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035 Von Seuchen und Tragödien

März 2001

Rinderwahnsinn und Maul- und Klauenseuche lehren Europa und die Welt ein Entsetzen, in dem Machtwahn und Ohnmacht der modernen Zivilisation als ineinanderfallende Extreme einer marktorientierten Naturbeherrschung erkennbar werden. Auf den Scheiterhaufen des Marktes verbrennen Millionen Tiere, weil der Moloch wieder einfordert, was er an Überschuß mit allen Mitteln zu züchten befohlen hat, um die säkulare Wohlstandsblase der Ersten Welt zu ernähren.

Im medialen Angesicht der anklagenden Feuer und himmelschreienden Flammen im Namen von BSE und MKS verbleibt daher eine andere Seuche notgedrungen nur marginal öffentlichkeitsfähig, obwohl sie gleichfalls nicht nur Europa flächendeckend überzogen hat. Denn im Namen von LMS verbrennen nicht weniger Lebewesen und deformieren sich nicht weniger Millionen Leben – diesmal aber von Menschen. Die unzähligen Opfer der Lärmmusikseuche bleiben daher eher verborgen und einem Selbsthilfe-Schicksal überlassen, in dessen Hölle niemand weiß, warum und wozu das Opfer des Selbstopfers gut gewesen sein soll.

Da der marktstatistisch befragte moderne Mensch angeblich an nichts so sehr leidet wie an der Dauerbelästigung durch Lärm und Geräusch, wird mancherorts von wohlfeilen Experten die marktdiktierte Erklärung nachgereicht, ein leidendes Lärmbewußtsein lasse sich vermutlich am besten durch eine musikalische Lärmüberbietung heilen. Daher sei das Opfer der Opfer sinnvoll und notwendig, und niemandes Recht auf irgendeines nach Stille und Unbelästigtheit durch Lärm und Dauermusik werde verletzt. Wenn schon jeder Ort und Augenblick des modernen Lebens lärmverseucht sei, dann sei das allabendliche Überdröhnen des alltäglichen Dröhnens das gesuchte Allheilmittel. Die Lärmorgie der Feierabend-Disco wirke wie eine Impfung und Immunisierung, sie erlöse den modernen Menschen von seinem Leiden an Lärm und Geräusch, und nach seiner wunderlichen Heilung erschienen dem Geheilten die Lärmereien seines Alltags wie die unbemerkten Stilblüten einer konsumentengerecht produzierten Idylle, in der sich eine „blühende Stille“ leidlos konsumieren lasse.

Diese Überdröhnungs-Erklärung marktgerechter In-Experten erregt diskursregelmäßig den Zorn uneinsichtiger Out-Experten. Nach deren marktstatistisch unerheblicher Sachmeinung treibe man nämlich beim musikalisch-kulturellen Überdröhnen des zivilisatorischen Dröhnens lediglich den Teufel mit Beelzebub aus. Ein Argument, das sich unlautererweise einer vordemokratischen Denkungsart bedient, die noch nicht davon wissen konnte, daß der ständige Widerstreit freier Meinungen in allen Sachbereichen des säkularen Lebens und Nichtlebens das höchste der Gefühle freier demokratischer Gemüter sein werde. Hören wir daher heute die ehrwürdige Kunde, daß der Konsens von Teufel und Beelzebub nur dazu tauge, ein in sich zerfallenes Reich grundlos zu begründen, in dem zu leben nicht gut sei, eben weil die genannten Herrschaften die innere Haltlosigkeit und den Zerfallsprozeß ihres Reiches nicht nur nicht heilen, sondern sogar wünschen, dann verstehen wir den Sinn unserer demokratischen Kultur von heute nicht mehr, in der doch jeder Mensch in einem offenen Konsens nach seiner Facon glücklich zu werden das grundgesetzlich verbriefte Recht besitzt.

Und wir können nur hoffen, daß die Zeit nicht schon begonnen hat, in welcher unserer Demokratie und ihrer entgrenzten Kultur eine Zukunft bevorstehen könnte, in der In- und Out-Experten die epochalen Rollen von Teufel und Beelzebub wieder übernehmen würden. Denn noch während die Diskussion der Behörden und Experten um eine Dezibel-Begrenzung bei Rockkonzerten und Zeltfesten, um eine Einführung neuer Lärmmeßgeräte, um neue selbstabschaltende Musikmaschinen, um Sicherheitszonen in der Nähe von Musikboxen und um eine Discoverpflichtung zum gehörrettenden Ohrenstöpsel marginal anläuft, um stets wieder stockend zu versanden, weil sie an der Widersinnigkeit eines längst in Richtung Schallmauer abgefahrenen Zuges scheitert, verbrennen ohne Unterlaß und Erbarmen die Psychen ungezählter Opfer, um deren Fortkommen sich nur mehr der Teufel schert.

Ihr Opfer scheint sich freilich zynisch gelohnt zu haben, weil es einen demokratischen Diskurs entfacht, in dem sich die entgrenzte Freiheit im Dschungel der U-Musik auch jenseits der Meinungen der Experten als freier Wille zur orgiastischen Selbstvernichtung unverblümt outet. Im Klartext gesprochen: unter den Bedingungen einer marktorientierten Musikbeherrschung widerfährt der Musik das Recht auf ein universales Verrecken ebenso wie jedem Menschen in der modernen Demokratie das Recht auf eine freie Wahl seines Zugrundegehens.

Da fragen die einen verblüfft und erstaunt, als wären sie soeben aus dem Urwald entgrenzter Lärm-Musik-Klänge in die Stadt des zivilisierten Zusammenlebens versehentlich zurückgekehrt, warum man denen, die Krach machen wollen, verbieten wolle, Krach zu machen; andere können sich ein Konzert der „Ärzte“ bei lediglich 93 Dezibel, wie mancherorts als Gehörschädigungsgrenze vorgeschlagen, nicht einmal vorstellen; da blieben sie lieber zuhause, um Kuchen zu backen; wieder andere befolgen und feiern sogar als Akt der Selbstverantwortung, weil bereits einschlägig beschädigt, den Gebrauch des ohnehin nur kümmerlich schützenden Ohrenstöpsels, in dessen beschämendem Freiheitsentzug wiederum die erbosten Musik-Freigeister und selbsternannten Retter der Demokratie das Anrücken eines stets lauernden Polizeistaates erspähen. Doch die Veranstalter der sogenannten „harten Musik“, die stets noch das letzte Wort über den Geist ihrer barbarischen Lemminge haben, erklären die Einführung auch von 100 Dezibel als oberster Grenze zumutbarer Lautstärke für unzumutbar – weil die masochistisch verwöhnte Gewohnheitsgrenze des Publikums schon längst über diese Grenze weit hinaus fortgeschritten sei.

Die totale Infantilisierung der Musik, die das 20. Jahrhundert mit jenem kulturindustriellen Komplex einleitete, den man gedankenkurz U-Musik nennt, hat mit dem Stadium einer globalen Lärmmusik noch keineswegs das Reservoir ihrer Möglichkeiten erschöpft. Und daß es sich zugleich als universales Verrecken vollzieht, ist keineswegs durch die Gesetze und Kräfte eines globalisierten Marktes letztverursacht. Dies zu behaupten, verfiele den Denkungsarten des überwundenen Marxismus-Leninismus, wonach lediglich ökonomische Gründe und naturbearbeitende Kräfte die prima philosophia auch aller musikalischen und musikgeschichtlichen wäre.

In der Geschichte der Menschheit gehen deren große Sachen immer nur durch große Tragödien zu Ende. Und in jeder wirklichen Tragödie stirbt der Held nicht durch ein von außen verfügtes Schicksal; seine Taten selbst schicken ihm sein Schicksal, und sie schicken es gegen ihn selbst – bis hin zu jenem animalischen Verenden, in dem sich zuletzt auch das Ende einer unglaubwürdig gewordenen Götterwelt verkündet.

Musikgeschichtlich haben wir längst Bescheid über die letzten innermusikalischen Gründe für die totale Infantilisierung der Musik seit dem 20. Jahrhundert erhalten: es ist der gescheiterte Versuch der Musik im 20. Jahrhundert, nochmals eine Kunstmusik auf die Beine zu stellen, die sich universal kanonisieren und institutionalisieren hätte lassen müssen – um nochmals zu sein, was nicht nochmals sein sollte.

Aber dies ist keineswegs der absolute und letzte Grund für den Heldenkampf der Musik, dem sie sich seit dem 20. Jahrhundert so heldenmütig stellt; dies sollten wir auch dann nicht behaupten, wenn wir uns bereit und beschenkt wissen, die Musik ob ihres unverzichtbaren Wesens geradezu abgöttisch lieben zu müssen.