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038 Vorsicht Kultur: Flächenbombardement auf alle Banausen

April 2001

In den größeren Städten der modernen Gesellschaft nehmen am höheren Kulturleben kaum mehr als drei Prozent der Bevölkerung teil. Leben wir daher in einer Hochkultur; oder in einer Massenkultur; oder in einer Unkultur?

Zur Klärung dieser Frage trägt der Verweis wenig bei, daß zu gleicher Zeit, da sich der Frevel einer allgemeinen Kulturverweigerung vollzieht, ein Millionenpublikum an den Sendungen und Botschaften der modernen Massenmedien beteiligt, die man doch wohl so gütig sein wird, gleichfalls als Ereignisse von Kultur anzuerkennen und nicht so dünkelhaft ungütig, als flächendeckende Exzesse einer globalen Unkultur anzuprangern.

Der Verweis auf die nicht zu leugnende kulturelle Tatsache, daß das Medium Bild und Film über Fernsehen und Kino, das Medium Information zusätzlich über Internet und andere Vermittler, das Medium lebensbegleitende Musik über die unzähligen Musiksender und privaten Tonträger und auch immer noch über die Tournée-Events gealterter Popbarden und Rockgruppen in Stadien und Arenen, in Hallen und Manegen sowie neuerdings über die Szenen von Clubbings und Love-Parades ein Millionenpublikum anlocken – diese massierten Tatsachenargumente helfen nicht weiter in der Frage, ob wir inmitten einer Kultur- oder einer Unkulturrevolution leben. Denn der Verweis auf die medienbegleitete Realität der modernen Lebenswelt moderner Menschen führt bei den Exponenten der tradierten Hochkultur lediglich zu den beiden sattsam bekannten und reflexartig abwehrenden Gegenverweisen, die sie neutralisierend vorzubringen pflegen, um sich vom Kulturschock der „laufenden Tatsachen“ leidlich zu erholen.

Erstens sei nämlich bevölkerungsstatistisch bewiesen, daß in den modernen Massendemokratien von heute ein vielfaches Mehr an Menschen und Institutionen engagiert der Pflege und Teilnahme an Kunst und Wissenschaft, ja vielleicht sogar an Religion und Philosophie huldige, als einst an kultureller Teilnahme in den Epochen der bürgerlichen und vormodernen Gesellschaften möglich und wirklich gewesen sei. Wenn neujährlich ein philharmonikersehendes Weltpublikum walzerhörender Artgenossen dank medialer Technologie an einem Konzert mit unterhaltender Musik des 19. Jahrhunderts in einem hochbürgerlichen Konzertsaal derselben Epoche fernteilnehme, dann sei dies Beweis genug für die kulturelle Tatsache, daß wir erfolgreich die Schwelle zu einer neuen globalen Hochkultur überschritten hätten.

Und zweitens sei ebenso einsichtig und evident, daß sich zu allen Zeiten in allen Kulturen der Menschheitsgeschichte immer nur eine kleine Elite mit dem Höheren und Besseren, mit dem Wertvollen und Geistigen beschäftigt habe, weshalb es unsinnig sei, sich heutzutage über das dürftige und zersprengte Dreiprozent von Hochkulturteilnehmern in der modernen Gesellschaft zu beklagen und mit kulturmissionarischem Eifer alternative Gegenkulturen anzudrohen. Im Reich der gezählten Lebendigen überrage die Unkaste der Banausen stets und bei weitem die Kaste jener auserwählten Lieblinge der Götter, deren elitäre Zahl immer nur karg und verstreut über das Land ausgesät werde.

Daß zwischen jenem Erstens und diesem Zweitens ein ungeheuerlicher Widerspruch in den abgründigen Tiefen unserer Epoche rumort, ist ebenso offenkundig wie mit dem strengsten Tabu belegt, auch nur sanft und vorsichtig hinterfragt werden zu dürfen. Ein Ungeheuer scheint im Abgrund dieses Widerspruchs zu hausen, und daher wage kein Besonnener, den Schlaf des unbekannten Ungeheuers zu stören, um nicht die vielleicht kulturumstürzenden Kräfte seiner vielleicht schon ausgeruhten Ruhe zu entfesseln.

Bemerkt daher ein Liebhaber und Verfechter der traditionellen Hochkultur angesichts dürftig besuchter Konzert-, Opern- und Museumshäuser wieder einmal die ungeheuerliche Diskrepanz zwischen dem, was er die „großartigen Leistungen“ von Künstlern und Kunst nennt und jener kargen und bescheidenen Publikumszuwendung, die nicht in Scharen und Massen, nicht in zehn oder zwölf Phylen wie im antiken Athen, sondern in Grüppchen und Einzelgängern zu erfassen ist, dann pflegt er – ist einmal die stille Ahnungslosigkeit seiner Ratlosigkeit zur geschwätzigen Eruption gediehen – einen dritten Verweis aus dem Ärmel zu ziehen, der nun in der Tat und Wirklichkeit von heute einen goldenen Weg zu weisen scheint, die davonlaufenden Probleme der laufenden Tatsachen zur Zufriedenheit aller – Banausen wie Eliten – zu lösen. Nicht oder immer weniger ruft er dabei mittlerweile den Staat als Hüter der Eliten und ihrer Kultur an, weil ihm unterdessen der Widerspruch schmerzlich nahegegangen ist, daß er sich als demokratischer Bürger doch gleichfalls daran beteiligt, den Willen der Bevölkerung an der Mehrheit gezählter Stimmen abzulesen und wahlrechtlich anzuerkennen und sich über horrende Defizitgeschäfte des Staates nicht nur künstlich zu erregen; vielmehr ist er nun so klug und zeitgemäß geworden, die Geister des Marktes in Gestalt des totalen und flächendeckenden Marketings für die Güter und Artefakte aller Kulturklassen an- und herbeizurufen.

Was er vorschlägt, ist nicht weniger als eine Flächenbombardierung aller Orte des öffentlichen Lebens mit allen nur erdenklichen Waffen des überstylten und hyperaktiven Marketings von heute und morgen. Denn wenn der kleine Mann in der Straßenbahn nur wüßte, daß zwei Straßen weiter in diesem Augenblick ausgerechnet für ihn und seinesgleichen eine Oper von Annodazumal auf Teufel komm raus geprobt wird, um am Abend feierlich für jedermann von heute dargeboten zu werden, dann würde gewiß doch auch der Massenbanause von heute zur festlichen Abendstunde auf Teufel komm rein im hochkulturellen Ambiente leerer Sitzplatzreihen erscheinen. Ergo lautet die schlagende Lösung des erfundenen Problems der Siebenundneunzigprozent: man spiele die besten Arien und Chöre der laufenden Opern, werbeschlau verkürzt auf ihre besten Höhepunkte, und nicht nur in der Straßenbahn als perpetuum mobile in die Ohren des ahnungslosen Banausen, und man schlage diesen unausrottbaren Zeitgenossen überall und jederzeit kulturwindelweich. – Der Lehrer zuerst schule die Kundschaft von heute und morgen, der Politiker buhle um jede Kulturstimme im Lande wie um sein eigenes Überleben, und noch der lokal eingeborene Gemeinderat in den kleinsten Gemeinden des Landes führe ab sofort im Dienste der größeren und die höhere Kultur tragenden Städte die Werbesprache einer leidenschaftlichen Liebe zur Kultur der höheren Kulturklassen im Munde herum. So vorbereitet und präpariert, werde der zum Ritter erworbener Kultur geschlagene Massenbanause auf die Hochkultur ankündigenden Plakatwände und Dauerspots, auf die nimmermüden Massenaussendungen und Aktionswerbungen von Konzert-, Opern- und Museumskultur reagieren wie die verzückte Maus auf den gustiös in der lockenden Falle ausgebreiteten Speck.

In der marktbestimmten Gesellschaft und Kultur von heute erfolgen die flächendeckenden Werbebombardements bekanntlich im Namen aller nur erdenklichen Produkte – vom Kümmelkäse bis zum Börsengang.

Es muß sich daher um ein erworbenes Unvermögen handeln, daß uns niemand darüber aufklärt und lebensbehilflich vorführt, wie wir als moderne Menschen in der Rolle eines und desselben Menschen das geniale, weil unerwerbbare Lebenskunststück schaffen könnten, zugleich und allerorts in einer Hochkultur einer Massenkultur einer Unkultur zu überleben.