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039 Das zentrumlose Zentrum

April 2001

Nach welcher Art von Hochkultur verlangt die moderne demokratische Gesellschaft? Nach einer künstlerischen oder nach einer wissenschaftlichen oder nach einer philosophischen oder nach einer religiösen – oder nach keiner der genannten Hochkulturen, weil deren weltgeschichtliche Zeit, in der sie als leitende Kraft und repräsentierende Macht aller gesellschaftlichen Prozesse wirken durften und mußten, abgelaufen sein könnte – sowohl auf nationaler wie auf globaler Ebene?

Oder verlangen wir heute nach einer eklektisch-alexandrinischen Symbiose der genannten Alt-Kulturen unter der Führung einer modernen medialen Technologie, weil wir danach streben sollten, den weltweiten Napster-Zeitgenossen von heute via Internet nochmals mit Gottesdienst und theologischer Lehre, mit Konzert- und Opernabend, mit philosophischem Symposion und peripatetischem Diskurs, mit Gelehrten-Kongressen und Bücherlesungen zu erreichen, um seiner überreichen Weltseele ein gigantisches Panoptikum-Bewußtsein und ein multimediales Leben in einem quasi-zeitlosen Kulturkosmos anzuerziehen, worin jede Kulturspeise aus jeder Epoche der Menschheit jederzeit und jedenorts in jeder individuell beliebigen Weise verspeisbar und neu verkochbar sein wird? Der Meta-Crawler des Internet als Metaphysik des informellen Enzyklopädie-Weltbürgers von morgen?

Schon daß die Frage nach dem Modus von Kultur heute gefragt werden kann und erhoben werden muß, ist mehr als ein Indiz dafür, daß wir das Gelände der traditionellen sogenannten Hochkulturen endgültig verlassen haben, in deren Zentrum ohne Frage die Religion stand, aus deren Säkularisierung sich nach und nach die Subzentren von Staat und Politik, von Philosophie, Wissenschaften und Künsten erhoben und zu autarken Gestalten und Traditionen ausdifferenzieren konnten und mußten – sowohl in der antiken wie in der christlich-abendländischen Geschichte.

Mehr als nahe liegt daher zunächst die Vermutung, daß im Zentrum der modernen Demokratie weder das Kunstwerk und das Schaffen der Künste, noch der Kult und Glaube von Religion, noch die Lehre und Praxis einer der unzähligen Wissenschaften, noch auch die philosophische Systemreflexion der absoluten Idee stehen kann, weil sich keine der genannten Kulturpraxen mit der sie überragenden formellen Freiheit der modernen Demokratie messen kann und messen will. Wie oft hören wir daher heute von modernen Künstlern die entsagende Rede, es sei ihrer Kunst unmöglich geworden, die Breite und Länge, die Höhe und Tiefe der modernen Lebenswelt auch nur annähernd darzustellen oder gar das moderne Individuum in einem vollkommen repräsentierenden Kunstwerk zu domestizieren. Nicht zufällig hat sich daher die moderne Kunst, mit Ausnahme des Films, an den Rändern der modernen Gesellschaft in das Leben und Scheitern der Randfiguren eingenistet, um vom Rande des Systems unserer turbulenten Freiheitsgesellschaft her, ähnlich wie Kometen, Meteoriten und Asteroiden, bei Gelegenheit und Auftrag im Inneren des Systems zu erscheinen, um in der marktgemäßen Verpackung einer garantiert subversiven, innovativen, kreativen und anarchistischen Kunst deren Spezial-Märkte zu bedienen.

Aber gleichfalls ist schon die Frage nach einem feststehenden Zentrum oder einer tragenden Mitte eine vormodern fragende Frage, denn die Metapher der Mitte und des Zentrums ist eine letztlich patriarchalische, die den Geist eines kollektiv-autoritären Denkens verrät, der sich mit den modernen Prinzipien der Freiheit, die alle demokratischen Gesellschaftsprozesse fundieren und durchdringen müssen, und in deren Zentrum daher ein zentrumlos freies Individuum haust, nicht verträgt. – Ein sich selbst weithin ominöses Freiheitsindividuum, das sich heute als Ungeheuer unbegrenzter Möglichkeiten begegnen muß, weil es nicht mehr auf den bisherigen Wegen erfahren und lernen kann, wo und wie mit sich anzufangen, durchs Leben zu gehen, und wo und wie mit sich aufzuhören wäre. Dennoch ist nur ein Individuum dieser freigesetzten Art der einzig mögliche und daher ideale Träger jener sogenannten offenen Gesellschaft, die lediglich für starke Rechte, fette Finanzen und neue Technologien vorzusorgen hat, um das Zusammenspiel von Freiheit und Notwendigkeit, von Individuum und Gesellschaft auf wirklichkeitsmögliche Bahnen zu stellen, auch wenn dem Ungeheuer unbegrenzter Möglichkeiten die reale Gesellschaft von heute als Ungeheuer unbegrenzter Verhinderungen erscheint.

Dem zentrumlos freien Individuum entspricht daher einzig eine Hochkultur von festgeschriebenen Rechten für beinahe alle Gebiete eines freiheitlichen Lebens, weshalb der Gegensatz von freiem Individuum einerseits und einer durchorganisierten verwalteten Welt andererseits kein Widerspruch, sondern im Gegenteil ein sich gegenseitig hervorbringendes Kontrapunktieren zweier Grundstimmen im Fundament der modernen Kultur sein muß. Sind daher Politik, Gerechtigkeit, Ökonomie und technologisch angewandte Wissenschaften auf der objektiven Seite, jenes zentrumlose Individuum auf der subjektiven Seite derselben Medaille als „kulturloses“, deshalb aber nicht als zivilisationskulturloses Zentrum der modernen Gesellschaft erkannt, dann erfolgt die Antwort auf die Frage, welche Art von Hochkultur die moderne Demokratie benötige, wie von selbst: genau jene, die wir haben und täglich konsumieren, die wir täglich und weltweit produzieren und reproduzieren.

Das merkwürdige Wort Hochkultur, das wir umstandslos etwa der aztekischen Zivilisationsstufe der Menschheit zubilligen, weil sie kollektivierbare Kalender und Ballspiele erfunden und auch prächtige Pyramiden erbaut habe, auf denen sie freilich glaubte, nicht auf Menschenopfer zu Ehren ihrer hochkulturellen Götter verzichten zu dürfen, steht somit wie selbstverständlich am Pranger aller unserer bisherigen Kulturbegriffe und muß als abgestandene und unerträglich gewordene Kulturspeise relativiert werden. Ein Relativierungs-Schicksal, das alle bisherigen Zentren und Mitten bisheriger Hoch- und Niederkulturen erfassen muß, wenn sie in einer universalen Zivilisationskultur radikaler Säkularität ankommen, weil mittlerweile die Freiheit als Freiheit die Bühne der Weltgeschichte betreten hat.

Unter dem neuen Paradigma des zentrumlosen Zentrums einer absolut reflexiv gewordenen Freiheit erfolgt daher eine Weltrevolution, und deren Prozeß ist trotz beschleunigter Arbeit und katastrophischer Veränderung seit Beginn des 20. Jahrhunderts noch lange nicht an den neuen Ufern einer neuen Welt und einer nicht mehr nur so genannten Hochkultur angelangt. Dies ist mehr als eine Kulturrevolution – es ist das Zeugen und Gebären einer neuen Menschheit, das daher auch am Abgrund einer globalen Gefährdung sogar der irdischen Existenz der Menschheit auf ihrem bisher angestammten Planeten vollzogen wird.

Kehren wir in die kleinere Welt der Musik von heute zurück, so sehen wir dasselbe Spiel im Kleinen wie im Großen der gegenwärtigen Weltkultur. Immer weniger zieren hierarchische Sinngebäude mit gewissen musikalischen Stilen und Praxen vor anderen das Pantheon eines Zentrums und einer Mitte der Musik, und sowohl in der musikpädagogischen Provinz wie im öffentlichen Musikleben regiert der frei sich tribalisierende Geschmack von Publikum und Veranstaltern, von Komponisten und Musikern, von Moderatoren und Kritikern.

Daher mutet uns die moderne Demokratie auch beispielsweise ungeniert zu, das musikalische Treiben der Rolling Stones wäre jenem von Beethoven zumindest gleichzustellen, weil doch der Musikgeschmack eines Millionenpublikums nicht irren könne. Folgt die moderne Demokratie konsequent ihrem altkulturell formellen Freiheitsprinzip, muß sie danach trachten, einen Zustand vollkommener musikalischer Ahnungslosigkeit zu erreichen.

Würde Johann Sebastian Bach daher heute ein Clubbing besuchen und einen DJ vielleicht auch noch reden hören, er würde nicht nur glauben, die Welt der Musik sei unter ihren Scheffel gefallen, um alle zu blenden, die nicht nur musikalisch unter dem Scheffel leben müssen. Und würde Johann Wolfgang von Goethe heute in einem Actionfilm Arnold Schwarzenegger begegnen, er würde gleichfalls glauben, die Menschheit lebe bereits nach ihrem Ende.

Daher lohnt es sich selbstverständlich für immer und ewig, in den letzten und unverzichtbaren Wahrheitsfragen der Musik nach jenen Standpunkten und Perspektiven einer selbstbegründeten und daher gerechtfertigterweise absolut intoleranten Erkenntnisinstanz zu suchen, um erspielen, erhören und erkennen zu können, wo und wann und wie die universale Idee der Musik ihr göttliches Ideal verwirklicht und uns Nachgeborenen als Evangelium der Musik testamentarisch vermacht hat.