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030 Zum Liebestod der Oper

Jänner 2001

Am Beginn der europäischen Neuzeit rief der feudale Hofstaat eine Theatergattung ins Leben, die zugleich als neue Musikgattung Furore und Tradition machen sollte. Auf öffentlicher Bühne und unter dem Vorwand eines antiken Placebo alsbald Oper genannt, durfte sich nun erstmals die Geschlechterliebe als absolutes Thema der Musik und einer noch vorsäkularen Gesellschaft präsentieren, die sich an diesem Thema die säkularen Ideale eines vollendet gelingenden Lebens im Diesseits einzubilden begann. Diese Liebes-Revolution in vormoderner Gesellschaft und Kunst an der Schwelle zur Neuzeit ging weit über das hinaus, was dem Mittelalter in Minnesang und anderen musikalischen Formen aufgetragen war, zum säkularewigen Thema Liebe gesellschaftsfähig zu machen. Schon vor, besonders aber nach dem epochalen Tod der Kastraten wurde die Oper daher zum öffentlichen Ort, an dem die jeweils aktuelle gesellschaftliche Emanzipation des Geschlechterverhältnisses präsentiert und idealisch eingeübt wurde. Der ästhetische Schein der Musik konvenierte noch mit dem heiligenden Schein der Religion. Die Gattung Oper stieg zu einem unersetzlichen Selbstverständigungsmittel des vormodernen Menschen über sein Sein und Nichtsein im Kampfesareal der Geschlechterliebe auf. Die wohl grandioseste Vokal-Gattung der abendländischen Kunstmusik war daher noch bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts die führende Gattung der Musik und ihrer Autonomisierung überhaupt, und unsinnig schien die Erwartung der Eliten noch am Ende des Jahrhunderts, es könnte jemals eine andere absolute Musik geschichtsmächtig werden, etwa gar eine rein instrumentale, die der Oper den Rang der führenden musikalischen Gattungsmacht streitig machen könnte.

Diese grandiose Tradition einer Musikgattung, die das Geschlechterverhältnis der vormodernen Gesellschaft zugleich emanzipieren und verklären konnte, kam im 19. Jahrhundert an ihr absolutes Ende. Und dies nicht aus Erschöpfung an Mitteln oder Stoffen, nicht aus Langeweile oder Überdruß, nicht durch geschichtlichen Zufall oder äußeres Dekret der bürgerlichen Gesellschaft; sondern aus innerer Vollendung der Gattung durch vollendetste Werke bei zugleich erlöschendem inneren Gesellschaftsauftrag. Kaum mehr als hundert Werke zählt das kanonisierte Repertoire der geglücktesten Opern dieser dreihundertjährigen Tradition bis heute und übermorgen; und dieser erstaunlichen Zahl sind die wehmütigen Opern des Epilogs der Gattung im 20. Jahrhundert, die eines Richard Strauß, eines Puccini und anderer anverwandter Komponisten bereits beigefügt.

Ist aber die Vollendung einer Gattung im kairos ihrer vollendetsten Werke erreicht – nicht in mustergültigen Werken, denn dies käme einer illusionären Rückkehr in die Vollendungsweisen der antiken Kunstreligion mit epochal anschließenden Kunstindustrien gleich, worauf allerdings die Unterhaltungsmusik der Moderne seit dem 19. Jahrhundert einen ihr verborgenen ideologischen Nachfolgeanspruch erhebt -, sondern in endgültigen Werken – in den Opern Mozarts, Beethovens, Verdis und anderer anverwandter Komponisten des 19. Jahrhunderts, dann wird die Musik als noch wahrhaft freie und mächtige Kunst so intelligent und weise gewesen sein, dieses erwirkte Ende ihrer verwirkten großen Gattungen und Traditionen auch präzise erkannt und unverkennbar erkomponiert zu haben.

In den Gattungen der absoluten Instrumentalmusik geschah dies bekanntlich durch die reflektierte Operation des späten Beethoven, in der absoluten Vokalmusik geschah es durch die Elaborierung der gebrochenen Musiksprache Richard Wagners. Daher ist übrigens die Großgemeinde der Wagnerfeinde bis heute weltbevölkerungsproportional konstant; denn der Wurm, den die Wagnerfeinde in Wagners Musik rumoren hören, läßt sich auch durch den Einspruch von hundert Bayreuths nicht wegdisputieren. Aber dieser Wurm kündet von nichts anderem als von dem peinlich peinigenden Ende in der Vollendung einer Tradition von musikalischer und menschheitsgeschichtlicher Gattung und damit vom Aufbruch in eine Zukunft Neuer Musik. Und wie die Musik des späten Beethoven das Anagramm einer Neuen Musik zeichnete, so wurde Richard Wagners Tristan und Isolde zur ersten Oper aller folgenden Nicht-Opern des 20. und 21. Jahrhunderts.

Anders als Verdi in seiner La Traviata – das gattungsgeschichtlich und opernmusikalisch ungebrochene Kontra-Pendant zu Wagners Tristan und Isolde – profilierte sich der erste deutsche Komponist der letzten Oper als Meister des sogenannten „kleinsten Überganges“ an einem Gehalt der Legende, deren tödliche Gebrochenheit erst durch eine bewußt reflektierte Musik als auch musikalische Gebrochenheit gesellschaftlich in der anbrechenden Moderne aktualisierbar und ästhetisch darstellbar wurde; durch eine Musik folglich, die ihrem Material einen chromatischen Negativismus und ihrer Form eine rhapsodische Entgrenzung ersprengen konnte, die unter nicht geringen ekstatischen Qualen das Licht der musikalischen Welt erblickten.

Und weil diese erste Oper aller folgenden Nicht-Opern die Negation der Tradition durch ihr singuläres Machtwort aussprach, war in ihr wie in keiner anderen Oper durch die Verflüssigung eines einzigen Akkordes die durchdringende Einheit des tödlichen Negativismus des Inhaltes mit dem ebenso tödlichen Negativismus von Material und Form ausdrückbar. Der chromatisch schleichenden Melodiebewegung entspricht eine ebenso schleichende Gefühlsbewegung, deren ekstatischen Aufschwüngen die Rückkehr in die zerbrochene Melancholie einer unerfüllbar scheiternden Grundsehnsucht einbeschrieben bleibt. Die entgrenzten Bare der sogenannten unendlichen Melodie Wagners verbergen das Rhapsodische ihrer Konstruktion, indem sie obsessiv die leitmotivische Keimzelle eines melodisch verfließenden Akkordes stets wieder umkreisen.

Zwischen Wagnerfreunden und Wagnerfeinden entstand daher sogleich im 19. Jahrhundert ein unversöhnbarer Streit sowohl auf der Ebene der Form wie auf der Ebene des Inhaltes. Weil der Wagnerschen Form eine Ineinssetzung und Durchdringung von Mikro- und Makroform gelungen sei, könne sie berechtigten Anspruch auf eine höhere musikalische Organizität erheben als die alten Opernhüte eines Giuseppe Verdi, der doch nur einer chauvinistischen Italianità huldige. Wagners musikalische Schleichersprache, die Nietzsches literarischen Zorn erfreulich befruchtete, habe somit einen verbindlichen Opernstil für die Zukunft inauguriert; und weil diese neue Opernsprache zugleich mit den gebrochenen Inhalten bis in die letzte Klangfaser konkordiere, stünde einer erweiterten oder gar vernichteten Tonalität als Basis einer künftigen universalen Kunstmusik, die den modernen Menschen abermals im Traumland Oper über sein Geschlechterverhältnis aufklären, befreien und versöhnen könne, nichts im Wege – behauptete sinngemäß der Wagner-Enthusiast Arnold Schönberg. Doch ist es mehr als wahrscheinlich, daß Schönbergs Erwartung dem Komponisten des Rosenkavalier nicht einmal ein müdes Lächeln entlockte, obwohl dieser kaum durch die tiefen Einblicke Hanslicks in das ungehörige Wesen der Wagnerschen Musik blockiert gewesen sein dürfte.

Selbstverständlich ist es eine zentrale Aufgabe der sogenannten modernen Oper – die mittlerweile unter dem gattungslosen Gattungsnamen Musiktheater nach einer Zuflucht in der modernen Gesellschaft sucht, weil sie nur mehr als musikexternes Kompositionsunternehmen möglich ist – , das Scheitern der Geschlechterliebe und Ehe als ideale Repräsentanten einer säkularen Diesseitsreligion oder gar eines Paradieses auf Erden darzustellen. Um dies zu goutieren, bedürfen wir heute auch nicht mehr jener autoritären Legenden aus dem psychoanalytischen Nachhilfeunterricht der verflossenen bürgerlichen Ästhetik, die unseren Großmüttern und Großvätern von einer metaphysisch-schicksalhaften Verschlingung eines mythischen Liebes- mit einem ebenso mythischen Todestrieb erzählte, der in Wagners Tristan und Isolde prophetisch-dämonische Gestalt angenommen habe; im Zeitalter von „Cats“ und „Das Phantom der Oper“ wissen wir um die Erklärungsattrappen, die das bürgerliche Bewußtsein wie tabuisierende Paravents umstellten, peinlich genau Bescheid. Und unser Irrtum, Alban Bergs Leide-Oper Wozzeck der großen Operntradition zuzurechnen, weil es sich doch um eine Literaturoper handle, in deren Gefilden sich auch ein Giuseppe Verdi und ein Richard Wagner bewegt hätten, rächt sich bitter an unseren beliebig gewordenen Urteilen über die ästhetische und menschheitliche Qualität der Gattung Oper im geschichtlichen Werdegang ihrer Werke und deren Präsenz in der gegenwärtigen Erfahrung unseres modernen Bewußtseins.

Daß aber der Lehár-Liebhaber Adolf Hitler die Berauschung durch Wagners Tristan und Isolde ebenso lieben konnte wie die scheinseligen Vorboten einer ewigen Operette zur See vor Mörbisch, dies sollte uns ebenso zu denken geben wie Nietzsches Fluchtversuch zu Bizets Carmen angesichts des ihm unbegreiflichen Phänomens Wagner in Tristan und Isolde.