027 Die Verabschiedung der Konversation
Jänner 2001
Scheinbar unscheinbar haben uns im 20. Jahrhundert die vorher unersetzlichen Konversationslexika verlassen. Kein unerheblicher Abschied – vor allem für die Präsenz der Künste im Bewußtsein des modernen Menschen; denn die im aristokratischen und auch noch im bürgerlichen Salon auf hohem Niveau gepflogene und einst für das kulturelle Atmen des bürgerlichen Menschen existenznotwendige Konversation über neueste Kunstwerke und aktuelle Kunstereignisse ist seitdem aus unserer Mitte so gut wie gänzlich verschwunden. Und auch der Souverän der qualifizierten und enzyklopädisch gebildeten Konversation von einst ist verschwunden: jene luxuriös reiche Frau, zur universalen Dame hochgebildet, die in dem von ihr geführten Salon das gesellschaftliche Leben um das Zentrum Kunst organisierte und gestaltete.
Dies war ihr freilich nur möglich, weil der die bürgerliche Gesprächs- und Kunstkultur tragende und leitende Begriff von Geschmack ein gesellschaftlich noch verbindlicher war. Der Geschmack als oberstes und tiefstes Beurteilungs- und Erfahrungskriterium des aktuellen Kunstgeschehens war im 19. Jahrhundert ein letztes Mal als moralisch-ästhetischer Grundbegriff und Habitus in der Geschichte der Künste möglich, weil er sich zum letzten Mal aus einem gemeinsamen Normbestand an aktuellen Kunsterfahrungen rekrutierte und daher im Kampf der aktuellen Meinungen die Untiefen des unverbindlichen Geschwätzes über die Künste und die Häme des unnützen Intrigenklatsches von und über Künstler noch einmal überwinden konnte. Das anschauungsgesättigte und in seiner Selbstverständlichkeit noch unhinterfragte Geschmacksparadigma dieser im 20. Jahrhundert endgültig verschwundenen alteuropäischen Kunstkultur verknüpfte zum letzten Mal die Pflichten des Geselligen mit den Pflichten einer Wahrheitssuche im Reich der Kunst. Eine universale Geschmackskultur folglich, die ihren Protagonisten und Teilnehmern ermöglichte, auf einer sanften Abstraktionsebene über die Musik und die Künste nachzudenken und zu sprechen – eine Geschmackskultur, die dem leichteren und gesprächsfähigeren Geist der Frauen wie auf den Leib geschneidert war.
Und dieser schöne Souverän regierte in seinem Konversations-Reich daher auch noch wahrhaft erotisch, nämlich von weiblicher Anschauung des herrschenden Kunstgeistes erfüllt, denn es gab mehr als eine Madame de Stael, und die Romane von Balzac, Stendhal, Wieland, Goethe und vielen anderen haben unvergeßlich festgehalten, wie in der guten schönen Zeit Europas die gesellschaftlich bedeutsamen Wirkungen der aktuellen Kunst stets im erleuchteten Angesicht der gesprächsdominierenden Dame sowohl lebensnahe wie zugleich lebensbildend erörtert, bewertet und dadurch zu neuer Produktion angeregt wurden. In diesem vestalinischen Hain der Künste wußte sich jeder Gesprächspartner und Künstler auf das Niveau eines ästhetischen Diskurses über Kunst und Leben erhoben, worin sich daher auch das aktuelle Leben der Künste fortwährend lebendig aussprechen und kommentieren konnte; fern noch eine Zeit, in der die Künste als veranstaltete und wissenschaftlich gegängelte Kultur am Leben erhalten werden und der Kulturbericht in den Medien die Sprechblasensprache der Journalisten über die aktuellen Kunstereignisse hat einrichten müssen. – Gustave Flauberts „Lehrjahre des Gefühls“ geißeln bereits früh und mit Ekel und Spott die Versuche des neuen demokratischen Menschen eine große demokratische Kunst auch für das Leben in einer demokratischen Gesellschaft parlamentarisch einklagen zu wollen; und die beiden Romanepen von Marcel Proust und Robert Musil haben schließlich den endgültigen Abgang der kultur- und kunsttragenden Konversation in den Orkus der Geschichte unserem staunenden Gedächtnis anvertraut. Eine Diotima, die nur mehr die senilen Hofräte des sterbenden Habsburgerreiches zu dirigieren hatte, war auch nur mehr als Travestie ihrer einstigen Größe im nunmehr verwüsteten Salon möglich.
Heute ist bereits das Wort Konversation mehr tot als noch halb lebendig, und unerreichbar eine Epoche, in der ein geschmackskonventioniertes Gespräch über die aktuellen Künste als ein selbstverständlicher Motivator des gesellschaftlichen Lebens von Kunst möglich war. Die universale Konversation war daher noch nicht die Fachsimpelei des Musikers von heute über sein Hand- und Mundwerk, nicht die trockene oder populärwissenschaftliche Ausbreitung des musikgelehrten Wissens über Musik, auch nicht die strenge philosophische Reflexion über die Gründe und Abgründe von Kunst und Ästhetik, und auch nicht ein wissenschaftsgläubiges Wiederkäuen der historistischen Glaubenssätze einer sogenannten „historischen Aufführungspraxis“ und am allerwenigsten eine mediale Ferndarstellung von Gesprächen über Musik durch Moderatoren, die via Äther pseudoerotisch zu uns sprechen, um uns ihren „ganz persönlichen“ Musikgeschmack als einen zugleich verbindlichen vorzuheucheln. Diesem mittlerweile unersetzlich gewordenen Plauderton über Kunst und Künstler entspricht bekanntlich kongenial die Geniephraseologie unserer Starmusiker, wenn sie über die von ihnen neoaktuell aufgeführte Musik von einem heute aktuellen Interviewer vernommen werden, der die Rolle des edlen Dilettanten von gestern zu mimen versucht. Stets wieder hören wir dann das rhetorische Gloria einer kolossalen Bewunderung des Stars für seinen Komponisten-Vorgänger, der immerzu Meisterwerke hinterlassen habe, egal ob er nun Lanner, Schönberg, Verdi, Zawinul oder anders genannt wird, oder ob er als neoaktueller oder sogar noch als heute fleischlich lebendiger „Jahresregent“ des sogenannten Musiklebens von heute präsentiert wird. – In dieses Schwarze Loch eines Standards von austauschbaren Sprechblasen, bei denen nur wichtig ist, wer sie sagt, gleichgültig aber, worüber sie gesagt werden, weil sie ein Nichts an Aussagewert über die bequatschte Musik enthalten, sind mittlerweile alle traditionellen Geschmackskriterien und deren einst verbindlich konventionierte Konversation abgestürzt und verglüht.
Was wir noch heute das Urteil der Geschichte über den Wert und Unwert aktueller und neoaktueller Musik nennen, ist daher dem 19. Jahrhundert zum letztenmal möglich gewesen. Denn nur bis ins 19. Jahrhundert war eine freie Konversation der Eliten als stets aktuelle Erfahrungskritik des aktuellen ästhetischen Geschmacks möglich – sowohl des Geschmacks als Subjekt wie des Geschmacks als Objekt. In dieser die bürgerliche Gesellschaft an die Entwicklung der Künste verbindlich bindenden Kritik des Geschmacks artikulierte sich einerseits die freie Selbstäußerung eines herrschaftlichen Subjekts, das noch einmal über einen Normenkanon und Wünschehorizont für die Bewertung und Erfahrung aktueller Kunst verfügte; andererseits konnte das regierende Subjekt des Geschmacks diesen objektiven Normenkanon und Erwartungshorizont zugleich einer abstraktionsmilden und vor- wie überwissenschaftlich gültigen Reflexion unterwerfen, was umso unumgehbarer und dringlicher wurde, als sich der Normenkanon der Künste immer rapider umzugestalten und schließlich aufzulösen begann.
Heute leben wir mitten im Trümmerfeld der originären Geschmacks- und Konversationskultur, die uns die Geschichte hinterlassen hat, und die kümmerlichen Brocken einer universal gewordenen Achtel- bis Viertelbildung durchfliegen daher tagtäglich die Hohlräume unseres Denkens und Sprechens über Kunst und Musik. Wir verhalten uns wie ein Planet, der sein angestammtes Sonnensystem verlassen und im Geschoßhagel der Oortschen Wolke am Rande einer altgewordenen Welt aushalten muß, um nach vielleicht glücklicher Durchquerung des Trümmerfeldes dereinst im System einer anderen Sonne wieder Fuß und Bahn zu fassen.
Im Zeitalter der Aufklärung wollte David Hume den Essay als hermeneutischen Boten zwischen der gelehrten Welt und der Welt der Konversation einführen. Auch davon kann heute eine Rede von Rang und Qualität nicht mehr sein, weil sich die wissenschaftlichen Diskurse über Kunst und Musik einer hemmungslosen Spezialisierung überantwortet haben, und somit nicht einmal mehr die Gelehrtenwelt unter ihren eigenen Sparten Konversation und Austausch pflegt. Dieses Verstummen durch ein Zuvielwissen ist heute auch die unmittelbare Ursache für die Banalisierung der modernen Konversation über Kunst und Musik, die daher auch nicht mehr diesen Namen verdient. Zwischen dem Universum des Geschmacks und dem Universum von Wissen und Reflexion waltet ein Interregnum.
Als im Jahre 1998 die größte deutschsprachige Enzyklopädie der Musik mit einer vollständigen Neuausgabe ihrer Sachartikel nach einer nur vierjährigen periodischen Lieferung erschienen war, konnte man kurzfristig die Hoffnung hegen, Musiker und Musikliebhaber könnten sich zuhauf und mit Bienenfleiß die aktuelle Wissensspeise einverleiben, die eine moderne Heerschar von Musikforschern zusammengetragen hatte. Nichts davon geschah, und nichts davon wird jemals geschehen. Der Abgrund zwischen Theorie und Praxis der Musik hat sich zur Unüberbrückbarkeit geweitet, und die universale Arbeitsteiligkeit der modernen Welt fesselt deren Geist und Kultur an eine zu unaufhaltsamer Selbstteilung fortschreitende Spezialisierung. – Für wen und für welches Gespräch sollten Musiker oder gar Musikliebhaber die neue Götterspeise eines aktuellen enzyklopädischen Wissens über Musik sich fortwährend einverleiben? Vom aristokratischen und bürgerlichen Salon ist keine Bohne übriggeblieben, und ein neuer Salon ist jenseits des Interregnums nicht in Sicht – die Chatrooms der Spezialgelehrten im Internet geistern noch wie verlorene Briefe in den galaktischen Weiten eines Niemandslandes der anbrechenden technologischen Kulturepoche. Niemand weiß, wie sich künftig eine Reflexionskultur im Reich der Künste und Musiken auf verbindlichen kategorialen Grundlagen, die das Universum der Erfahrung von Musik und Musikgeschichte begriffen haben müßten, ausbilden wird. – Auch die Philosophie, diese unüberbietbare Meisterin der universalen Reflexion, weiß dies nicht; und ihr asketischer Versuch, sich nicht an der landläufigen Wolkenbildung von Sprechblasen zu beteiligen, hält es mit der Weisheit der Kinder, die bekanntlich unter der Spezies Mensch als einzige nie über das Wetter reden müssen, um miteinander reden zu können.