Categories Menu

026 Zweiter Traumtod

Dezember 2000

Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Dichtung, diese jahrtausendprächtige Phalanx der traditionellen Künste, transformiert sich seit dem 20. Jahrhundert in ein neues Stadium ihrer Entwicklung, das wir mit dem Modewort „Moderne Kunst“ zu umschreiben pflegen. In der Musik begegnet uns das Phänomen unter dem Namen Neue Musik, und so mancher Interpret dieser weltgeschichtlichen Kunstrevolution billigt auch dieser Neuen Musik wiederum eine zentrale Rolle zu, eine quasimythische Führungsrolle in der Mitte der zu neuen Künsten mutierenden traditionellen Künste.

In der Bevölkerung, ja sogar unter Musikern erfreut sich die Neue Musik eines äußerst geringen Zuspruchs, als wäre dunkel und ungewiß, wovon die ungewohnten Klänge einer Neuen Musik sprechen sollten, und für wen sie eine so unersetzliche Sinnerfahrung sein könnten, wie die Propagandisten der in die Jahre gekommenen Avantgardisten Neuer Musik unermüdlich behaupten. Diese meinen ja gelegentlich noch heute, nur die Neue Musik sei in steter Aktualisierung ihrer Neuheit die einzig wirklich Kunstmusik zu nennende Musik unserer Tage, und sie sei daher für ein glückendes Leben im modernen Heute und Morgen ganz und gar unverzichtbar. Wie damit auch immer – die lustigen Tage des pubertären Entwicklungsstadiums der modernen Kunst, als ihre Revolutionäre mit der Parole, die Neue Kunst sei einzig um ihrer selbst willen da, gewaltigen Eindruck machen konnten, diese köstlichen Tage eines épater le bourgeois sind lange vorbei und kehren nicht wieder.

Nun kann es erstens nicht im Interesse der Neuen Musik liegen, mit der großen traditionellen Musik, mit ihrer rituellen Sprache und finalen Werkgestaltung sich zu messen – schon, weil die traditionelle Musik den verblichenen Typus des christlich-abendländischen Menschen repräsentiert. Mag dessen große Musik seit dem 19. Jahrhundert auch in das quasiübergeschichtliche Pantheon einer Wiederaufführungsgeschichte samt kanonischem Repertoire und Geschmackshierarchie aufgestiegen sein, so sind es heute und morgen doch stets gegenwärtig existierende, also immerzu moderne Menschen, die mitbestimmen und mitbestimmen werden, was an der so unvergeßbar scheinenden traditionellen Musik übergeschichtlich und „ewig menschlich“ ist.

Ebenso unsinnig wäre es zweitens, die Neue Musik begäbe sich zu gemeinsamen Zielen zusammen mit den modernen Unterhaltungsmusiken auf die
industriell organisierte Kulturbühne der Musikmärkte. Denn unserer Unterhaltungsmusik sind die Pflichten und Lasten von Massenwirkungen auferlegt, die nur sie allein mit den ausgehöhlten und sinnschwach gewordenen Mitteln der traditionellen Musik und den neuen Mitteln einer entfesselten Klangtechnologie erfüllen kann. Auch nicht mit dem Jazz sollte die Neue Musik konkurrieren oder sich amalgamieren, denn unverkennbar ist es die einzig mit seinen Mitteln zu lösende Aufgabe des Jazz, dem modernen Menschen eine säkulare Musikantenmusik nochmals zu ermöglichen.

Schon gar nicht vermag die Neue Musik und Kunst aber drittens mit dem allseits und permanent sich und seine Lebenswelt reflektierenden Demokratie-Subjekt der modernen Gesellschaft zu konkurrieren, weil die universale diskursive Sprachkommunikation das Fundament seiner Gesellschaft bildet, die über alles und jedes nur mittels Begriff und Wort ein glaubwürdig konsensfähiges Leben kollektiv organisieren kann. Daher ist heute unmöglich geworden, was der bürgerlichen Ära weltgeschichtlich zum letzten Mal möglich war: eine fundamental sinnbegründende, etwa ersatzreligiöse oder utopische Funktion von Kunst und Musik für das Leben des modernen Menschen in Anspruch zu nehmen; – etwa im Namen eines omnikreativen Menschen, weil ausgerechnet dieses hominide Chamäleon das führende Leitbild der ausdifferenzierten modernen Gesellschaft wäre. Die Ideologie des kreativen Menschen, von Politikern bevorzugt zur rhetorischen Salbung von Kunst und Kultur in den öffentlichen Mund genommen, ist ubiquitär, sie wohnt hinter jeder Ecke unserer Gesellschaft, und sie kann vom straßenkehrenden Magistratsbeamten ebenso wie vom Musikbeamten, der durch Bachs Fugen fegt, für sich reklamiert werden.

Folgt viertens, daß Neue Musik und Neue Kunst in geduckter Stellung verharren und mit ihrem Status einer speziellen Freiheitsübung zufrieden sein müssen, wenn sie der Macht des Films im Gemüt des modernen Menschen gewahr werden. Denn der Film in allen seinen dokumentarischen und künstlerischen Formen ist das dem säkularen Reflexionsniveau des modernen Menschen einzig entsprechende moderne Medium seiner kollektiv vermittelbaren und radikal säkularen Lebensrealität.

Dennoch fällt der Neuen Kunst und der Neuen Musik insbesondere eine unersetzliche Aufgabe im Ganzen der modernen Lebenswelt zu. Kommunizieren wir nämlich als moderne Individuen in den formalen Riten unserer reflektierten, durch Begriff und Wort vermittelten Lebenswelten, dann gehören wir Kollektiven an, in denen unser Ich stets unter eine bestimmte Art der Gattung Mensch subsumiert und geborgen wird. Jedes moderne Ich ist Teil unzähliger und sehr verschiedenartiger Berufs- und Kulturszenenstämme, und die Zugehörigkeit zu einer unübersehbaren Vielfalt von Menschenarten vernichtet und erlöst zugleich jedes Individuum als Individuum. Ein Wir zu sein ist für ein säkulares endliches Ich der köstliche Lebensjob einer ersterbbaren Unsterblichkeit.

In der modernen Welt erleben sich die Menschen daher in einer merkwürdig unbemerkt bleibenden Art von Unsterblichkeit, in der sie permanent und kollektiv den Tod des Individuums verdrängen. Wir leben in dem schwankenden Lebensgefühl, unser Leben müßte und sollte eigentlich immer so weiter gehen, von Welle zu Welle, und der Tod wäre insgeheim ein Skandal – ganz wie Elias Canetti glaubte, zweifelsfrei erkannt zu haben.

Aber trotz aller Geborgenheit in den modernen Kollektiven ist unser Ich immer auch ein Individuum verbleibendes Individuum, eine absolut einsame Selbstbeziehung, die nicht einmal sich selbst kommunizierbar ist. Das Individuum als Individuum ist nicht nur nicht teilbar, es ist schlechthin nicht mitteilbar.

Denn Worte und Begriffe sind stets allgemein und gehören allen, und eine erfundene Privatsprache könnte nur in einer beziehentlichen Negation der vorhandenen Sprachen als Privatsprache erfahren und verstanden werden. Alle Menschen befinden sich daher stets im Auge des Taifuns einer universalen Kommunikation. Aber als nur individuelle, die sie immer auch sind, sind sie zugleich jenseits des Auges, hinausgeschleudert in eine Vereinzelung, in einen unendlichen und haltlosen Zeitraum sprach- und begriffloser Individuation, in der sie ihres säkularen, also gottlosen Todes angesichtig werden. Diesen Raum einer totalen Ungeborgenheit betritt der moderne Mensch, wenn er einmal die totale Selbstreflektiertheit seines Daseins als Grund seines Lebens erfahren und durchfahren hat. Und an dieser Rückseite des autonomen mündigen Demokratiesubjekts der Moderne ergeht nun der Ruf und Auftrag an eine neue Art von Kunst, um der nicht auszusprechenden Ungeborgenheit des nichtkommunizierbaren Individuums eine Sprache wenigstens ästhetisch vorstellbar und erlebbar zu machen.

Um diesen neuen, weil noch nie gewesenen Inhalt ausdrücken zu können, sucht eine Neue Musik nach einer syntaxlosen und stilbefreiten Prosa von Klängen, in der die Stille als stets präsentes Echo des säkularen Todes melodieführend wird. Sie zerbricht zu diesem Zweck nicht nur den formalen Ritus unserer Sprachkommunikation, sie durchschlägt auch die universalen Synthesen von musikalischem Verstand und Vernunft, um jenseits aller herkömmlichen Musik, ihrer Kollektive und Traditionen, eine prärationale Ratio, eine todträumende Prosa musikalischer Klänge zu gewinnen. Davon und dafür spricht eine Neue Musik in einer Sprache der Sprachlosigkeit, davon und dafür will sie eine unersetzliche Sinnerfahrung bereitstellen. Das moderne Subjekt soll sich darein fügen und einüben, auf der als grundlos erfahrenen Rückseite seiner reflektierten Freiheit nicht zu Tode zu erschrecken. Daher die nimmermüde Suche der Neuen Musik nach immer neuen Klängen und immer neuen sensibilia musicalia, nach lauteren Gestalten am Rande des Unhörbaren als Symbolen des Unbewältigbaren. Die Neue Musik ist die Hilfe, die sich selbst nicht mehr zu helfen braucht, weil sie die totale Ungeborgenheit als ästhetischen Widerschein einer neuen Art von Geborgenheit erfahrbar zu machen versucht.

Daher die Ausbildung einer reinen Finalität in Klang- und Zeitgestaltung, der noch die kümmerlichste Wiederholung zu dienen hat, weil keine mehr als versöhnende Freude und kollektiver Jubel möglich ist. Eine erklingende Finalität ohne Ritualität ist der in die Mitte des säkularen Kollektivs tretende Tod selbst – und er ist von radikal kontingenter Gestalt. Denn was immer die modernen Komponisten Neuer Musik als Identität von Werk oder Performance material vorsetzen und dann final entwickeln oder versterben lassen – ein Ton, eine Stille, ein Geräusch – es ist und bleibt die Setzung eines völlig zu sich befreiten einzelnen Individuums, es ist das reflektierte Protokoll und Konzept einer Todeserfahrung der Musik in Gestalt einer negativen Gattungserfahrung.

Daß die Sprache sprachloser Einsamkeit und die klingenden Anagramme eines Individualtodes des modernen Menschen nur die Teilwahrheit über den ganzen modernen Menschen sind, bleibt natürlich unvergeßbar. Neue Musik und Neue Kunst beleuchten nur die Rückseite des zu sich befreiten Individuums und spätestens beim Begräbnis eines real verstorbenen kehren wir wieder in die versöhnlichen Kreise einer rituell sakralen und säkularen Musik zurück, und auch die Grabsteine unserer Verstorbenen verschonen wir von den Piktogrammen der abstrakten Malerei, wie wir auch den Trost unserer alten Religion nicht verschmähen.

Doch fühlen wir den Ernst der Stunde unausweichlich, weil angesichts des realen Todes eines Individuums heutzutage jede Musik hinfällig und irgendwie lächerlich geworden ist; und dies verweist auf einen grundlegenden und universalen Defekt des modernen Menschen und seiner Kommunikationsformen; denn gleichgültig, ob er sich im formalen Ritus der Sprach- oder im medialen Ritus der Bildkommunikation oder in den inhaltlichen Riten der traditionellen und unterhaltenden Musik oder in den Final-Klängen der Neuen Musik bewegt: er sieht sich gezwungen, daran zu glauben, das Menschheitsexperiment eines religionslosen Individuums erfolgreich bestehen zu können.