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037 Das Einfache und das Komplizierte

April 2001

Auch die komplexeste Musik läßt sich ganz einfach als einfache hören, wenn wir nur beim Hören komplexer Musik bereit sind, nicht aufzuhören zuzuhören. Mit dem Gleichmut der modernen Offenheit für alle Experimente der jeweils aktuellen Kunstmusik verharren wir mit offenem Ohr, und statt wegzugehen von Klängen, die mit komplexen und ungewohnten Gestalten auf uns einstürmen, lassen wir deren Ereignisse mit stoischer Ruhe durch uns hindurchgehen. Und höre da, noch das Komplexeste geht durch das Nadelöhr der Vereinfachung des gehörten Augenblicks, und sogleich ist das Wunder der Verwandlung des Komplexen in das Einfache vollbracht. In ihrer gehörigen Wirkung hat sich die ungehörig komplexe Ursache ichgemäß vereinfacht.

Fragt man uns nachher, wie uns dabei zumute war, wie es uns gefallen habe, genügt es, eine jener bekannten Sprechblasen inmitten der Sprechblasengemeinde zerplatzen zu lassen, die über eine angeblich spannende, eine angeblich emotionale, eine angeblich interessante und eine angeblich großartige Musik berichten, um uns elegant und ungeniert aus der peinlichen Patsche herauszureden, in die uns das Wunder geworfen hat. Denn ein Wunder läßt sich nicht in Worten wiederholen, nicht in Begriffen begreifen, und daher gehört auch die Sprechblase unserer weichgeistigen Kommunikation über Musik in das geheimnisvolle Zentrum des unerhörten Wunders.

Im kollektiven Wunder der einfachen Komplexion geborgen, wissen wir daher, daß niemand uns prüfen wird, weder wie wir hörend und empfindend der Komplexion des Komplexen gerecht wurden, noch darüber, wie wir jene großartige Vereinfachung vollzogen haben, die uns im anschließenden Kurzgespräch zu jenen Sprechblasen befähigt und beruft, die unser einfaches Gemüt stets wieder ganz einfach versteht.

Und auch wenn der Experte aller Experten, der Komponist der soeben gehörten Musik, unter uns weilt und teilnimmt an unserer Kommunikation über seine Musik, wird er sich hüten, die kaum noch gefürchtete Prüfung vorzunehmen. Denn auch der Komponist muß die wunderliche Vereinfachung des Komplexen wollen, will er uns nicht aus Hörern einer erklingenden Kunst in auserwählte Hörexperten einer sichklingenden Klangwissenschaft verwandeln.

Auch der Komponist will zweckendlich Inhalte als Botschaften mittels wenig oder ganz komplexer Materialien und Formen verkünden, und dies kann nur gelingen, wenn erstens das Material und die Formen nicht selbst schon die Botschaft sind, und wenn zweitens die noch so genieexpertenlogisch komplexen Klänge sich im Akt ihrer Wirkung auf den Hörer so vereinfachen, daß sie zu Trägereinheiten von unmittelbar einfach sprechenden Inhalten verwandelt werden – etwa zu quasirhetorischen Klangausdrücken für befreiende oder bedrückende, für freudige oder traurige Emotionen.

Diese wahrnehmungsästhetische Fundamental-Dialektik in jeder Rezeption von Musik als Kunst, ohne deren Akzeptanz Musik das Recht verliert, sich als universale Kunst verbotschaften zu dürfen, muß Arnold Schönberg im Geiste herumgegangen sein, als er dem kuriosen Gedanken verfiel, das wunderliche Wunder der ästhetischen Vereinfachung des ästhetisch Komplexen könnte zugleich auch das geheime Gesetz und der legitimierende Motor der Musikgeschichte sein.

Auch auf den Bahnen der Musikgeschichte fahre nämlich in jede ihrer Stationen zunächst und zuerst das Komplexe ein; denn der Künstler und selbstverständlich das halb- bis ganzgöttliche Genie sei seiner Zeit jeweils um wenigstens sieben Meilen voraus; es sei sensibler und kühner, und es denke reifer und komplexer als die übrige Hammelherde am Bahnhof der Zeitgenossenschaft. Die unsensible und einfache Masse hole zwar das Komplexe der aktuell gewesenen Kunst verspätet wieder ein, nämlich in einer der nächsten Stationen, wenn sie gelernt habe – stets nach einer mühsamen Lern-Reise über die Zwischenstationen von Gewöhnung und Bildung – die einst komplex erschienene Musik als in Wahrheit ganz einfache und konventionelle zu genießen.

Diesem wunderlichen Gedanken Schönbergs folgend, würde allerdings folgen, daß die musikalische Hammelherde das je aktuelle Prophetentum des Genies von jeweils heute weder jemals einholen könnte noch auch sollte; denn in welcher Station auch immer die Hammelherde ankommen mag, ihre einfache Ankunft ist sogleich das fahrplanmäßige Signal für die Abfahrt des aktuell-komplexen Genies. Während also die vereinfachende Hammelherde unentwegt in die abgeschlossene Geschichte der Musik zurückhöre, um deren Komplexionen als einfache Gerichte servierbar zu machen, höre der genial komplexe Leitbock der Musik unentwegt in deren offene Zukunft voraus. – Diese wunderbare Logik erregte bereits im Unterwegs des kurzen 20. Jahrhunderts das Unbehagen vieler Geniekollegen Schönbergs – nicht wenige suchten daher nach einer Notbremse, manche bis heute, um nachzuforschen, in welcher Station und aus welchen Gründen der einstmalige, wenn auch schlicht ungeniale Fahrplan der Musikgeschichte geändert und das absurde Verfolgungsrennen ausgerufen wurde, um den Spielregeln einer genialen Paranoia zu willfahren. Und auch der unbedarfte Zeitgenosse nicht erst von heute, stets aber unterwegs in einem Zug von Heute, fragt den genialen Vordenker von gestern ganz einfach komplexbeladen, wie denn das wunderliche Wunder möglich und wirklich sein soll, daß zwei verschiedene Züge in dem einen der Musikgeschichte durch deren Stationen rasen sollen und rasen können – von Station zu Station, und angeblich nicht erst seit dem Bahnhof von 1910.

Doch darauf weiß Schönberg eine noch genialere Antwort, die man sich denn auch im geniebürgerlichen Speisewaggon des Zuges der Musikgeschichte servieren lassen sollte, auch wenn dieser vielleicht schon längst auf einem Abstellgleis abseits der sinngeschichtlichen Musikgeschichte deponiert wurde. Denn in seiner einst aktuellen musikgeschichtlichen Station verkündete Schönberg seinen bekannten Appell, den bis heute manche Musikhistoriker als blinde Zugsnarren der Musikgeschichte auszuführen versuchen:

‚Lernt die scheinbar einfache Oberfläche der Musik Mozarts so recht und genial, so wahr und komplex, wie ich es vorgedacht, bis ihre gedankliche Tiefe durchdringen, und ihr werdet erkennen und hören, daß sie ebenso komplex ist, wie euch leidigerweise heutzutage noch meine Musik, die von euch verachtete und nicht verstandene, erscheint. Und lernt umgekehrt und zugleich die scheinbar komplexe Oberfläche meiner Musik ebenso recht und genial, so wahr und komplex bis ihre einfache Tiefenfläche erkennen und wahrnehmen, so werdet ihr bemerken, daß sie ebenso einfach ist, wie euch leidigerweise noch heutzutage die von euch übermäßig genossene Musik Mozarts erscheint’.

Die innere Absurdität dieser pervertierten Sub-species-aeternitatis–Revue entblößt den Dilettantismus des denkenden Autodidakten, der nicht bemerkt, was er uns einredet, wenn er uns einzureden versucht, daß die scheinbar einfache Musik Mozarts ebenso komplex sei wie Schönbergs aktuelle und daher nur scheinbar komplexe Musik; und daß seine nur scheinbar komplexe Musik ebenso einfach ist wie jene nur scheinbar einfache Musik von Mozart.

Die falsche Milchmädchenrechnung dieses sophistischen Erklärungswunders behauptet daher in ihrem einfachen Grunde, daß weder zwei noch ein Zug fährt; noch daß Stationen sind; noch daß verschiedene Komponisten sind; noch daß Musikgeschichte ist.

Die Kategorien der Komplexität und Einfachheit sind untauglich, eine vernünftige Lehre und Beurteilung von Musik und Musikgeschichte zu begründen; ihr formaler Gegensatz ist ohne musikalischen Inhalt; er läßt sich daher auf jede Art von Musik nach dem genialen Belieben des Anwenders trickreich anwenden. Die scheinmetaphysischen Sprechblasen Schönbergs trösten uns daher lediglich mit der fiktiven Frohbotschaft, daß im einfachen Grunde der Musikgeschichte alle ihre Erscheinungen dieselben seien; denn nicht wollen wir darüber aufgeklärt werden, worin Schönbergs und Mozarts Musik angeblich eine und dieselbe sind, sondern darüber, worin ihr ewiger Unterschied besteht, der uns bis heute wirklich und nicht fiktiv tröstet.

Nach Schönbergs Wunderglauben an eine ewige Klassik in der Musik aller Genies aller Epochen, schwebt der Geist eines musikalischen Ur-Genies als ewig derselbe über den Wassern der Musikgeschichte; und dies in einer Einfachheit, die aus undurchsichtigen Gründen – vielleicht aus Langeweile oder aus Spielsucht oder aus Täuschungsabsicht – in stets wieder andere und doch nur scheinbar komplexe Gewänder und Masken schlüpft, vermutlich um uns Einfältige zum Narren zu halten, die wir immer noch an einen ewigen, weil musikalisch qualitativen Unterschied zwischen Mozarts und Schönbergs Musik glauben und nicht daran, daß im Himmel der Musik ein Tanz ums güldene Kalb einer „Neuheit, die niemals vergeht“, getanzt wird.