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031 Menschliches Wesen, was ist’s gewesen?

Februar 2001

Nicht wenige Musikhistoriker und Musiker beklagen nostalgisch noch in unseren Tagen, also am Beginn des bereits über ein ganzes Jahr altgewordenen 21. Jahrhunderts, daß die
einst normative Tradition der Musikalischen Rhetorik, deren Verbindlichkeit die Musik der alteuropäischen Tradition letztlich verdankte, als universale Klangrede komponier- und verstehbar gewesen zu sein, spätestens im 20. Jahrhundert sträflicherweise abgebrochen wurde. Und die Schuldigen dieses Frevels, denen man eine gerechte Strafe nicht nur anzudrohen wünscht, werden ungeniert mit Namen genannt und an den Pranger der historistischen Wissenschaft gerufen.

Voran schreitet, das Haupt mit Schmach beladen, der sich entgrenzende Subjektivismus des romantischen und spätromantischen Komponisten, um von den musiksprachlichen Individualitätsexzessen der Komponisten des 20. Jahrhunderts, die gar eine Neue Musik ins Leben riefen, vornehm zu schweigen; es folgt das Heer jener Musiker und Interpreten, die seit dem 19. Jahrhundert dem Fluch des romantischen Dauerlegatos anheimfielen und etwa der musikalischen Mißgeburt eines Wiener Mozart-Stils bis spät ins 20. Jahrhundert hinein den einzig wahrhaft sprechenden Mozart-Stil des 18. Jahrhunderts opferten, der sogar noch um 1800 lebendig gewesen sei, nur leider noch nicht im Gefrierfach von CD-Einspielungen den hitzigen Herbst der Romantik überdauern konnte; und auch die Ästhetik des 19. Jahrhunderts entgeht der Anklage nicht, Meister Hanslick muß gleichfalls an den Pranger, um zu berichten, wie er nur so vergeßlich gewesen sein konnte, die in seinen Tagen beinahe noch lebendige Tradition der musikalischen Rhetorik zu verdrängen, als er kühn behauptete, wir könnten den Inhalt der großen Musik nicht verständlich in Worte übersetzen, weil Musik eine Sprache sui generis sei, folglich einer Rhetorik zugehöre, die sich unseren Begriffen und unserer Sprache entziehe. Um einen Inhalt der Musik jenseits und in ihrer Form brauche man sich daher gar nicht weiter zu bemühen; das Schöne und Wahre der Musik, das Geheimnis ihres Inhaltes, liege einzig und allein in der Geglücktheit ihrer Gestalt und Form. Dieses Dekret der Wiener Musikästhetik des 19. Jahrhunderts ist noch heute ein arger Schlag ins Gesicht aller historischen Musikforscher, die sich – nicht zufällig gleichfalls seit dem 19. Jahrhundert – so überaus redlich bemühen, die Quellen der Musikgeschichte dokumentarisch genau zu beriechen. Und es ist der Geruch ihrer Erkundungen, dem immerfort jener Duft einer musikgeschichtlichen Nostalgie entsteigt, die den historisch affizierten Forscher und Musiker verführt, den universalen Abbruch der sogenannten Musikalischen Rhetorik seit dem 19. Jahrhundert noch heute als einen Akt äußerer Willkür und Gewalttat zu beklagen und verschiedentlich sogar eine Wiederaufnahme dieser ebenso ehrwürdigen wie für immer erloschenen Tradition für die aktuelle Kunstmusik von heute und morgen einzuklagen.

Schon wieder wollen wir also aus der Geschichte rein gar nichts lernen, weil wir schon wieder nicht wissen, was wir aus der Geschichte für unser Handeln im Heute und Morgen lernen sollen; womit nun auch das heutige Leben der Musik an den historistischen Pranger rückt, weil es aus undurchsichtigen Gründen nicht bereit ist, auf das Kommando der historischen Musikforschung zu hören.

Doch ist Trost in der Verzweiflung der historischen Wissenschaft nahe: denn wiederum nicht zufällig erwächst seit dem 19. Jahrhundert ein erstmals in der Musikgeschichte ehrwürdiges Musikertum, das sich bevorzugt der Musik der Vergangenheit zuwendet. Ein Musikerstand, der anscheinend insgeheim immer schon musizieren wollte wie seine noch unehrwürdigen Musikervorfahren, mit der bekannten urigen Begründung, nur im aufführungspraktischen modo historico sei den Absichten der dahingegangenen Autoritäten Geniekomponist und Epochengeist Genüge zu tun, und auch der Musikliebhaber von heute und morgen auf Dauer bei der Stange zu halten.

Es kommt daher einer prästabilierten Harmonie im Babylon des heutigen Musiklebens gleich, wenn die Quellenbotschaften des Musikforschers über die Unersetzlichkeit und Revitalisierbarkeit einer universalen Musikalischen Rhetorik vom heutigen Musiker sogenannter Alter Musik begierig aufgenommen und wie eine erlauchte wissenschaftliche Legitimation seines Tuns und Lassens empfunden werden.

Endlich ist da jemand, der uns über die wahre Semantik der traditionellen Musik Bescheid geben kann, der uns die Rhetorik der alten Werke entschlüsselt und deren Inhalte beichtet.

Nicht mehr müssen wir uns mit den abgestandenen Formbegriffen der Autonomieästhetik herumschlagen, die uns über verschlungene Konflikte und Schicksale von so expertisen Dingen wie Exposition, Haupt- und Seitenthema, Durchführung, Reprise und Coda erzählte, nicht mehr müssen wir uns um haargenaue Analysen der Harmonik und Melodik sogenannter Meisterwerke bemühen, nicht mehr die Deutungsexzesse der Schönberg-Schule über die Motivik-Thematik bei Beethoven und Bach ertragen, die sich auf eine totale Durchführungsvariation aller Form- und Materialmomente der Kunstmusik am Beginn des 20. Jahrhunderts zubewege, und vorbei unser Respekt vor der einst so gefürchteten Autorität Adorno, der uns von einem Problem der Reprise, das diese angeblich mit sich selbst gehabt habe, erzählte, um uns in ein Geheimnis der Alten Musik des 19. Jahrhunderts einzuführen.

Denn jetzt haben wir endlich wissenschaftlichen Bescheid bekommen: nicht nur liegt Bachs drittem Brandenburgischen Konzert das rhetorische Modell einer Gerichtsrede als eigentlicher Inhalt zugrunde, nicht nur hat ein Spickzettel aus Quintilians Rhetorik dem Musikalischen Opfer desselben Komponisten Pate gestanden; auch den Sonaten Beethovens liegt stets und überall ein verborgenes Programm zugrunde, das uns aber der raffinierte Geheimiskrämer aus Bonn beklagenswerterweise vorenthalten hat. Doch hat der Komponist vermeintlich reiner Musikmusik nicht mit der Spürnase des historischen Forschers gerechnet, dem nichts entgeht, was zur Auflärung des corpus delicti einer Klaviersonate von Anno dazumal beitragen kann. Ein sonst wenig bekannter Mann namens Schindler, Augen- und Ohrenzeuge der originalen Stunde des verflossenen Geschehens, hat nämlich authentisch ausgeplaudert, worum es eigentlich ging, als das große Zeugen der sogenannten zutiefst menschlichen Kunstwerke von Anno dazumal vorgenommen wurde.

Halb- und ganzseidene Liebesgeschichten von Grafen und Madamen, zwiestige Stories a là Shakespeare und anderes erhebendes Zeug wurde demnach gemeinerweise in die Fresken der Beethovenschen Klänge eingelassen, und daher müsse noch heutzutage die universale Musikalische Rhetorik dieser eigentlichen Inhalte der Beethovenschen Musik mit entsprechender Deklamatorik und Kleingliedrigkeit ausgeführt und mit ebenso kleingliedrig erbebenden Herzen und Ohren vernommen werden; und ein Pianist dürfe eine Beethovensche Sonate erst dann berühren, wenn er zuvor den Noten der sogenannten Sonaten einen passenden Text unterlegt und diesen sich und seinen Fingern eingesungen habe, um der erforderlichen Einsicht in den Sinn der Stellen im Geiste der universalen Musikrhetorik sich würdig zu erweisen.

Welches verhunzte philosophische Pferd geht hier mit dem Musikhistoriker durch, wenn er bis Quintilian zurück alle Jahrhunderte der verflossenen zweieinhalb Jahrtausende danach abklopft, ob sie ein Echo von Schriftdokumenten über das Allwalten der Rhetorik und Grammatik indogermanischen Sprechens als Basis alles Sprechens von Musik wiedergeben? Und wenn er uns als letzten Homeriden einer vermeintlich universalen Musikrhetorik Meister Mattheson präsentiert, dessen einst aktuellem Glauben zufolge die Musik genauso und nicht anders eine Rede sei wie die der Sprache, nur eben eine Rede über andere Inhalte?

Ohne Zweifel hält der Musikhistoriker Ausschau nach einem universalen Gesetz der Musik in ihrer geschichtlichen Entwicklung, er hat ein Reich von ehernen Prinzipien im Auge, unter dessen gehorsamer Verwirklichung die Musik der Vergangenheit heute und morgen dem mißverstehenden oder gar beliebigen Interpretieren und Verstehen zu entreißen wäre.

Aber diese zu belobigende Absicht verkehrt sich notwendigerweise in das Gegenteil einer Vernebelung des Unterschiedes von Sinn und Unsinn in der Musik, wenn er uns ein Prinzip anzuhimmeln lehrt, das uns rein gar nichts über die absolute Unterschiedenheit der Musik mitteilt, die aus ihren Epochen und Kulturen mit überaus verschiedenen Redeweisen zu uns redet, und das uns nicht darüber aufklärt, weshalb die autonomisierte Kunstmusik seit dem 19. Jahrhundert von aller sprachanamorphen Metaphorologie von Klangfiguren, Tonartcharakteren und anderen musikgeformten Materialien zugunsten einer musikautonomen Rhetorik Abschied nehmen mußte.

Es nützt weder dem aktuellen Vollzug unseres übenden und ausübenden Musizierens noch unserem aktuellen Hören und Nachempfinden der traditionellen Musik im Heute und Morgen, wenn wir die Liebes- und anderen Dramen, die Beethoven als Steigbügel benutzte, um seine Prachtrösser von Sonaten zu besteigen, in unsere tauben Bildungsohren schlagen, weil jetzt und heute einzig unser aktuelles Liebesverhältnis zu Beethovens fliegenden Prachtpferden der wahre Inhalt unseres Interpretierens und Empfindens von großer Musik der Vergangenheit sein kann. Die Krücken einer vermeintlich ewigen Musikrhetorik helfen uns nicht auf den Rücken der Alten Musik hinauf, noch in deren Seele hinein. Deswegen ist der Musiker und Liebhaber von heute, der aus Freude und Liebe zur universalen Schönheit der traditionellen Musik deren Werke wieder und wieder spielt und hört, noch nicht als Verächter des äußerlichen musikgeschichtlichen Bildungsgutes an den Pranger zu stellen. Denn selbstverständlich steigern auch die quellengesicherten Kenntnisse über die Geliebten und Freunde Beethovens unsere Gewinnchancen beim aktuellen Millionenquiz der Fernseh- und Radiosender von heute überaus beträchtlich.

Heute begnügen wir uns daher scheinbar mit den Resonanzen der einstigen Musik, indem wir deren Rhetorik zu des Musikhistorikers gelehrtem Schmerz schmählich hinter uns lassen. Aber diese Genügsamkeit ist das Gegenteil ihrer selbst, denn sie begnügt sich nicht, sondern nimmt erstmals wissend und nachempfindend teil an der Weisheit zahlloser Werke, die allein das authentische Wesen einer gewesenen Musik als nunmehr ewiger verbürgen kann, während der die vermeintlich authentischen Quellen ewig beriechende Musikhistoriker und Musiker nur das Nachsehen einer untergegangenen Tradition pflegt.

Seitdem die Musikgeschichte in sich zurückzukehren begonnen hat, lohnt deren Wiederaufführung aus erkennender Distanz unser Begnügen und Vergnügen mit den göttlichen Resonanzen eines einst bloß menschlich erscheinenden Wesens, weil auch im Reich der Musik die Stunde der Wahrheit ihrer universalen Schönheit erst zu schlagen beginnen kann, wenn die Stunde ihrer empirischen Erzeugung und alles Zeuges ihrer empirischen Entstehungsbedingungen zu verschwinden beginnt.