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028 Musik als Religion

Jänner 2001

In einer säkularen Epoche, die sich schon seit geraumer Zeit eine moderne nennt, sind Künstler und Musiker mehr als nur der Versuchung ausgesetzt, ihre Kunst und nicht zuletzt die Musik in den Rang eines Religionsersatzes und einer quasireligiösen Übung und Andacht zu erheben. Dennoch ist es zugleich der säkulare Geist in den Künstlern selbst, der ihrem Drang nach kunstreligiöser Erhebung auch widerspricht und zuwiderhandelt; und der Gebrochenheit dieser mehr oder weniger sanften Schizophrenie kann sich im Prinzip aktueller Säkularität kein moderner Künstler, der diesen Namen verdient, entziehen. Denn auch ein orthodox religiöser Künstler, der noch heute im Dunstkreis von Kurie und Klerus arbeitete, komponierte und musizierte, ist durch die säkulare Modernität der Mittel, die er verwendet, oder durch die modernen Verfahrens- und Interpretationsweisen, denen er die traditionellen Mittel und Formen unterwirft, in den schmerzlich ambivalenten Raum eines epochalen Widerspruchs hineingehalten.

Unerbittlich richtet sich heute das Leben und Schaffen der Künstler und Musiker nach säkularen Anerkennungsmustern aus. Diese aber lassen sich wie schreiende Symptome jener mehr oder weniger sanften Schizophrenie entziffern. Und mehr als ein symbolischer Brennpunkt ist diesbezüglich das Lechzen des modernen Künstlers nach dem verordneten Applaus eines Publikums, dem dieser Ritus, der keiner ist, von Kindheitstagen an eingewöhnt wurde. – Wäre nämlich die quasireligiöse Erhebung der Kunst und Musik religiös ersehnt, ernsthaft gewollt und realdemokratisch durchführbar, dann würden wir uns in einem Konzert nach erfolgter Anhörung eines Musikwerkes nicht wie Kinder auf einen quasinatürlichen Befehl dazu hergeben und vereinigen, die mehr oder weniger sanft gepolsterten Innenflächen unserer Hände gegeneinander zu schlagen. Und doch kann niemand leugnen, daß exakt dieser Ritus, der keiner ist, weil er nur das wortlose Geräusche-Gestammel verstummter Menschen an die Seelenküste des erfolgheischenden Künstlers branden läßt, einer Religion entspricht, die niemals eine werden wird, und die dennoch in der Furie des säkularen Verschwindens nicht davon ablassen kann und soll, sich als eine künftige Religion einer künftigen Menschheit erhoffen zu müssen.

Wäre Musik im Rang von Kunst als Religion möglich, wie noch von Mendelssohn bei der Institutionalisierung des bürgerlichen Konzertsaales als eines möglichen musikreligiösen Andachtstempels am Beginn des 19. Jahrhunderts erwogen, dann würde kein Musiker den universal abwesenden Applaus vermissen, weil keiner jemals auch nur auf die Spur des ominösen Gedankens gekommen wäre, nach einem Musikstück höchsten geistigen Ranges zu klatschen, könnte eine sinnvolle Handlung sinnerfüllter Menschen sein.

Wäre Musik im Rang von Kunst als Religion möglich, wären wir nach der kostbaren Hand- und Ohrenreichung eines mit unverzichtbaren Botschaften erfüllten und daher nicht nur ästhetisch kanonisierten Musikwerkes nicht dazu verführbar, die obligate Stammesaktion eines kollektiven Applaudierens vorzuführen.

Denn in ganz anderer Weise wären wir von einer Musik benommen, deren Substanz eine absolute Botschaft über unser sterbliches Dasein als Menschen verkündete. Vielleicht würden wir uns erheben und verneigen oder irgend eine andere Art einer musiksakralen Huldigung darbringen; gewiß aber würden wir uns in einer Art gewußter kultischer Verbundenheit vor dem Geist der Musik verneigen und nicht vor den Künstlern am Podium, weil auch diese sich wie wir verneigen würden vor der allerheiligsten Substanz eines Wesens, das wie aus einer anderen Welt zu uns gesprochen hätte. Und am allerwenigsten würde sich der Künstler, der Musiker, der Komponist dazu veranlaßt sehen, Dankesverneigungen vor einem Publikum zu exerzieren, dessen händisch erzeugter Lautschwall eine Dankgeste verlautet, die zugleich ihr Gegenteil sein könnte oder doch ebenso zufällig und äußerlich veranlaßt, so neutral und mechanisch wie das Branden einer Brandung gegen die abweisenden Klippen einer Küste.

Nach der musiksakralen Huldigung aber würde man nicht sogleich wieder ein weiteres Musikstück auf die Gemeinschaft der wirklich Hörenden loslassen, womöglich eines aus einer diametral entgegengesetzten sogenannten Stilepoche, als wäre der künftige Konzertsaal noch immer als ein Ort historischer Bildungsbedürfnisse und deren pseudoexemplarischen Befriedigung möglich. Denn es gäbe eine Pause nach jeder Musikverkündigung, in der nichts geschähe als eben dies, weil es für alle – Musiker, Publikum, Komponist – ebenso selbstverständlich wie unerläßlich wäre, einer gedächtnisschaffenden Nachwirkung des soeben Gehörten und Empfundenen lauschend und forschend nachzuhören und nachzuempfinden.

Nicht mehr hätten wir ein Publikum um uns, das der Banalitätenorgie des Partytratsches mitten im Konzert und besonders angesichts der hündisch verehrten Starmusiker nicht widerstehen kann. Denn je nach Substanz und Botschaft der gehörten und auch verstandenen Musik hielte die Pause kollektiver Gedächtnisbildung, die daher mehr als ein Rahmen für eine entspannende Stille wäre, wenigstens einige geistbildende Minuten vor. Und auch am Ende eines Konzertes gäbe es keinen Applaus, denn niemand hätte auch nur die Spur eines Interesses an einer kollektiven Zwangshandlung ungescheuter Infantilität. – Komponist, Musiker, Publikum und das sekundäre Gefolge des veranstaltenden und kommentierenden Begleitpersonals der Musik kämen ohne Befehl und Marketingmanipulation zu einer wahrheitskommunikativen Reflexionsgemeinschaft Letzter Worte zusammen, um einander kennenlernend zu sagen, was zu sagen ist. Auf diese generale Beichte einer realdemokratischen Konversation über eine realdemokratisch unersetzliche Kunst würden sich alle nicht weniger freuen als auf die höchstselbst verehrte Musik vor ihrem Erklingen. Jetzt erst bekämen wir Gewißheit, ob und wie die gehörte Musik auch im Hafen unserer Seelen angekommen ist.

Jetzt erst hörten wir aus dem Munde von Frau Maier selbst und coram publico, daß ihr die heute vernommene Musik etwas offenbart habe, wovon und wofür sie in begründeten Worten bekennender Rede zu reden und zu danken wüßte; und Herr Huber würde die Verlegenheit unseres heutigen Gratulationsgestammels vor den zu bedankenden Künstlern in begründete und zugleich kritische Worte zu fassen und dadurch zu überwinden wissen; Frau Lehner würde zwar die salbungsvolle Phrase, daß das Leben ohne Musik ein Irrtum wäre, in den Mund nehmen, aber sie würde ihr nicht mehr zwischen den Zähnen zerfallen, weil sie einen nicht nur erfahrenen, sondern in der Formulierung erst erkannten Grund angeben könnte, der die gängige Phrase wieder mit Sinn erfüllen würde; und Herr Humer würde uns in ergreifenden Worten mitteilen, daß das heutige Konzert der endgültige Anlaß sei, die Richtung seines künftigen Lebens radikal zu ändern; und Frau Pichler, von schwerer Krankheit gezeichnet, würde uns in unvergeßlichen Worten eröffnen, wie sie nun in der Kraft und Herrlichkeit der vernommenen Musik ein Sterben in Kraft und Herrlichkeit sich vorstellen könne.

Und kein Zweifel, alle Mitglieder dieser musiksakralen und doch zugleich demokratiemündigen Gemeinschaft könnten in dieser sondierenden und begründenden Macht über Musik nur deshalb redend und erkennend kommunizieren, weil die moderne Epoche, in der niemand über seine Konzerterlebnisse schürfend und erschöpfend Tagebuch führte, schon eine ganze Menschheitsepoche der Vergangenheit angehörte.