034 Der Gaul des Narren
März 2001
In der modernen Gesellschaft fällt der Musikpädagogik die Verantwortung zu, für das Wohlergehen und Überleben eines Musizierens, das diesen Namen verdient, im Wechsel der Generationen auch unter den Bedingungen einer technologischen Industriekultur zu sorgen. Eine Sorgepflicht, der eine differenzierte Diskurspflicht inhäriert, weil die Sache, um die es geht – Musik und Musizieren – die einst selbstverständliche Identität ihres Namens längst verloren hat. Begriff und Wesen der Musik haben sich in der Realität ihres geschichtlichen Vollzuges in einer Weise differenziert, die jede Musikpädagogik, die sich heute und morgen noch einmal als universale verstehen möchte, vor das Problem einer einheitlichen Grundlegung des nicht mehr einheitlich zu begründenden und organisierenden Wesens von Musik und Musizieren stellt.
Nicht nur haben sich spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert Musikant und Virtuose, Musiker und Komponist, Entertainer und Künstler, der Klänge nochmals als Träger von Geist und Freiheit vermitteln möchte, voneinander getrennt; auch im Innersten des Musizierens tat sich am Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals eine Kluft auf, die der Musikpädagogik bis heute Tag für Tag neu zu denken und neu zu schaffen gibt. Denn erstmals wurde in den Tagen des späten Beethoven das Üben von Musik als eine bloß technische Vorstufe des Musizierens von diesem selbst als trennbar und als getrennt erfahren – also vom Musizieren selbst als dem eigentlichen Tun und Erscheinen von Musik. Seit diesen Tagen plagt uns daher auch in der pädagogischen Provinz die Frage, wie denn das Mechanische und das Kreative, das Technische und das Schöpferische, das Konventionelle und das Geniale im Reich des Musizierens entweder ganz neu oder wieder ganz alt oder endgültig und für immer und ewig ineinander zu vergattern wären.
In jedem Diskurs heutiger Musikpädagogik, die nochmals universale Ansprüche legitimieren möchte, taucht daher früher oder später die scheinbar nur musikgeschichtliche Frage auf, warum denn das kulturrevolutionäre frühe 19. Jahrhundert des bürgerlichen Europa die genannte Trennung im Wesen des künstlerischen Musizierens eröffnete; ob diese Trennung zu vermeiden gewesen wäre; ob sie äußerlich oder innerlich oder sowohl als auch verursacht war; ob sie wieder heilen und vernarben werde; ob sie vielleicht sogar rückgängig zu machen sei; und wenn auch dies nicht möglich sein sollte, ob wir heute wenigstens imstande sind, einige zeitgemäße Basis-Surrogate für eine universale musikpädagogische Grundlegung eines künstlerischen Musizierens für heute und morgen zu sichten und institutionell zu organisieren.
Diese scheinbar gänzlich innerpädagogische Frage hat eine eminent kulturpolitische Schlagseite. Denn wenn es den Musikpädagogen von heute und morgen nicht gelingen sollte, weiterhin die tausend Hüte aktueller Musiken unter einem wie auch immer genannten Hut von Musik und Musiker-Ausbildung auf ihrem Jonglier-Kopf zu tragen, dann könnten sie bei anhaltender Ausdifferenzierung im Stall und Zoo von Musik und Musizieren demnächst gezwungen sein, dem Kulturpolitiker von morgen das Gesuch unterbreiten zu müssen, Musikschulen und Akademien nicht mehr der Musik, sondern der Musiken einzurichten. Ein Politiker aber, der sich davon überzeugen ließe, es sei nun kraft der Ausdifferenzierung des Wesens von Musik und Musizieren unumgänglich, gesonderte Akademien für Jazz, für Volksmusik, für Alte Musik, für Neue Musik, für kultisch-religiöse Musik, für Populärmusik, für Elementarmusik, für Erwachsenenmusik, für Computermusik, für Behindertenmusik, für Elektronische Musik usf ohne Ende einzurichten und zu besolden – ein solch phänomenaler Politiker, der auf den Namen eines professionellen Musiknarren Anspruch wie auf einen Kulturorden hätte, wird sich in der künftigen Welt wohl ebenso wenig einfinden wie ein säkular gewordener Papst, der einer Vielheit verschiedener katholischer Konfessionskirchen einen katholischen Segen erteilen könnte.
Die vom frühen 19. Jahrhundert verabschiedeten musikalischen Handwerkslehren des 18. Jahrhunderts überliefern für immer die universalen Zeugnisse einer abgeschlossenen praktischen und mündlichen Tradition von Musik und Musizieren, die sich mit ihrer schriftlichen Kodifizierung jene Mumifizierung verschaffte, die für immer deren historistische Pflege ermöglichen wird.
Diese Buch-Mumien, die wir seit dem 20. Jahrhundert wieder auszugraben beginnen, enthalten Handwerkslehren der Musik und des Musizierens, in denen mit dem Anspruch der Musik, als kunstautonome Äußerung bestehen zu können, ein Kunsthandwerk von Musik und Musizieren als deren Vorbedingung einherging, in dem daher auch das Üben von Musik bereits als kreativer Teil des autonomen künstlerischen Musizierens geschichtsmächtig sein konnte und mußte.
Diese Handwerkslehren erscheinen daher zum letzten Mal in der Geschichte der Musik in Gestalt offener Regelwerke, die Übungsregeln generieren, die zugleich als Produktionsregeln für ein stetes Erfinden neuer Musikstücke wirkmächtig sein konnten. Indem der Schüler unter Anweisung seines Lehrers seine eigenen Spielfiguren und Sequenzen einübt, übt er mit dem Spiel seiner stets fortentwickelten Sätze, Passagen und Verzierungen zugleich das Improvisieren und Komponieren eigener Musik ein. Die offenen Regelsysteme des musikalischen Kunsthandwerks im 18. Jahrhundert enthielten daher für alle Dimensionen des Musikalischen jene unwiederbringlich erloschene primäre Einheit von Übung und Erschaffung im Geist einer universal lebendigen Musik.
Das universale offene Regelwerk der musikalischen Tradition erlaubte daher die universale praktische Individuation nicht nur von Generalbaß und Fingersatz, von Kontrapunkt und Transponierung, von Melodieerfindung und emotionalem Ausdruck der Affekte, von Gattungsstil und Vortragsstil, von Stimmführung und Kadenzgestaltung, von rhythmisch-metrischer Akzentuierung und Modulation, von Instrumentation und musikalischer Exekution – es erlaubte und ernötigte zugleich den Musiker im ganzen als Kreationisten eigener Musik. Denn der musikalische Satz, den der Schüler sich stets auch als seinen eigenen einüben konnte und mußte, war bereits ein Musikstück en miniature, eine geschlossene musikalische Aussage, die sich im stilgesicherten und gesellschaftlich avantgarden Raum einer universalen Vier- und Achttaktigkeit in unendlichen individuellen Variierungen ergehen konnte. Der die Handwerksregeln realisierende Musiker konnte auf deren Grundlage zugleich die Produktionsregeln einer universalen Genialität von Musik und Musizieren erproben.
Daher war es noch bis etwa 1830 üblich, daß jeder talentierte Schüler unzählige Variationen über bekannte einfache Sätze auszuführen hatte, und bis heute sind Beethovens 32 Klaviervariationen in c-Moll (WoO 80) aus dem Jahre 1806 ein auch pädagogisches Monument dieser im 19. Jahrhundert endgültig erlöschenden Tradition, die ihren Höhepunkt wohl in Johann Sebastian Bachs Musikunterricht erfuhr, dessen Einheit von Üben und Ausüben, von Musik und Musikpädagogik nicht nur des Meisters Werke, wie etwa seine Clavierübung, seine Inventionen und Sinfonien, seine Goldbergvariationen, sein Musicalisches Opfer und andere Werke bezeugen, sondern auch des musikpädagogisch einzigen Sohnes „Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen“ aus dem Jahre 1753 unvergeßbar dokumentiert.
Der Geist jener offenen Regelsysteme des musikalischen Einübens von Musik, die das 18. Jahrhundert erfolglos dem 19. Jahrhundert überreichte, zerstob im 20. Jahrhundert endgültig im Dschungel einer sich ausdifferenzierenden Praxis von Musik und Musizieren. Denn die partikulare Improvisationspädagogik bemühter Musikpädagogen von heute, die Wettbewerbsimprovisation virtuoser Organisten gleichfalls noch von heute, und die sekundär gezüchteten Melodie- und Rhythmus-Module der säkularen Improvisationspraxis des Jazz eher schon von gestern, leisten alles nur erdenkbar Mögliche in jenem Dschungel entgrenzter Ausdifferenzierung von Musik und Musizieren; aber sie leisten nicht mehr, was sie nicht mehr leisten können: nochmals als kunsthandwerkliche Vorbedingung für ein universales Wirken von Musik als Kunst geschichtsmächtig zu werden.
Denn die offenen Regelsysteme der musikalischen Tradition waren nicht bloß das Rahmenwerk für eine abgeschottete musikalische Exerzierwiese, sie waren die conditio sine qua non für die Ausbildung jener Hierarchie von musikalischen Gattungen und Stilen, die als zugleich gesellschaftliche sowohl nationale wie personale Individuationen mit universalem Pathos und Anspruch auf anerkennungsfähige Genialität ermöglichten.
Wenn sich die moderne Gesellschaft von heute daher nicht entblödet, das Tabu der Dauerentgrenzung von Gattungen und Stilen als stets ewige Befreiung im seligen Reich einer grenzenlos freien Kunst und Musik zu feiern, dann vergißt sie, was im Grunde jedes Kind weiß, das heute vor und mit seinem Fernseher aufwächst. Es gibt seit dem 20. Jahrhundert keine gesellschaftlichen Inhalte und Werte mehr, denen ein verbindlich gesicherter Kanon von Gattungen und Stilen, von Kunsthandwerk und Kunstwerken im Reich der Künste entsteigen könnte.
Wenn daher die Journalistenphrase von der stets wieder erfolgreichen Entgrenzung aller Stile und Richtungen den Allerweltsstil des professionellen Cross-Over-Musikers von heute als Ereignis feiert, dann wissen wir, daß sich dessen Einheit von Üben und Ausüben, von Erlernen und Erfinden der Musik bereits jenseits der Grenzen von Musik als universaler Kunst ereignet – weshalb sie sich auch nur mehr auf partikularen Musikmärkten etablieren kann. Jede Grenze, die sich als entgrenzbar erweist, hat sich als hinfällige Illusionsgrenze und bloße Schranke erwiesen; Freiheit als grenzenlose verfehlt sich auch in der Kunst als wirkliche Freiheit.
Das Dauertabu der ästhetischen Dauerentgrenzung, dem sich der professionelle Musiker von heute zwangsverpflichtet glauben kann, weil sich in seiner Ausbildung und Praxis alle Stile aller Musiken professionell begegnen, springt daher nur auf jenen orientierungslos dahingaloppierenden Gaul auf, der die moralisch, sittlich und religiös desorientierte moderne Gesellschaft ohnehin zum Narren hält.