Bahnen eines formalen Ritus. Sprechen Menschen miteinander, bemühen sie die kaum je einer besonderen Beachtung gewürdigte Form des Satzes in ihrer jeweiligen Sprache, durch die sie befugt und befähigt sind, unentwegt und wortreich Subjekte mit Prädikaten durch eine Kopula zu verbinden. Dieser Ritus des sprachlichen Satzes ist formal, weil kein Inhalt von Welt heutzutage einem prinzipiellen Sprachtabu unterliegt, und weil jeder Weltinhalt in die Form des Satzes eingehen kann – sofern nur der wahrgenommene Inhalt einer sprachlogischen Kommunizierbarkeit unter Menschen zugänglich ist. Niemand denkt beim Sprechen an die logischen Formen des Satzes, in denen wir ständig sprechen; virtuos und wie Traumwandler wenden wir die ontologischen Funktionen von Begriff, Urteil und Schluß auf alle Weltinhalte an, ohne kaum einmal daran zu denken, worin wir fortwährend denken und worin wir fortwährend sprechen. Wir haben ja auch etwas Wichtigeres zu tun: nämlich miteinander zu kommunizieren und miteinander zu handeln.

Zwar ist der oder die Sprechende in jeder Sprachkommunikation der Wortführer, und der Zuhörende hat weder Zeit noch Muße noch Macht, während des Hörens selbst zu sprechen. Denn um gehörte Sätze verstehen zu können, muß der Hörende auf deren Inhalt schauen; ohne diese Schau vermag er den Sinn der ausgesprochenen Worte nicht zu erfassen. Spräche der Hörende zugleich, und wäre es nur innerlich, so wäre er entweder in einer angsterfüllten oder liebesversklavten Nachahmungsneurose befangen; oder er hörte autistisch nur sich selbst und nicht den zu ihm Sprechenden sprechen. Der Hörende in einem Gespräch hat also immer das Nachsehen, weshalb wir auch in unseren Gesprächen so gern und so oft wie möglich zu Wort kommen möchten, um unserem schon über Gebühr erhörten Gesprächspartner gleichfalls das Nachsehen geben zu können. Aber trotz dieser erträglichen und moderierbaren Asymmetrie in jedem unserer Gespräche bleibt der formale Ritus des Satzes das Herzstück unserer gesamten sprachlichen Kommunikation; er ist unser täglich Brot geworden – und kein Sprechender hört und versteht sich, wie ihn der Hörende sprechen hört und versteht.

Daß wir uns zu Kunstwerken und Künstlern nicht in den Bahnen eines formalen Ritus verhalten können und sollen, erklärt sowohl ihren wie auch unseren Ausnahmezustand im Bannkreis der Künste. Es erklärt sowohl das Gloriose des Weltruhmes populärer Kunst und Künstler wie auch das Tragische einer Existenz von nichtpopulären Kunstwerken und Künstlern im Niemandsland der modernen Gesellschaft.

Elvis Presley, Maria Callas und Herbert von Karajan kennen sozusagen alle, aber George Crumb, Cathy Berberian und Gustav Leonhard kennen sozuhören nur wenige; und nachdem diese Wenigen in Kürze werden verstorben sein, wird auch noch der vergängliche Partialruhm ihrer Musikheroen schon demnächst in die Artikelrunen unserer Musiklexika und in die CD-Speicher unserer Phonotheken ermattet zurücksinken.

Die tonale Musik bemüht einen inhaltlichen Ritus, in dessen syntaktisch gefügter und stilfähig normierter Sprache eine Basis von sinnschaffenden Klangworten permanent wiederholt wird. Wir musizieren und hören in diesem Arkanum mittels einer Rede von klangverschlüsselten Reimen, worin sich auf alles in der Welt ein letztlich schöner Reim machen läßt. Nicht wie Subjekt und Prädikat im Satz unserer diskursiv denkenden Wortsprache verbinden sich daher Vordersatz und Nachsatz in der Periode und Sequenz traditioneller Musik; nicht wie Einzelnes und Allgemeines im Urteil unseres Aussagesatzes verbinden sich Dominante und Tonika in der fortlaufenden Kadenz aller mehrstimmigen Tonalitätsmusik; nicht wie Synthese und Analyse in jedem definierenden Satz verbinden sich schwere und leichte Schlagzeiten im Fortgang eines Taktsystems; und nicht wie Prämissen und Conclusio in einer Folge von Schlußsätzen verhalten sich Exposition, Durchführung und Reprise im universalen Sonatensatz. Und daß eine Musik, in der alle Themen und ihr gesamter Gestaltenverlauf aus einem oder wenigen Motiven sich entfalte, eine höhere Logik präsentiere als die Logik unserer diskursiven Vernunft, war eine erlaubte ästhetische Illusion nur unter den grandiosen Vorzeichen der belle époque. Deren musikalischen Zeugnissen bewahren wir daher bis heute ein aristokratisch-rituelles Angedenken.

Die Dressur unserer musikalischen Sinnlichkeit auf und durch einen universalen Ritus, der sich immer auch als sein eigener Inhalt präsentieren und in uns vollziehen muß, erlaubte dessen originaler Genialität, also den sogenannten Kompositions-Genies der Musikgeschichte, nachdem sie sich einmal aus der Heimstatt einer religiösen auf die Suche nach einer säkularen Musiksprache begeben hatten, jene blendende Schicht klingender Eigennamen als geisterfüllten Inhalt in musikalische Sätze intuitiv zu inkarnieren, die uns auch im Reich der Musik höchst dankenswerterweise eine vollendete Kunstwelt unvergeßbarer Meisterwerke und Unterhaltungsnummern beschert hat.

Daher bewundern wir noch heute unverschämt kollektiv und rituell deren unverwechselbare Einzigartigkeit und genieren uns auch nicht, Werke, Nummern und Künstler als geglückte Individuation einer menschheitlichen Sinnlichkeit musikalisch zu kollektivieren und rituell anzubeten – auch dann noch, wenn es – wie heutzutage – bereits darum geht, die letzten Fetzen und Flicken des einstigen Götterkleides zu verteilen.

Die namentliche Verbindlichkeit der unvergeßbaren Meisterwerke und Unterhaltungsnummern, worin sich noch einmal eine kollektiv präparierbare Sinnlichkeit des Menschen vergegenständlichte, war ein verbindlich verbindender Sozialkörper – also die Institution einer sprechenden säkularen Gottheit, in und durch deren Unendlichnamigkeit wir noch heute ein Geheimnis vernehmen, das wir vorerst noch nicht in eine diskursiv begreifenden Sprache der Vernunft übersetzen können.

Es versteht sich, daß eine Musik ohne universale inhaltliche Ritualstruktur und ihres mimetischen Vollzuges in uns nicht befähigt und auch nicht beauftragt ist, neuerlich eine Kunstwelt hervorzubringen, in der Werke und Künstler im Rang individueller Eigennamen unser Begehren regieren und erfüllen. Ein nichttonaler Hit wäre der in eine Raupe zurückverwandelte Schmetterling, ein nichttonaler Beethoven der mit einem Löwen sich verwechselnde Wurm.

In Gesprächen und Interviews geben Musiker und Musikproduzenten – vor allem in den Unterhaltungssparten aktueller Musik – , des öfteren ihrem Erstaunen darüber verschämten Ausdruck, daß es auch heute noch möglich sei, mit einem standardisierten Repertoire völlig abgespielter Harmonien und ausgeschlachteter Rhythmen Melodien und Sounds numerös zu kreieren, die erhebliche Massen zu begeistern vermögen.

Angesichts dieses Befundes muß der immer noch rituell schöpferische Musiker der Unterhaltungssphären beinahe zwangsläufig dem kuriosen Phantasma anheimfallen, es sei ausgerechnet das extraordinäre Charisma seiner musizierenden und überhaupt liebenswerten Persönlichkeit dafür verantwortlich, daß ausgerechnet seine Durchschnitts-Wenigkeit im Bewußtsein etwelcher Fans zu einem musikalischen Halb- oder Ganzgott aufgestiegen ist. Unser Star verkennt, daß der erschöpfte tonale Ritus in der weltgeschichtlichen Stunde seines Todes die letzten Ressourcen anzapfen muß: er macht sich daher über die Menschlichkeit des vormusizierenden Menschen her und stilisiert dessen fetischisierten Sex-Appeal zu einem Körperkult, um den Moloch der industriell zu versorgenden Musikmärkte zufrieden zu stellen. Und es ist nicht zu leugnen, daß die Musik heutzutage ihre größten und nie gewesenen Erfolge feiert, denn noch niemals domptierte sie die Seelenschaft eines Millionenpublikums begeisterter Menschen. Endlich scheint das Märchen wahr geworden, demzufolge einzig der Musik die orphische Macht zugesprochen wurde, alle Völker dieser Erde zum großen Menschheitsfrieden verbinden zu können, weil nur die Sprache der Musik ohne von und zu und ohne wenn und aber verständlich und verbindend sei.

Dieses falsche Märchen über wahre Wünsche wird mittlerweile in den Höhlen der Techno-Musik zu Tode erzählt: der tonale Mimus reduziert sich auf sein Knochengerüst, auf die erbarmungslose Ritualität des sich pausenlos wiederholenden Pulsations-Rhythmus. Beflügelt von enormen Schwüngen körperlich empfindbarer Lautstärken und stets neu auffrisierter Sounddesigns darf die tonale Musik nun endlich das große Wagnis wagen: den empedokleischen Sturz in die entleerte Seele von heute – den Absturz in den Abgrund einer reinen und daher vermeintlich reinigenden Rauschmusik.

Umso drängender die Frage, was in dieser zerrissenen Kultur der Moderne eine Musik bewirken soll, in der die Stille melodieführend geworden ist, eine Neue Musik von so radikal neuer Neuheit, daß sie von den meisten unserer Zeitgenossen auch heute noch nicht einmal als Musik wahrgenommen oder gar anerkannt und aufgesucht wird. Was soll eine Neue Musik in einer Gesellschaft, die einerseits im avantgarden Gelände des formalen Ritus ihrer Sprachkommunikation nach einem vollkommen sprach- und denkmächtigen Menschen sucht, um die noch nicht vorhandenen freien Kollektive einer arbeitsteilig ausdifferenzierten Gesellschaft zu organisieren; und was soll eine Neue Musik in einer Gesellschaft, die andererseits aus der Tradition großer Musik eine universale Kindheitssprache der Menschheit übernommen hat, die sich nach ihrer aristokratischen Vollendung in Gestalt einer absoluten Musik nunmehr einer universalen Verunterhaltung preisgibt und mit traumwandlerischer Zielsicherheit ihren Opfertod inszeniert? Da die Neue Musik weder das entstehende Demokratiesubjekt überbieten, noch der traditionellen Kunstmusik den Rang streitig machen kann, wird es dem nächsten Philosophon nicht schwer fallen, im avantgarden Gelände der Neuen Musik die ästhetische Gestalt eines zweiten Traumtodes zu ermitteln.