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Kapitel XIV

XIV.

 

Angesichts des Reflexionszustandes einer Kunst, die Neudefinitionen von Welt und Mensch am laufenden Band liefern möchte, erhebt sich die Frage, ob nicht eine gewisse Art von Gedanken-Künstler der eigentliche Künstler der modernen Welt sein könnte. Oder ob nicht jeder moderne Künstler insofern ein Gedankenkünstler in seinem Metier und Material sein muß, als ihm alle vormodernen Praxen und deren mehr rituell und naturwüchsig mimetischen Verfahren nur mehr als gebrochene – reflektierte – dienen können. Die erste Frage muß mit einem kommentarbedürftigen Nein, die zweite Frage mit einem unbedingten Ja beantwortet werden, denn in der modernen Welt kann nur mehr der Entertainer der Unterhaltungskünste auf vormoderne Praxen sine ira et studio zurückgreifen, vorausgesetzt, er versteht sich darauf, aus den alten Schläuchen ein aktuelles Erregungsevent zu destillieren, am massenwirksamsten wohl in der Musik von Pop und Rock.

 

Roman und Essay scheinen jene Formen auch der modernen Kunst sein, in denen ein möglicher „Gedanken-Künstler“ noch am ehesten zur zentralen Repräsentationsfigur der modernen Gesellschaft aufsteigen könnte. Der Essay, als Grenzgattung zwischen Kunst und Wissenschaft oder Philosophie, muß diesbezüglich zwar umstritten sein, doch hat sich der moderne Roman, dem Reflexions- und Erkenntnischarakter moderner Kunst gemäß, die ohnehin freischwebende Form des Essays in mannigfacher Umgestaltung integriert.

 

Zwar hatte Honoré de Balzac, als er 1850 verstarb, die testamentarische Weisung hinterlassen, die Gattung des Romans sei der modernen Industriegesellschaft nicht mehr angemessen; dennoch erfreut sich die nach einem Wort Adornos nominalistische Kunstgattung schlechthin bis heute eines gar sehr lebendigen Nachlebens.[1]

 

Sein gattungsloses Gattungsdasein erlaubt dem Roman, alle vormodernen Muster des Erzählens der großen und kleinen stories ohne Ende zu wiederholen und zu variieren, in den ungeheuer gewinnträchtigen Unterhaltungsetagen auch endlos zu depravieren, und somit die moderne Partikularisierung und Individualisierung als zugleich universale der modernen Gesellschaft vorzuführen.

 

Er scheint eine „ewige Gattung“ zu sein, denn die Universalität seiner Partikularisierung und Individualisierung garantieren zwei „unsterbliche“ Medien: die gemeinverständlich gesprochene und verstandene Wortsprache und das ebenso gemeinverständliche Medium jener Bildvorstellungsketten, die jede Erzählung, mag sie noch so komplex arrangiert sein, anbietet. Im Fluß des Lesens von Romanprosa gibt es keine Nichtschwimmer.[2]

 

Und es ist unter den postmodernen Umständen von ästhetischer Moderne nicht einzusehen, warum man nicht über alles und jedes eine story soll schreiben können, und warum nicht die aberwitzigste und individuellste Perspektive und auch Schreibweise dabei soll eingenommen werden dürfen.[3] Das Heer der Romanschreiber zählt daher auch nach Legionen, doch ist zu bemerken, daß der experimentelle Roman, der vereinzelt von solitären Schriftstellern in den Spuren von James Joyce am Beginn des 21. Jahrhunderts noch gepflegt wird, sein Überleben in winzigen Marktnischen fristen muß.

 

Gewiß hat der Essay, als eine der wendigsten, aber auch windigsten Formen des öffentlichen Geisteslebens, changierend zwischen Kunst und Wissenschaft, Phantasieren und Philosophieren, die größte Macht, das Dickicht der hyperkomplex ausdifferenzierten modernen Welt zu durchdringen. Dennoch ist er bildend und wissend nur dort, wo er über Partialbereiche aus eigener Erfahrung und eigenen Recherchen und Studien schreibt, nur hier finden wir in den ausgezeichneteren Arbeiten eine glaubwürdige Übereinstimmung von Denken und Sprache, von Augenschein und Wortschein.

 

Die meisten preisgekrönten Essayisten der Epoche hingegen bewegen sich am Saum eines zeitgeistigen Wortscheins und dessen freier und „schöner“ Phantasiekombination, ein Sprachspiel, das bei der Klientel des je aktuellen Zeitgeistes regen Zuspruch und Anerkennung finden muß, weil es dessen Spiegel und Selbstausdruck ist. [4]

 

Die Frage, ob es dieser essayistischen Intelligenz, die mittlerweile zur epidemischen Verbreitung eines Meinungsjournalismus geführt hat, der die Vorurteile seines Leserstammtisches protokolliert und miterzeugt, nicht sowohl an allgemeiner philosophischer wie auch an durchgebildeter Wissenskompetenz in den einzelnen Domänen, von der Weltpolitik bis zur Numismatik, fehlen muß, stellt sich unabweislich.

 

Daß aber exakt dieser Mangel an Bildung und Wissen im anarchischen Reich von Kunst und Kultur zur idealen Bedingung für das moderne Plaudern öffentlicher Plaudereliten über alles und nichts werden musste, kann schwerlich bestritten werden.[5] Weil dem Wortschein der essayistischen Reflexion ein verbindliches Kriterium in der Sache, im Begriff der Sache mangelt, erscheinen die „ästhetischen Wahrheiten“ auf derselben Wellenlänge, auf der auch die Pluralitäten und Individualisierungen der Künste und Kultur in der modernen Gesellschaft erscheinen. Es ist hier nichts unmöglich, daß nicht möglich wäre.[6]

 

Am virtuosesten daher jenes essayistische Denken, das in der fulminant betäubenden Art eines Video-Clips jeden Gedanken mit jedem anderen kopuliert, jedes Wort in jedes andere verwandelt, um mittels versierter Verknüpfung jene beliebten Teppiche von Scheinbegriffen zu erzeugen, die es erlauben, das „ästhetische“ Programm der steten Neu-Definition von Gott, Mensch und Welt auch auf der Ebene des denkenden Sprechens und Schreibens durchzuführen. Die „Diskursverfremdung“ koinzidiert mit den Entfremdungslogiken der ästhetischen Moderne. Die intensive Nähe dieses Schein-Denkens zum Schein-Denken des höheren Feuilletons erklärt deren Austauschbarkeit. Beide denken und sprechen in „erstklassigen“ Worten über drittklassige Begriffe.[7]

 

Daß aber vor allem die Literaten nicht davor gefeit sind, sich als Ersatzpolitiker und „moralisches Gewissen“, als „Stimme der Vernunft“ undsofort auf dem Markt der Meinungen zu positionieren, macht die Sache der Neudefinierens nicht ungefährlich. Zwar können durch deren Intervention unter Umständen aktuelle Missstände behoben und Entwicklungen zum Guten in Teilbereichen gefördert werden, aber da fast alle ästhetischen Ersatzpolitiker in den fundamentalen und globalen Fragen meist nur den Ideologien von gestern anhängen, fehlen ihnen wirkliche Gegenkonzepte zum Gang der Welt, zur Gestaltung und Organisation von Freiheit in der modernen Gesellschaft, ein Faktum, das nach dem Ende des Trittbrettfahrens am Zug des Weltkommunismus zum Elend der überholten „Diskurse“ beigetragen hat.

 

Daher tun Politiker ihr Bestes, wenn sie den modernen Künstler zwar reden und „stören“ lassen, – wie schlechtes Wetter, das jeder Lebendige ertragen muß – doch zugleich sich von Plaudereliten, die sich auch an der Spitze von „antiimperialistischen Protestbewegungen“ einfanden und einfinden – in völliger Verkennung der weltpolitischen Lagen und Verpflichtungen – nichts weiter als Wetterkapriolen erwarten.[8]

[1] Die deutsche Literaturkritik fragt sich, warum Novellen, kleine Erzählungen und Kurzgeschichten in Deutschland, in grellem Unterschied zu den angelsächsischen Ländern, kaum Leser finden, während doch das Geschäft mit dem Roman „boomt.“ „Eigentlich“ müsste die Kurzgeschichte die Literaturgattung einer Gesellschaft und Kultur sein, deren Hektik und Kurzlebigkeit den Schnellleser geboren hat; dieser sollte doch bedürftig sein, sein hastendes Lebensgefühl auch in der Literatur wieder aufzusuchen. Aber warum ‚eigentlich’ in der Literatur etwas wieder finden müssen, das man im Leben ohnehin fühlt: modernes Lebensgefühl? – Kinderleicht hat es die Unterhaltungskunst Musik dank Radio und anderer moderner Medien, dieses Abspiegeln des modernen Lebensgefühls zu gestalten und zu organisieren: denn der Kurzsong ist zum universalen Herzenswärmer und Rhythmusbringer im schnelllebigen Lebensrhythmus des modernen Menschen aufgestiegen: an die Hundert Hits pro Tag per Dauerberieselung konsumieren, scheint hektisch und beruhigend zugleich zu sein: gute Laune bei depressiver Grundstimmung garantiert.

[2] Außerdem wartet der moderne, insbesondere deutsche Leser, dem ein moderner Bildungsroman nicht mehr durchs Leben hilft, auf den „großen Roman der Zeit“, der ihm endlich alles erklärt und einfach verständlich erzählt, und daher liest er sich lieber durch elendslange Schmöker aktueller Nobelpreisträger, weil er meint, auf diese Weise auf der Höhe der Zeit zu sein, während er doch nur die Höhe aktueller Literatur erklommen hat. – Warum ein moderner Bildungsroman unmöglich geworden ist, diese Gretchenfrage stellt sich der Balzacschen Ankündigung, der wirklich „große“ Roman könnte sein Leben ausgehaucht haben. Aber im Um- und Neudefinieren von „Größe“ zeigte die ästhetische Moderne immer schon ihre eigene ‚Größe.’ – Verständlich, daß der Noch-Leser der heutigen Medienkultur vermehrt in die Gefilde des populären Sach- und Lebenshilfebuches, in dem die Resultanten popularisierter Wissenschaft feilgeboten werden, abwandert.

[3] „An Geschichtenbänden“, schreibt Marcel Reich-Ranicki (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.02.2007, S. 28) „waren und sind unsere Verlage nicht sonderlich interessiert. Erhalten sie ein gutes Manuskript mit mehreren Erzählungen, dann fragen sie, wenn es nicht ein prominenter Autor ist, ob es nicht möglich sei, diese Erzählungen mit einer Rahmenhandlung oder mit einem Vorspruch zu versehen, um das Ganze einen Roman nennen zu können.“ Weil Verleger nicht „Volkserzieher, sondern Kaufleute“ sind, wird das „Wort ‚Erzählung’ auf der Titelseite gestrichen“, und „jetzt lesen wir, natürlich, ‚Roman’ “; und „bei Manuskripten von mehr als hundert oder, besser noch, von hundertfünfzig Seiten atmen die Verleger auf und machen daraus mit Hilfe harmloser Tricks ein Manuskript von etwa zweihundert Seiten.“

Der Imperativ: „Es muß ein Roman sein“ folgt der stringenten Ökonomielogik moderner Markt-Literatur: verkaufe nur Ware, die der Leser begehrt, auch wenn die Verpackung nicht stimmt oder auch nur mehr die Verpackung stimmt. – Darauf pflegt die unvermeidliche Schuldfrage gestellt zu werden: „Liegt es an ihnen [den Lesern], dass die kleine Erzählung, die Kurzgeschichte nicht mehr gedeihen will?“,  – deren Beantwortung jedoch unentschieden zwischen Verlegern und Lesern hin und her schwankt. Und so muß es auch sein, weil es in den anarchischen Dingen der Kulturproduktion immer nur kooperative Schuld geben kann: stets sind alle Beteiligten und keiner schuld. Die verkaufenden Verlage machen ihre Leser und diese zugleich ihre Verlage. Und zwischen diesen beiden Haupt-Machern vermittelt die ganze Galeere der hauptmachenden Wasserträger: Literaturagenten, Kritiker, Journalisten; – indes eine lesende Lehrerschaft, die in den vormodernen Gesellschaften den Leseton mit angab, kaum noch Gewicht hat; sie ist das verschwundene Personal-Pendant des verschwundenen Bildungsromans.

[4] Der öffentlichkeitsfähige Essay trennt sich mittlerweile entschieden vom wissenschaftlichen und philosophischen Traktat (Abhandlung); letztere müssen, sollen sie in den öffentlichen Medien nochmals erscheinen, extrem „heruntergebrochen“, also vereinfacht werden, – ein Tribut an die universale Infantilisierung von öffentlichem Denken und Sprechen in der modernen Gesellschaft, obwohl doch deren wissenschaftliche und technologisch-produktive Differenzierung permanent voranschreitet und jene hyperkomplexe Differenzierung erreicht hat, die bedingt, daß insbesondere die modernen Berufswelten fast nur mehr als Obskurantismus undurchschaubarer Facheliten erfahren werden können. Kein geringes Problem für die moderne Demokratie, für deren Politik, Ökonomie, Rechtswesen, Bildungs- und Lebenskultur.

[5] Der „Promi“, egal welcher Domäne von Sport, Kultur, Kunst oder Entertainment (unzähliger Genres) zugehörig: er ist die Stimme des Orakels, die befragt wird, wenn man über die Dinge dieser Welt nochmals orientiert seine möchte. („Du musst Ustinov hören, um Bush zu verstehen.“) Diese Stimme sorgt für jene Vereinfachung und „Verständlichkeit“ der modernen Welt, die in deren unübersehbar ausdifferenzierten Welten nicht mehr das Maß aller Dinge, sondern nur mehr das Mittel-Maß aller Meinungen sein kann und sein muß.

[6] Nicht nur ist damit eine permanente Aushöhlung und Banalisierung, Infantilisierung von Denken und Sprache unvermeidbar, die Hinfälligkeit und Ideologieläufigkeit des zeitgeistigen Denkens zeigt sich vor allem daran, daß deren Welterklärungsparadigmen bei jeder weltgeschichtlichen Wende (1914, 1933, 1989, 2001) zu Makulatur werden, ein Zusammensturz in ein ratloses Nichts, in dem die übrig gebliebenen Seilschaften nur mehr die Konkursmasse ihrer Vorurteile austauschen können.

[7] Erfolgreichster Prototyp dieser Art von Denken und Reden dürfte der essayistische Philosoph Peter Sloterdijk sein. Noch immer ist es die deutsche Mentalität, welche die gründlichsten Versionen von Geist und Ungeist durch- und vorführt. „Wie unbekannte Wesen treten die Gegenstände seiner theoretischen Prosa vor den Leser, zugleich zeigen sie sich in einer Nähe und Vertrautheit wie nur ein neuer Blick sie gewähren kann.“ (Klappentext zu: „Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst.“ 2007) – Der Zaubertrick des neuschaffenden Blickes macht es möglich, daß Unbekanntes in Bekanntes, Bekanntes in Unbekanntes mutiert.

[8] Ein US-Jazzer in Wien (Februar 2007) im obligaten Promi-Interview: der Irakkrieg war die falscheste Entscheidung in der Geschichte der USA, wie sich jetzt zeige, „wo wir nicht im Irak bleiben und den Irak auch nicht verlassen können“. Er sei sicher, diese Entscheidung werde zum Niedergang der USA führen, China werde aufsteigen undsofort. In dieser Weise fabulieren aberzählige Künstler als (un)gelernte Ersatzpolitiker in den Dingen globaler Entwicklung und Politik, und eine österreichische Tageszeitung, als tapfere Standarte des antiamerikanischen Meinungsjournalismus unterwegs, druckt die Promiweisheit auch noch mit Genuß ab, bestätigt sie doch, was der eigene Leserstammtisch längst schon zu wissen gelernt hat. – Daß die gegenteilige Prämisse stimmen könnte oder doch wenigstens erwogen werde müsste, kommt dem ersatzpolitischen Diskurs der Plaudereliten gar nicht in den Sinn: daß die Erste Welt – mit den USA an der Spitze – ein halbes, vielleicht ein ganzes Jahrhundert aus der Zweiten Welt „nicht herauskommen soll“, um eine unaufschiebbare weltgeschichtliche Aufgabe zu lösen.