032 Zwischen Scylla und Charybdis
Februar 2001
Während uns Goethe mahnt, stets wieder zu neuen Taten und Erlebnissen aufzubrechen, übt sich noch in den heutigen Tagen unserer technologischen Massendemokratien ein Heer von Kunstmusikern an einem historischen Repertoire von Werken der Musik ab, das an Unbekanntheit nichts mehr zu wünschen übrig läßt. Und wie groß muß ihre Liebe zur Musik sein, wenn nicht einmal die Hölle des Übens von millionenfach eingeübter Musik zur Verzweiflung am versprochenen Paradies des Musizierens von Musik führt?
Als das Bürgertum am Beginn des 19. Jahrhunderts den Traum von einer „Kunstmusik für alle“ zu träumen begann, erhob sich sogleich die unausweichliche Frage, wie denn das Wunder erfolgreich zu organisieren wäre, das Musizieren des Goldenen Zeitalters der Musik, das noch bis etwa 1820 das Üben kaum als tödlichen Feind des heute sogenannten kreativen Musizierens kannte, in das industrielle Zeitalter zu transformieren und die unterdessen bürgerlich gewordene Kunstmusik als Massenkultur mehr als konzert- und salonfähig zu machen.
Die Musikschule des Vereins von Musikliebhabern, das Konservatorium und die Akademien der Musik wurden zum Austragungsort des spannenden Epochenexperiments, das zwangsläufig scheitern mußte – nicht nur weil der Kunstmusik, aus Gründen, die hier nicht zu erörtern sind, der große Atem ausging, sondern weil sich im 20. Jahrhundert die überwiegende Masse der Bürger einem technologisch verfügbaren Konsum von Musik hinzugeben begann, womit die unterhaltende Lebensbegleitung durch Musik zum neuen Sinn von Musik avancierte.
Nicht mehr ungewöhnlich daher heutzutage die mediokre Demut, mit der uns ein behördlich bestallter Musikpädagoge im vorerst noch staatlich umsorgten Garten der Kunstmusik mitteilt, er sei jenseits seines Berufes „ganz normal“, er höre Ö3 und alle Musik, die alle hören und freue sich mit allen an dem, was alle erfreut und unterhält. Eine Normalität, von der sich das kunstmusikalische Bürgertum am Beginn des 19. Jahrhunderts nichts träumen ließ, weil es nicht ahnen konnte, in welche Zukunft der Zug der Musikgeschichte längst schon abgefahren war.
Als Hans Georg Nägeli am Beginn des 19. Jahrhunderts die Methode der systematischen Gradierung kleiner und kleinster Lernschritte von Johann Heinrich Pestalozzi auf das Erlernen von Musik übertrug, führte die neue arbeitsteilige Rationalisierung des Übens von Musik im Dienste der neuen musikalischen Volksbildung zur Verabschiedung der unbrauchbar gewordenen Handwerkslehren des 18. Jahrhunderts. Die Violin-, Klavier-, Gesangs- und Flötenschulen des Goldenen Zeitalters der Kunstmusik konnten dem bürgerlichen Musiklehrer am Beginn des 19. Jahrhunderts, der zwar noch wußte was, nicht mehr aber wie er nunmehr im neuen Auftrag im weiten Feld zwischen alter und aktueller Musik zu unterrichten habe, weder didaktisch noch musikalisch jenen Dienst tun, nach dessen Vorschriften er offensichtlich suchte. Die im 20. Jahrhundert wieder ausgegrabenen Handwerkslehren des vorbürgerlichen Musizierens, die seinerzeit als erstmals schriftliche Kodifizierungen einer noch selbstevidenten Musikpraxis deren Ende versiegelt hatten, geben daher für heute und morgen unvergeßliche Kunde von einem letztmals nur sogenannten Üben der Musik, weil diese noch als universales Kunsthandwerk existierte, in dem das musikalische Üben stets das ganzheitliche Ausüben einer noch ganzheitlichen Kunstmusik sein konnte und mußte. Denn noch ungetrennt waren Interpret und Improvisateur, Virtuose und Dilettant, vergangene und aktuelle Musik, Produktion und Reproduktion der Musik als universaler Kunst, und ebenso die inneren Synthesen von Material, Form und Inhalt der Musik. Als noch kein berufsmäßiger Musikpädagoge existierte, existierte daher die beste Musikpädagogik aller möglichen.
Kaum hatte die bürgerliche Gesellschaft begonnen, das Zeugen und Wachsen der Musik den Händen von nach und nach wohlbestallteteren Musikpädagogen zu überantworten, begann das Üben von Musik jene krisengeschüttelte Fahrt zwischen Scylla und Charybdis, die jeder kennt, der heute in irgendeiner Funktion an dieser merkwürdigen Bootsreise teilnimmt.
Einerseits soll ein frenetischer Befolgungsglaube an die Methoden und Artikel der je aktuellen Wissenschaften eine stets aktuelle Grundlegung und Ausrichtung eines musikgerechten Übens der Musik erstellen; durch Wissenschaften wohlgemerkt, die seit dem 19. Jahrhundert der Ausdifferenzierung ihrer Sachgebiete durch analytische Reduktion auf deren sogenannte Elemente hemmungslos nachgehen. Dies ergibt für die musikalische Praxis die Scylla einer wissenschaftsgeleiteten Übe-Tortur, in der als schwierig erkannte Teile durch weitere Teilung einer wiederholungsmanischen Vervollkommnung von und durch Teilfähigkeiten zugeführt werden. Sitzen alle schwierigen Passagen perfekt, darf an deren perfekte Wiedermontage zum Ganzen mittels Automatisierung der Teilfolgen geschritten werden. Denn was bei anderen Musikern wie aus einem Guß erklingt, das soll auch beim aktuellen Probanden wieder zurück in den zerbrochenen Krug. Die direkte Proportionalität von sogenannter wissenschaftlicher Analyse und Systematisierung des Musik- und Musizierkontinuums einerseits und andererseits der Reautomatisierung der Teilelemente und Teilaktionen durch automatisierungsfähige Wiederholungseinheiten vollendet die Crux des methodischen Übens auf der Seite der Scylla.
Dies ruft nach jener kompensierenden Charybdis, die seit dem 20. Jahrhundert in Gestalt unzähliger irrationaler und esoterischer Ganzheitsideologien eines Musizierens aus der Kraft und dem Bauch eines urtümlichen Klangwillens der Musik stets wieder den Diskurs über das musikalische Üben mitbestimmt, weil dieses nun endlich doch ein musikalisches werden soll können. Die Crux dieser Seite ist nicht harmloser als jene der anderen Seite; denn das Angebot an neuen „urzeugenden Ganzheiten“ wechselt der Zeitgeist wie die Wissenschaften ihre Methoden und Artikel. Was gestern das Unbewußte als Urinstanz für Musikalität war, das ist heute die emotionale Intelligenz und morgen vielleicht eine Super-Matrix des endlich zu Ende erforschten Gehirns; war gestern noch das Zentralnervensystem der Sitz des musikalischen Langzeitgedächtnisses, ist dies heute das „wissenschaftlich bewiesene“ Doppelpaßspiel von linker und rechter Gehirnhälfte; und morgen wird vielleicht das endlich gefundene Triller-Gen für die Finger aller Hände aller Pianisten deren Trillersorgen endgültig entsorgen. War gestern noch die Eurythmie anthroposophischen Segens das Allheilmittel für musikalische Abrundungen aller Art, ist das heutige Angebot an aktuellen Kinesiologien mehr als abhebend, und morgen setzt uns vielleicht ein aktuelles Haltungs-Gen instand, die Schräglage eines Lokalpianisten am Klavier endgültig zu heilen, obwohl dieser darauf schwört, nur mit seiner Körpermethode das Beste aus den Tasten, die ihm die Welt bedeuten, herausholen zu können.
Die ubiquitäre Resultante dieser beiden Bedrohungen eines vernünftigen musikpädagogischen Mittelweges in Sachen Sinn und Unsinn des musikalischen Übens, der seit dem 19. Jahrhundert bis heute als einziger Weg nach einem anerkennungsfähigen Rom im Reich der Übung und Interpretation von Musik führt, ist daher vor wie nach das wohlbekannte geheimgeniale Verhalten der ebenso wohlbekannten pädagogischen Besatzung in ihrem ebenso krisengeschüttelten wie phlegmatisch zeitenthobenen, ebenso zeitgeistanfälligen wie zeitgeistresistenten Boot der jeweils aktuellen und nichtaktuellen Musikpädagogik.