036 Das Gleiche im Ungleichen ist nicht das Ungleiche im Gleichen
März 2001
Arnold Schönbergs Verständnis von Musikgeschichte scheint ein bestechendes zu sein: zwar veränderten sich die Formen und Inhalte der Musik unentwegt und unaufhörlich, aber das musikalische Denken der namenswerten Komponisten – die herausragenden Verfahren der herausragenden Genies – bliebe beständig und unveränderlich; lediglich die schillernde Oberfläche der Musik erscheine immer anders, ihr innerer und wesentlicher Gedankenkern beharre hingegen als stets gleichbleibender musikalischer nucleus eines ewigen genialen Musikdenkens. Daher stand für Schönberg fest, „daß die Gesetze der alten Kunst auch die der neuen sind“, und früh schon habe er sich demzufolge an sein Vorbild Mozart gehalten, um dessen Verfahren, Unregelmäßiges und Heterogenes einzukomponieren, für sich gleichfalls zu einem Grundbestandteil seines Komponierens zu erheben.
Und dieses lernende Verhalten zur großen Musik der Tradition, zu dem schon Brahms seinen jüngeren Kollegen geraten habe – wenn sie nämlich beim Komponieren nicht mehr weiter wüßten, sogleich an die Quelle der alten Meisterwerke zu eilen – habe ihm stets wieder geholfen, seine aktuellen kompositorischen Probleme zu lösen.
Angesichts des Scheins bestechender Scheine kann es nun jederzeit und jedermann vor Schaden und Irrtum bewahren, nicht nur scheinbar die Reflexion im Wesen eines verführerischen Scheins zu bedenken. Diese lautet im logischen Kern des vorgeführten Scheins: Etwas bleibt sich gleich und wird doch zugleich ungleich, in unserem Fall: das universale Etwas von Musik in seiner Geschichte als Musik-Geschichte, konkreter: das kompositorisch-musikalische Genie in seiner Tradition und epochalen Geschichte. Um uns noch besser zu orientieren, erlauben wir uns einen Blick über den Zaun des Schrebergartens der Musikgeschichte hinaus, um im größeren Garten der Evolutionstheorie eine hermeneutische Verständnisanleihe zu nehmen. Wir übertragen das Verhältnis einer Konstanz der Arten zu einer sich stets ändernden Evolution derselben Arten durch Variation und Selektion auf unser Verhältnis zwischen einem angeblich identisch bleibenden Musikdenken und einer stets sich weiterentwickelnden Musikgeschichte. Was in Fauna und Flora der Natur gang und gäbe ist, das wird doch wohl auch im Garten der Musikgeschichte kunstzeugend und geniegünstig anzupflanzen sein.
Die Art und Weise, kompositorisch genial zu denken, wäre also das Konstante und Ewige, das Ewig-Geniale aller genialen Komponisten aller Zeiten, und das kompositorische Entfalten dieser ewigen Konstanz zu einzelnen Meisterwerken erbrächte die Evolution der Musikgeschichte durch selektierende und variierende Differenzierung des einen und ewigen Musikdenkens. Zu dieser Lösung des Problems Musik-Geschichte dürfen wir uns sogleich gratulieren, denn schwarz auf weiß steht nun festgeschrieben, daß wir uns unzähliger Mozarts weiterhin in Gegenwart und Zukunft erfreuen dürfen, und somit wäre es tatsächlich ein musikgeschichtlicher Skandal, daß die moderne Gesellschaft die Musik Arnold Schönbergs bis heute nicht als eine längst aktuelle Mozart-Musik des 20. Jahrhunderts entdeckt hat.
An unserer evolutionären Lösung des Problems einer Schönbergschen Mozartidentität drückt uns freilich nicht nur das evolutionstheoretische Hühnerauge eines unverdrängbaren historischen Wissens. Noch haben wir nicht gänzlich vergessen, daß die kulturgeschichtliche Größe Kompositionsgenie eine ziemliche Spätgeburt der christlich abendländischen Tradition war, die kaum vor dem 16. und 17. Jahrhundert erfolgte; und manche denkenden Geister meinen seit dem 19. Jahrhundert ebenso unvergeßbar, daß eine 300-jährige Erfolgsgeschichte einer Kulturgröße namens Geniekomponist im Großgarten der Menschheitsgeschichte ohnehin einer bereits unverschämten Ewigkeit gleichkomme, weshalb die einschlägigen Zuchtmöglichkeiten in Sachen ewiger kompositorischer Genialität in den Gärten der Kultur- und Musikgeschichte grundsätzlich erschöpft sein könnten. Wenn sich daher seit dem 20. Jahrhundert entweder Arnold Schönberg oder Jimmy Hendrix, Duke Ellington oder Philip Glass, Karl Heinz Stockhausen oder Hansi Hinterseer als evolutionär aktualisierte Reinkarnationen eines ewigen Mozart präsentieren, dann brauchten wir uns nicht darüber zu verwundern, daß die vorgeführten Scheine beflissener Mozart-Legitimationen für die moderne Gesellschaft ungefähr so wichtig und bedeutsam sind wie die Erforschung nichtvorhandener Gegenstände. Offensichtlich sind wir so glücklich unglücklich geworden, in einem Zeitalter zu leben, das einen sehr verschiedenen Mozart sein eigen nennt.
Haben wir Arnold Schönbergs kompositionstheoretische Mozartiana recht verstanden, dann haben wir für unser Verständnis seiner Werke als gedankenidentisch ewiger und zugleich evolutionär fortvariierter Folgewerke der Werke Mozarts nur zwei Möglichkeiten, ein kongeniales Verständnis von Musikgeschichte nicht zu verfehlen.
Entweder sind Arnold Schönbergs Serenade op. 24 und Klaviersuite op. 25 von gleichem genialen und musikalisch geistigen Wert wie Mozarts Serenaden und Klavierwerke; oder diese finden in jenen ihre evolutionären Vervollkommner, die wiederum ihrerseits auf künftige Vervollkommner warten dürfen und müssen. Tertium non datur; denn die ubiquitäre Auskunft der musikhistorischen Zunft, alle epochalen Musiken wären doch zuerst und zuletzt nur Ausdruck ihrer Zeit und ihrer Komponisten, erreicht nicht das geniale Verständnis von Musikgeschichte, zu dem sich Schönbergs Denkversuch immerhin erhebt, weil er noch etwas von einem höheren inneren Zusammenhang der Musik in ihrer eigenen Geschichte ahnt. Jene egalitäre musikhistorische Auskunft drückt sich um die Wert- und Bewertungsfrage epochal verschiedener Musiken wie ein ängstlicher Schüler vor einer unangenehmen Hausaufgabe, deren schwierige Lösung er so lange wie möglich auf ein ewiges Morgen hinauszuschieben versucht. Denn die einschlägige Auskunft, daß die Musiken verschiedener Epochen alle gleich meisterlich wären, weil sie allesamt den Geist ihrer Zeit kongenial ausdrückten, unterschlägt, daß sie dies nicht in gleicher Weise tun können und sollen, weil die Geister der Epochen weder in gleicher Weise Geist noch auch musikalischer Geist sein können und sollen.
Wohl kompensieren einander die hypergeniale Auffassung Schönbergs und die hypernormale Auffassung des Musikhistorikers, aber diese Kompensation ist nur eine Neutralisierung des Problems der zu lösenden Hausaufgabe. Deren Geist fragt uns unabweisbar schon seit langem nach der begründeten Vermittlung des Verhältnisses von Genie und seiner Evolution, von Musik und ihrer Geschichte, von musikalischem Geist und seinen epochal und individuell differenten Erscheinungen.
Zwischen der ewigen Gleichheit eines mit sich identischen musikalischen Geniedenkens einerseits und einer ebenso ewigen Ungleichheit einer permanent fortschreitenden Evolution von Musik als Kunst andererseits läßt sich nicht vermitteln, weil jener zureichende Grund fehlt, der zu jeder vernunftgemäßen Vermittlung zweier Erscheinungsfaktoren, die sich als Erstbedingungen des Erscheinens von Musik ausgeben, fehlen muß.
In der illusionären Genieperspektive Schönbergs ergibt sich daher ein falsches Absolutes von Musik als vermeintlich absoluter Grund ihres Geistes und ihrer Geschichte. In dieser ideologischen Perspektive, die dem bürgerlichen Musikgenie zur Dauerselbstverherrlichung diente, müssen die beiden genannten Prinzipien – ewige Identität des Genies und ewige Identität der Evolution – als einander ausschließende kontradiktorische Prinzipien resultieren, auch wenn die kasuistische Rhetorik des „genialen Musikdenkers“ als quasigeniales Verstehen von Musik-Geschichte dies stets überspielt, indem es mit den beiden Prinzipien je nach Abruf jeweils mitspringt, gleichsam von einem Ast auf den anderen, als ob diese einem gemeinsamen Baum entwachsen wären. Es ist aber keiner da, der diese Äste tragen könnte, denn nur konträre Prinzipien bergen für jedes vernünftige Etwas dieser Welt jenen zureichenden Wesensgrund, in dem sich ein übergeordnetes Prinzip selbst zu einander entgegengesetzten Bedingungsprinzipien unterscheidet.
Erschlichen sind daher in Arnold Schönbergs Verständnis von Musikgeschichte sowohl die ewige Identität eines sich ewig gleichbleibenden musikalischen Geniedenkens wie auch die ewige Identität einer ewigen Fortschrittsevolution der Musik als Kunst.
Der Versuch, durch einen ideologischen Trick Mozarts Geist dem Geist eines Komponisten des 20. Jahrhunderts anzuklonen, vergißt, daß schon der Geist Mozarts nicht durch die Strategien eines nur genialen Denkens in die Geschichte der Musik gesandt wurde.