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033 Kein Flug mehr nach Athen

Februar 2001

Die vordemokratischen und vorkapitalistischen Gesellschaften Europas besaßen kraft der religionsordinierten Sinnlichkeit ihres kollektiven und individuellen Geistes einen hierarchischen Kanon von Wertbestimmungen sowohl im Reich der Bilder wie auch im Reich der Klänge. Ein zu verbindlichen Handwerken und Stilen ausfächerbares Gesetzes- und Regelwerk sowohl für die sakralen wie auch für die säkularen Bild- und Klangwerke begründete daher die religiöse und ästhetische Repräsentation des Geistes der vormodernen Stände im Kommen und Gehen ihrer Generationen.

Die Erschaffung und die Reproduktion und auch die Konsumtion von Bild- und Klangwerken fundierte daher in Religion, Kunst und Gesellschaftsleben ein epochenspezifisches und nationendifferentes Kategoriensystem von Formen, Materialien und Inhalten der Musik, das zwar nicht bezüglich der Letztgründe seiner Funktionsfähigkeit reflektiert wurde, das aber gleichwohl kraft seines essentialistischen Charakters den religiösen Geschmack wie auch den ästhetischen Gusto davor bewahrte, entweder einem sollipsistischen Individualismus anheimzufallen oder dem kollektiven Wahn hörig zu werden, nicht mehr leben zu können ohne den Dauerkonsum von industriell konzeptierten, religions- und kunstextern erzeugten und über globale Märkte vertriebenen Bild- und Klangprodukten.

Exakt dieser Zerfall blieb dem musikalischen Geschmack im 20. Jahrhundert nicht erspart – daher unsere Chiffren von U und E. Denn es hieße einerseits Eulen nach einem Athen tragen, das nicht mehr existiert, wollte man für die Kunstmusik des 20 und 21. Jahrhunderts in allen ihren Richtungen und Vereinzelungen neuerlich einen verbindlichen Begriffsapparat kreieren, der früher einmal die stolzen Namen einer objektiven Musikkritik trug. Und es wäre andererseits ein Zeichen für eine über sich selbst nicht aufgeklärte Aufklärung, wollten wir dem Relativismus eines Musikhistorikers von heute glauben, der uns vermeintlich erhellend mitteilt, Bach, Mozart und Beethoven wären die Unterhaltungskomponisten ihrer Zeit gewesen; auch sie wären also bereits zum Song-Contest von heute unterwegs gewesen, um im Mekka einer universalen Unterhaltungsreligion namens Musik um den geldheiligen Stein des tönernen Welterfolges zu hopsen.

Denn auch die Unterhaltungsmusik, die noch lange im 20. Jahrhundert an einem sukzessive erlöschenden säkularen Schein vom traditionellen Schein der stil- und geschmacksbildenden Gesetzes- und Regelwerke partizipieren durfte, ereilt in unseren Tagen das Schicksal, aus dem scheingeborgenen Nest scheinbar selbstverständlicher Traditionsbildung herauszufallen.

Seitdem nämlich die filmverschwisterte Elektronik im U-Bereich alles übernimmt und alles macht, was dereinst das Entertainment unterhaltungsbegnadeter Musiker und Künstler besorgte, seitdem die entfesselte Maschinerie die Produktions- und Vertriebsmöglichkeiten der neuen Pop-Elektronik schier ins Unendliche erweitert, ist auch im Reich dessen, was von der altgewordenen Popmusik-Kultur übrigblieb, der Begriffsapparat verbindlicher Beurteilung und Geschmacksbildung im freien Fall.

Vordergründig scheint dafür einzig und allein der böse Geist des entfesselten Kapitalismus verantwortlich zu sein. Avanciert nämlich der Markt zum ersten Mal auch in der Geschichte der Musik zum obersten und letzten Vermittler zwischen Gesellschaft und Kunst, dann denkt er zuerst und zuletzt an sich selbst – an seine selbstverursachte Zellteilung zu immer neuen Märkten durch immer neue Produkte für immer neue Konsumenten. Nicht mehr bedarf er lästiger essentialistischer Werthierarchien in Material, Form und Inhalt der Musik, sondern noch die kümmerlichsten Rest- und Erinnerungsbestände daran wird er nach und nach erfolgreich ausmerzen und klonen und dadurch zu Fall bringen.

Regiert daher im E-Bereich aktueller neuer Musik das singuläre Einzelwerk und ein euphemistisch sogenannter Personalstil, so regiert im U-Bereich dank neuer Technologie in creativity und economy ein immer rascher wechselnder Produktionsausstoß neuer Sound-Stile in unübersehbar vielen Einzelnummern. Ein Meer von Musik wütet und wallt und überwältigt die Seelenküste des modernen Musikkonsumenten. Dieser gehört in den demokratischen und kapitalistischen Gesellschaften von heute in neun von zehn Fällen der U-Sphäre an; und nicht nur den Jugendlichen von heute, auch den infantil bleibenden von gestern dient daher die stets unübersehbarere Palette von Sound-Totems und die individuelle Auswahl an Einzelnummern dazu, eine säkulare Attrappe von individuellem Musikgeschmack auszubilden, der heute wie selbstverständlich die Gestaltung des akustischen Life-Stylings des modernen Menschen leitet.

In der je individuellen Chartliste seiner Lieblingssounds und Lieblingsnummern, die sich heute jeder U-Hörer im kollektiven Austausch erstellt, ist übrigens unschwer die Schrumpfstufe jener verflossenen Tradition wiederzuerkennen, die einst jene Ausfächerung von stilfähigen Musiksprachen zum objektiv anerkennungsfähigen Unterschied von Meister- und Epigonalwerken kraft eines noch essentialisch verbindlichen Musikgeschmackes ermöglichte. Der individuelle Chartgeschmack von heute, mag er noch so austauschbar sein, ist daher nicht das Produkt einer sogenannten erworbenen Dummheit, wie manche zornige Musikhistoriker schelten, sondern nur die konsequente Reaktion des Konsumenten von heute auf den objektiven Zerfall der Intelligenz von Musik selbst. Diese konnte ihrer absoluten Zerfällung in U und E nicht entgehen, und daher sind alle Versuche des Cross-Over, am Rad der Musikgeschichte nochmals in die Gegenrichtung zu drehen, ebenso rührend illusionär wie das mit althergebrachtem Handwerkszeug beflissene Hantieren Charly Chaplins an den großen Schrauben übergroßen Maschinen in unübersehbaren Fabrikhallen.

Die Vor- und Nachdenker der musica electronica beklagen mittlerweile nicht nur den Verlust aller Kriterien, nochmals zwischen musikalischer Qualität und Nichtqualität der Produkte zweifelsfrei unterscheiden zu können. Sie leiden talkreich an der totalen Sprachlosigkeit ihrer Szenen angesichts des Überangebotes an Produkten wie der Anonymisierung der Produzenten. Vorbei die seligen Zeiten, als es sich noch lohnte, im Namen von peace and love kollektiv zu regredieren, weil von der Bühne herab der Segen eines charismatischen Stars ertönte, weil das unwiderstehliche Getue und musikalische Gewerke von Elvis Presley und Jimmy Hendrix, von Bands wie Beatles und Rolling Stones, das Empfinden der Jugendlichen enthusiastisch hypnotisierte.

Dieser charismatische Star von einst, der noch zum Führer von Clans jugendlicher Fans taugte, wird heute erbarmungslos auf den Altären der hochtechnologisierten Bastelstudios geopfert, weil die Produktionsmittel und -methoden der Musica Electronica ebenso billig wie stupend innovativ geworden sind. Daher wird seit den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts der universale Timestrechsound der Musica Electronica durch eine Vielfalt von Labels produktspezifisch kuratiert und global zu vermarktet.

Firmen bewerten und bewirken nun, was Erfolg haben kann und soll; und sie sortieren das elektronische Genre nach Produktpaletten sowohl visuell wie musikalisch einander zu. Daher ist Orientierung möglich zwischen Techno und Minimal Techno, zwischen Hardhouse und Sägezahn, zwischen Deep House und Disco House, zwischen Electronic Listening und Digital Processing, zwischen Noise und Hardcore Drum&Bass, zwischen Elektroakustik und Dark Electronica.

Neuerdings greift die Marketinggaleere der Popelektronik in die Trickkiste kühner Wortschöpfungen; sie verkündet die Ankunft eines antiessentialistischen Beat und eines antiessentialistischen Funk. Lohnt es sich zu durchschauen, welcher Bär uns nun wieder aufgebunden werden soll? Es sind Verstellworte für ein überbordendes Genre, das von dem Verdacht freigeschaufelt werden soll, den Jugendlichen von heute und morgen würden lediglich die entleerten Dauervarianten eines immerwährenden Easy Listening über die Ohren gestülpt.

Tatsache jedenfalls ist, daß zu dieser Stunde der reale Müllmensch der Dritten Welt in seinen Müllgebirgen nach Lebensmitteln wühlt, um sein Überleben wenigstens einen Tag weiter zu fristen; nur fiktive Tatsache hingegen scheint es zu sein, daß zur selben Stunde der kulturelle Müllmensch der Ersten Welt zur gleichen Stunde durch Müllgebirge von Bild- und Klangprodukten surft, um an ein kulturelles Überleben nicht mehr glauben zu müssen. – Jeder Zusammenhang zwischen diesen und jenen Personen ist rein zufällig, jede Ähnlichkeit ist frei erfunden.